Zwischen Zun t und Fabrik Zur Chemnitzer Gewerbegeschichte 1763–1799
Kunstsammlungen Chemnitz Schloßbergmuseum Herausgeber Uwe Fiedler, Stefan Thiele, Hendrik Thoß, Florence Thurmes Sandstein Verlag Zwischen Zunft und Fabrik Zur Chemnitzer Gewerbegeschichte 1763–1799
6 Uwe Fiedler, Stefan Thiele, Hendrik Thoß, Florence Thurmes Vorwort 8 Marian Nebelin Grußwort 10 Hendrik Thoß Vielerlei kommt vom Textilgewerbe. Industrialisierung auf Sächsisch 18 Marian Bertz Die sächsischen Städte im Blickfeld Thomas von Fritschs und der Restaurationskommission 30 Peer Ehmke Baumwolle – Rohstoff der Industrialisierung 54 Thomas Bauer Historische Waldkonzepte in Sachsen Der Weg zur institutionalisierten Forstwirtschaft 64 Uwe Fiedler Handwerk und Bildung im 18.Jahrhundert Veränderungen in der »geistigen Verfasstheit« als Grundlage für die Aufnahme neuer gewerbespezifischer Gedanken, Anschauungen und Konzepte 72 Gabriele Viertel Reformbedarf für Schule und Verfassung in Chemnitz 82 Ivonne und Klaus Reichmann Das Buchgewerbe in Chemnitz 90 Stephan Luther Die Bedeutung der Zeichenausbildung für die höhere gewerbliche Bildung in Chemnitz Inhalt
100 Michael Wetzel Graf Detlev von Einsiedel (1773 –1861) als Eisenfabrikant Adliges Unternehmertum und schöpferisch-innovativer Hüttenbetrieb im Entstehungsprozeß der mitteldeutschen Großeisenindustrie 108 Stefan Thiele Kattundruckereien in Sachsen Eine neuartige Bauaufgabe und ihre architektonische Umsetzung im späten 18. Jahrhundert 118 Stephan Weingart Das Pottaschewerk – eine frühe jüdische Gewerbeansiedlung in Chemnitz 128 Andrea Kramarczyk Johann Friedrich Carl Dürisch, seit 1783 Amtmann in Chemnitz, und seine persönlichen Beziehungen 144 Katalog 178 Bildnachweis 180 Impressum
Hendrik Thoß Vielerlei kommt vom Textilgewerbe. Industrialisierung auf Sächsisch
11 Fragen nach Ursachen und Genese einer besonders ausgeprägten wirtschaftlichen Entwicklung bestimmter europäischer Regionen gehören seit langem zum Kanon wirtschaftshistorischer Untersuchungen. Neben anderen wurden und werden hier auch Fragen nach den Wurzeln, Vorläufern, Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für einen teils nur zeitlich begrenzten wirtschaftlichen Aufstieg bestimmter Regionen diskutiert. Wie in anderen Disziplinen der Geschichtswissenschaften auch scheinen hier in Bezug auf den Prozess des Übergangs von einer zünftig zur (früh-)industriell geprägten Wirtschaft viele Fragen offen und nur wenige befriedigend geklärt, wie etwa der Umstand, dass Großbritannien als Mutterland der unter dem Begriff »industrielle Revolution« gefassten Entwicklungen zu verstehen ist.1 Hier bildet jedoch der regionale bzw. der lokale Bezugsrahmen im Hinblick auf die Genese der Chemnitzer Gewerbegeschichte den Vordergrund. Einen solchen Perspektivenwandel von der gesamtstaatlichen Ebene hin zu regionalen Bezüglichkeiten hat in den zurückliegenden Jahren auch die Wirtschaftsgeschichte vollzogen. Im Folgenden sollen zwei Aspekte überblicksartig betrachtet werden: Erstens, welche Probleme stellen sich bei der Untersuchung der wirtschaftlichen Entwicklung in der europäischen Neuzeit, und wie wurden bzw. werden sie von Wirtschaftshistorikern diskutiert? Daneben soll der Frage nachgegangen werden, wie die wirtschaftliche Entwicklung des Kurfürstentums bzw. Königreichs Sachsen vom ausgehenden 18. bis ins 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund innen- wie außenpolitischer Weichenstellungen einzuordnen ist. Theorien und Modelle Als ein »Industrialisierungs-Modell« von besonderer Bedeutung erwies sich über viele Jahre hinweg die Rostowsche Stadien- bzw. Stufentheorie. Der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker und Präsidentenberater Walt Whitman Rostow (1916–2003) prägte in seinem 1959 erstmals in Aufsatzform veröffentlichen Werk The Stages of Economic Growth2 die Vorstellung, dass es in der Geschichte des Kapitalismus fünf Phasen gäbe: die traditionale Gesellschaft, die Gesellschaft im Übergang, das Stadium des wirtschaftlichen Aufstiegs (take off), die Reifephase sowie das Zeitalter des Massenkonsums. Für Wirtschaftshistoriker waren dabei insbesondere die Phasen 2 und 3 interessant. Phase 2 wird definiert als »Übergangsgesellschaft, in der die Voraussetzungen für das Wirtschaftswachstum durch Verhaltensänderungen, bes. durch ansteigende Investitionstätigkeit gelegt werden«. Phase 3, der Take-off, definiert sich folgendermaßen: »Bei einer Mindestinvestitionsquote von 10 Prozent, einer Entwicklung einiger führender Wirtschaftsbranchen mit hohem Wachstum und hinreichend entwickeltem politischem, sozialem und institutionellem Rahmen, als Voraussetzungen für dynamisches Unternehmertum, kommt es zu schnellem wirtschaftlichem Wachstum, über viele Jahre hinweg.«3 In dem Modell wird einerseits auf ein dauerhaft erhöhtes Investitionsgeschehen, andererseits auf die Existenz von »führenden Wirtschaftsbranchen« als die Basis für nachhaltiges Wachstum sowie zum Dritten auf einen »hinreichend entwickelten politischen, sozialen und institutionellen Rahmen« als Voraussetzungen verwiesen. In der Praxis erweist es sich jedoch aufgrund fehlender Quellen häufig als schwierig, das »dauerhaft erhöhte Investitionsgeschehen« nachzuweisen. Als »führende Wirtschaftsbranchen« machte Rostow den Bergbau und die Eisen- und Stahlproduktion, die Baumwoll-Maschinenspinnerei und allgemein den Maschinenbau aus, verbunden mit Rückkopplungseffekten auf andere Wirtschaftssektoren. Eine so strukturierte Entwicklung hat es jedoch, abgesehen von Großbritannien, kaum gegeben. In Sachsen existierte eine Roheisen- und Stahlerzeugung in nennenswerter Größe nicht, wohl aber eine Vielzahl an Textilien produzierender Unternehmen, die über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg zum bedeutendsten Industriezweig Sachsens wurden. Auch die nach Rostow anzumessenden Rahmenbedingungen stellen sich als problematisch dar. Hatten die sächsischen Reformen von 1831 einen unmittelbaren Einfluss auf den Industrialisierungsprozess, wie etwa Hubert Kiesewetter betonte? Und welche Rolle spielt der Umstand, dass in Sachsen die Zunftverfassung erst zu Beginn des Jahres 1862 abgeschafft wurde – mehr als ein halbes Jahrhundert später als etwa im benachbarten Preußen? Überhaupt ist hier die Stellung des »Staates« als nicht allein (wirtschafts-)politischer Akteur, sondern per se als Ordnungsrahmen zu hinterfragen. Nimmt man nämlich die Entwicklungsgeschichte der kontinentalen wirtschaftlichen Führungsregionen in den Blick, so fällt auf, dass sich ein bedeutender Teil dieser Regionen entlang des Rheins gruppiert – angefangen vom Rhein-MaasDelta (Niederlande und Belgien) bis in die Schweiz. Ein anderer Raum wurde durch Sachsen, Schlesien, Böhmen und Mähren gebildet.4 Verband nicht vielleicht den grenzüberschreitenden Wirtschaftsraum Erzgebirge in unserem Betrachtungszeitraum mehr miteinander als etwa das sächsische Erzgebirge mit der Lausitz, die wiederum eher mit Schlesien verbunden war? Folgte nicht die Entwicklung des sächsischen Vogtlands zur führenden Region der Maschinenstickerei und Spitzenproduktion ganz anderen Gesetzen bzw. war von anderen Abhängigkeiten geprägt als die des Erzgebirges, dessen Wirtschaftskraft ursächlich vom Bergbau bestimmt wurde, oder die der Stadt Leipzig mit Messe, Rauchwaren und Buchgewerbe? Neben Walt W. Rostow wurde die ältere Forschung maßgeblich durch das gleichfalls in den 1950er Jahren von Alexander Gerschenkron (1904–1978) entwickelte Modell von Pionier- und Nachzüglernationen beeinflusst. Der in den USA lehrende Wirtschaftswissenschaftler vertrat die Auffassung, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Grad der grundständig vorhandenen Wirtschaftsstruktur eines Landes und dem Zeitpunkt sowie der Geschwindigkeit des in der Folge sich vollziehenden Industrialisierungsprozesses gebe.5 Zudem sei die so entstehende Wirtschaftsstruktur vornehmlich von Großunternehmen geprägt, und der Staat spiele eine herausragende Rolle als Akteur auf dem Feld der Wirtschaftspolitik.
12 Seit den 1970er Jahren setzten sich Wirtschaftshistoriker intensiv mit der Frage auseinander, ob in bestimmten europäischen Regionen in der Frühen Neuzeit eine »Industrialisierung vor der Industrialisierung« stattgefunden habe. Auslöser war ein Beitrag des US-Forschers Franklin F. Mendels (1943–1988), der sich 1972 im renommierten »Journal of Economic History« mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Flandern im 18. Jahrhundert auseinandergesetzt hatte.6 Nach Mendels entstanden protoindustrielle7 Strukturen in ländlichen Räumen mit saisonaler Arbeitslosigkeit, hoher Bevölkerungsdichte und einer schlechten Qualität des Ackerbodens. Der hieraus resultierende Druck auf große Teile der Bevölkerung, sich zusätzliche Erwerbsquellen zu suchen, habe zur Entstehung eines großen Arbeitskräftereservoirs geführt. Zeitgleich sei aufgrund der europäischen Expansion ein »Weltmarkt« mit einer Nachfrage nach gewerblichen Produkten entstanden, den das auf den lokalen Markt ausgerichtete städtische Zunftwesen nicht habe befriedigen können. In Fortschreibung dieses Modells betonten Wissenschaftler, wie der Münsteraner Wirtschaftshistoriker Ulrich Pfister, dass dieses Modell in dem Moment an seine Grenzen gestoßen sei, in dem die räumliche Verbreitung/Ausdehnung der Unternehmen für die Unternehmer sich mit immer höheren Kosten verbunden und damit zum Absinken der Rentabilität geführt habe. Ein Ausweg bestand für Unternehmer darin, Teile der Produktion a) zu zentralisieren und b) zu mechanisieren. Damit stand der Weg zur branchenspezifischen Industrialisierung offen.8 Zwei weitere Aspekte der aktuellen Forschung sollen noch angesprochen werden. Neben den bereits genannten Faktoren scheint nicht zuletzt auch die Sichtweise/das Handeln der Unternehmer von Belang, auch im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Generationen. Der Chemnitzer Wirtschaftshistoriker Rudolf Boch hat in diesem Zusammenhang in seiner bereits 1991 erschienenen Arbeit zur Industrialisierungsdebatte im rheinischen Wirtschaftsbürgertum darauf hingewiesen,dass im Zeitraum nach 1815,d.h.nach dem Ende der Ära Napoleon Bonapartes, die jüngere Unternehmergeneration zum einen auf eine beschleunigte Industrialisierung gesetzt, zum anderen für die Einrichtung eines mit Importzöllen gesicherten Binnenwirtschaftsraums plädiert habe, während die ältere Generation vergeblich versuchte, unter unveränderten Bedingungen erneut auf dem Weltmarkt Fuß zu fassen.9 Ähnliches lässt sich auch in anderen Regionen Deutschlands feststellen. Der Wirtschaftshistoriker Michael Schäfer, dem wir eine 2016 erschienene beachtenswerte Studie zum sächsischen Textilexportgewerbe im Zeitraum von 1790 bis 1890 verdanken, fasst es so zusammen: »Erfolg und Scheitern des Industrialisierungsprozesses wird in allen diesen Studien letztlich am möglichst zeitigen Nachvollzug technologisch-betriebsorganisatorischer Entwicklungen festgemacht.«10 Offensichtlich ist schon in jener Zeit auch auf diesem Feld ein uns heutzutage allseits bekanntes Phänomen ablesbar: Eine jüngere Generation steht technischen Innovationen offener gegenüber und sucht sich die aus diesen resultierenden Vorteile nutzbar zu machen – auch unternehmerisch. Dabei geriet das »integrierte Unternehmen« in den Blick, »in dem Produktion und Vertrieb in eigener Regie organisiert werden«, und zwar unabhängig davon, ob im Rahmen der Produktion Maschinen zum Einsatz gelangten oder nicht.11 Ein personengeschichtlich-biografischer Bezugsrahmen ermöglicht darüber hinaus Zugang zur Gedankenwelt, zum Wirken, aber auch zu Netzwerken (etwa in die Politik) unternehmerisch agierender Persönlichkeiten.12 Vor einigen Jahren hat nun der Marburger Wirtschaftshistoriker Christian Kleinschmidt in einem Beitrag für die »Zeitschrift für Unternehmensgeschichte« den Blick über den Tellerrand des Produzenten hinaus auf die Absatzmärkte und deren spezifische Entwicklung gerichtet. Dabei gerät naturgemäß das Phänomen der Globalisierung in den Blick, die – wenigstens aus Historikerperspektive – aufgrund der europäischen Expansion in der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert einsetzte und sich seither in mehreren Schüben vollzog. Bemerkenswert ist hier insbesondere die qualitative wie quantitative Verstärkung der transatlantischen Handelsbeziehungen zwischen Europa (und hier insbesondere Großbritannien und Frankreich) und Nordamerika seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Intensivierung und Extensivierung der Plantagenwirtschaft dort trug dem in Europa gestiegenen Bedarf an Roh- bzw. Grundstoffen Rechnung. Vice versa fanden europäische Unternehmer in Nordamerika Absatzmärkte für ihre Fertigprodukte.13 Aspekte der frühen Industrialisierung in Sachsen Das sächsische Kurfürstentum war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ganz besonderer Weise betroffen von den dramatischen Entwicklungen des Konzerts der europäischen Mächte wie vom preußisch-österreichischen Konflikt, der sich durch die gewaltsame Inbesitznahme Schlesiens durch Friedrich den Großen (1712–1786) im Jahr 1740 entzündet hatte. Die mit Unterbrechungen bis 1763 geführte kriegerische Auseinandersetzung zog nicht nur die Auflösung der sächsisch-polnischen Union nach sich, sondern auch mannigfaltige kriegsbedingte Zerstörungen und die völlige ökonomische Zerrüttung Sachsens. Die vom sächsischen Thronfolger Kurprinz Friedrich Christian (1722– 1763) noch vor Kriegsende im Jahr 1762 forcierte Bildung und Einsetzung einer Restaurationskommission erwies sich als erster wichtiger Schritt in eine neue Zeit nach dem völligen Bankrott der vom bis dahin allmächtigen Premierminister Graf Heinrich von Brühl (1700– 1763) zu verantwortenden sächsischen bzw. sächsischpolnischen Innen- wie Außenpolitik.14 Im Rahmen des kursächsischen Rétablissements wurden in der Zeit der Regentschaft des Prinzen Xaver (1730–1806),15 der von 1763 bis 1768 als Vormund für seinen minderjährigen Neffen Friedrich August fungierte, prinzipiell bereits vorhandene, aber während der Ära Brühl außer Kraft gesetzte Strukturen wiederlebt. Dazu zählten neben dem kurfürstlichen Generalakzisekollegium auch die Amts- und Kreishauptmannschaften als regionale bzw. lokale
13 Verwaltungsbehörden. Als wichtige, ja wegweisende Neuerungen Xavers erwiesen sich u.a.die Gründung der Landes-Ökonomie-, Manufaktur- und Kommerziendeputation 1764 oder die im Folgejahr vorgenommene Gründung der Bergakademie Freiberg.16 Außenpolitisch verfolgte das Kurfürstentum zunächst eine defensive Linie, etwa in Bezug auf Polen. Hinsichtlich des Konflikts um die Erbfolge in Bayern 1778/79 agierte Sachsen an der Seite Preußens – sehr zum Unmut Österreichs, das den Dresdner Frontenwechsel übel aufnahm. Vor eine völlig neue Herausforderung wurde auch der sächsische Kurstaat 1789 durch die Französische Revolution gestellt. 1790 kam es in Teilen Sachsens unter der Landbevölkerung zu Unruhen, die 1791 in einen regelrechten Aufstand mündeten, der gewaltsam durch kursächsisches Militär niedergeschlagen wurde.17 Zwischen 1792 und 1798 nahm auch Sachsen mit einem eigenen Kontingent im Rahmen des Ersten Koalitionskriegs an den Kampfhandlungen gegen das revolutionäre Frankreich teil, die schließlich im Frieden von Rastatt mündeten. In der Folge fanden ab 1803 auf Reichs- bzw. europäischer Ebene rasch Entwicklungen statt, darunter die schrittweise Expansion Frankreichs – seit 1804 des französischen Kaiserreichs – und die Erosion des Heiligen Römischen Reiches, die sich mit dem Reichsdeputationshauptschluss 1803, dem Austritt der Mitglieder des Rheinbunds aus dem Reich und der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. 1806 vollzog. Dies zog für Sachsen wie für die übrigen deutschen Territorien weitreichende Konsequenzen nach sich. Wie nach 1763 auch stand nun 1814 im Rahmen der Verhandlungen des Wiener Kongresses abermals die physische Existenz Sachsens zur Disposition. Wohl gelang es Preußen und Russland nicht, die sächsischen Territorien in Gänze dem Hohenzollernstaat einzuverleiben. Gleichwohl mussten die Wettiner schmerzhafte territoriale und Bevölkerungsverluste akzeptieren, Verluste, die die weitere Entwicklung des Königreichs im 19. Jahrhundert maßgeblich beeinflussen und erneute Reformen nötig machen sollten.18 Hierzu zählte u.a. eine territoriale Neugliederung der verbliebenen Gebiete in vier administrative Kreise: den Meißnischen, den Leipziger, den Erzgebirgischen sowie den Vogtländischen. Teile der als »Markgraftum« bezeichneten Oberlausitz, die den sächsischen Kurfürsten 1635/36 als erbliches Lehen der böhmischen Könige übergeben worden war, blieben den Wettinern auch nach 1815 erhalten, wenn auch mit einigen Sonderrechten für die dortigen Stände. Neben der Oberlausitz existierte mit den westlich von Chemnitz gelegenen schönburgischen Rezessherrschaften bis weit in das 19. Jahrhundert hinein überdies ein weiteres Gebiet mit territorialen Sonderrechten, die sich auch auf das Feld der Wirtschaft auswirkten.19 Der hier näher betrachtete Zeitabschnitt kann demnach als ein auch hierzulande von zahlreichen bewaffneten Konflikten geprägter Teil der europäischen wie überseeischen Geschichte wahrgenommen werden. Zu denken ist dabei an die drei Schlesischen Kriege, an die Franzosen- und »Indianerkriege« in Nordamerika, an die darauf folgende Unabhängigkeit Nordamerikas von den britischen Kolonialherren, den Bayerischen Erbfolgekrieg und schließlich an die Französische Revolution, gefolgt vom Zeitalter Napoleon Bonapartes. Jede dieser Auseinandersetzungen ist dabei auch als eine massive Störung des kontinentalen wie transatlantischen Handels zu begreifen, mit Auswirkungen auf jeden einzelnen Produzenten und Konsumenten. Bedeutete dies doch in aller Regel, dass Produzenten bzw. Händler sich kurzfristig auf neue Märkte bzw. Handelswege orientieren oder mit einem Totalverlust ihrer Handelswaren durch Kriegseinwirkung rechnen mussten. Dabei machte es durchaus einen Unterschied, ob man, wie nicht zuletzt auch sächsische Unternehmer, auf sich allein gestellt blieb oder, wie ihre britischen Konkurrenten, auf die tatkräftige Unterstützung des englischen Staates, etwa in Gestalt der Royal Navy bauen konnte, welche die Seehandelswege offen hielt und britische Handelsschiffe vor Übergriffen schützte.20 Kurioserweise profitierten die vogtländischen Musselinmanufakturen vom britisch-französischen Konflikt in Nordamerika, der die Zufuhr von indischen Stoffen erschwerte und damit den 1 Jacquardwebstuhl,Mülsen St. Jacob 1846, Kat. IX.7
14 Vogtländern Märkte eröffnete. Befördert wurde dies durch den vergleichsweise günstigen Import von Rohbaumwolle aus Kleinasien, d.h. aus dem Osmanischen Reich, über den Balkan, aber auch durch die niedrigen Produktionskosten im Vogtland. Das Kurfürstentum Sachsen kann im ausgehenden 18. Jahrhundert keinesfalls als ein homogener Wirtschaftsraum gesehen werden. Damit unterscheidet es sich nicht von anderen Territorien neuzeitlicher Herrschaft. Vielmehr finden sich in dem Betrachtungszeitraum Gebiete mit protoindustriellem Gewerbe vor allem im Erzgebirge, in der Oberlausitz, im Chemnitzer Raum und im Vogtland. Dominant war hier wie da die Textilherstellung – und zwar im Besonderen die Garn verarbeitende Wirtschaft. Die »klassischen Sektoren« der industriellen Revolution – Bergbau, Eisen- und Stahlproduktion, später der Eisenbahnbau – blieben in Sachsen gegenüber der Textilherstellung stets nachrangig. Das Erzgebirge durchlebte seit dem Niedergang des Silbererzbergbaus im 16. Jahrhundert einen Transformationsprozess hin zu einer Gewerberegion für Waren, die zuvor teils importiert worden waren: hochwertige Textilien, Haushalts- und andere Gebrauchsgegenstände oder Spielwaren. Die Produktion vollzog sich dabei in aller Regel dezentral, im häuslichen Rahmen und außerhalb städtischer Zunftordnungen. Diese Strukturen dehnten sich dann im 17. und 18. Jahrhundert vom Erzgebirge aus ins Erzgebirgsvorland, d.h. in den Zwickauer und Chemnitzer Raum, sowie ins Vogtland und führten allerorts auch zu einer Konfrontation mit den zwischen Plauen und Zittau etablierten Zunftstrukturen. Darüber hinaus existierten, wie im Erzgebirge bereits seit dem Mittelalter, auch im zum Thüringer Kreis gehörigen Amt Sangerhausen Unternehmen des Kupferschieferabbaus und der Kupferverhüttung. Durch die territorialen Verluste infolge des Wiener Kongresses blieb Sachsen indes nach 1815 die Weiterentwicklung dieses Sangerhäuser Reviers verwehrt. Die Wirtschaftsstrukturen auf dem Gebiet der im Kurfürstentum bzw. Königreich Sachsen dominierenden Textilindustrie waren selbst in diesem überschaubaren Wirtschaftsraum recht heterogen. Gemeinsam war den Regionen zwischen dem Zittauer Gebirge und dem Vogtland allenfalls die Struktur respektive die Organisation der Arbeitsprozesse. Diese war üblicherweise dezentral und kleinbetrieblich, also eher im ländlichen als im städtischen Raum angesiedelt und je Unternehmen mit einer recht überschaubaren Zahl von Arbeitern ausgestattet.21 In der Oberlausitz dominierte nach wie vor das Leineweberhandwerk. Im 18. Jahrhundert standen die in den Städten ansässigen Oberlausitzer Kaufmannssozietäten in Konkurrenz zu »Dorfgrossisten«22 im ländlichen Raum. Ausgangsmaterial für die Leineweberei ist der Flachs, keine Baumwolle! Dieser wurde lange Zeit aus Schlesien und Böhmen importiert, später aber auch im Erzgebirge angebaut. Im Erzgebirge entwickelte sich nach dem Ende des Erzbergbaus die in Heimarbeit ausgeführte Spitzen-, Posamenten- und Strumpfherstellung, zunächst aus Flachs oder aus italienischer Seide, später aus Baum2 C. C. Böhme nach William Hogarth Die Zeugleineweberbursche [sic!] an ihren Stühlen Kat. III.15
15 wolle. Dabei waren die Klöpplerinnen an Verleger gebunden, insbesondere in der Verarbeitung von Seide, die in der Regel von Verlegern importiert wurde. Die Strumpfwirker verkauften ihre Produkte hingegen selbstständig an Händler, da sich für sie die Beschaffung von Rohmaterial als unproblematisch erwies. Im Vogtland dominierte die Fertigung von Musselinstoffen.23 Von Plauen aus weitete sich das tradierte Verlagswesen auf das gesamte Umland aus. Die Verleger importierten Baumwolle, ließen sie von Arbeitskräften verspinnen und reichten das Garn an Plauener Weber zur Musselinherstellung weiter. Zum Ende des 18. Jahrhunderts kam es in der Region zu einem zahlenmäßigen Anwachsen der Verleger, was – etwa im Rahmen der Leipziger Messe – mit einem internen Konkurrenzkampf um Kunden verbunden war.24 Neben dem Erzgebirge, dem Vogtland und der Oberlausitz bildeten Stadt und Region Chemnitz ein weiteres regionales Zentrum der sächsischen Textilwirtschaft in der Zeit vor Beginn der industriellen Revolution, zunächst mit einem Schwerpunkt auf der Leineweberei. Grundlage war hier das 1357 vom Markgrafen Friedrich III. von Meißen erteilte Bleichprivileg, das den Chemnitzern in der Markgrafschaft eine Monopolstellung in diesem Gewerbezweig verschaffte. Chemnitz konnte sich in der Folge zu einem Zentrum des sächsischen Baumwollhandels entwickeln, das den Webern den Zugang zu Rohstoffen erheblich vereinfachte. Das Verlagswesen konnte sich hier vor diesem Hintergrund hingegen nicht etablieren; die Webermeister verkauften ihre Produkte eigenständig weiter. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich zudem sowohl im mittleren Erzgebirge als auch in Chemnitz wie in den im Chemnitzer Raum gelegenen Städten Burgstädt, Limbach, Oberlungwitz oder Penig u.a. das Strumpfwirkergewerbe ausgebreitet, das zunächst mit Seide, rasch aber auch mit Bauwollgarn arbeitete.25 In den hier vorgestellten Regionen waren seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Voraussetzungen für einen »Modernisierungsschub« im Sinne einer maschinengestützten Fertigung in Fabriken gegeben, insbesondere für den Bereich der Baumwollspinnerei. Tatsächlich gab es bereits während der Herrschaft Napoleon Bonapartes und der Kontinentalsperre sowie in der Folge in der zweiten Hälfte der 1810er Jahre Ansätze für eine industrielle Fertigung von Textilwaren, die jedoch vorerst, nach dem Ende der Ära Napoleon, an der effizienteren und kostengünstigeren britischen Konkurrenz scheiterte.26 Historiker definieren das aus dem lateinischen Wort fabricare [anfertigen] abgeleitete Substantiv Fabrik als »eine Produktionsstätte im industriellen Maßstab, die auch unter der Bezeichnung Industriebetrieb eine größere Anzahl unterschiedlicher Arbeitsvorgänge vereinigt und dabei wesentlich mit Hilfe von Maschinen, Produktionsmitarbeitern und einer Betriebsführung Erzeugnisse herstellt. Den Besitzer oder Betreiber einer Fabrik nannte man früher ›Fabrikant‹, heute meist Unternehmer oder in der Großindustrie auch Industrieller. Der Gebäudekomplex, in dem produziert wird, ist eine ›Fabrik‹.«27 Rainer Karlsch und Michael Schäfer vertreten in ihrer »Wirtschaftsgeschichte Sachsens« noch für das ausgehende 19. Jahrhundert zu Recht die Sicht, dass »die sächsische Industrielandschaft von arbeitsintensiven, teilweise hochspezialisierten Klein- und Mittelbetrieben« mit obendrein häufig recht dünner Eigenkapitaldecke bestimmt wurde.28 Natürlich hatten auch technische Innovationen einen Einfluss auf den Gang der frühen Industrialisierung im sächsischen Kurfürstentum. Diese kamen, wie jedermann weiß, aus Großbritannien und verbinden sich mit Namen wie John Kay (1704–1780), James Hargreaves (1721–1778), Richard Arkwright (1732–1792), Samuel Crompton (1753–1827) oder Edmund Cartwright (1743– 1823). Deren Erfindungen revolutionierten die englische Garn- bzw. Gewebefertigung seit den 1730er Jahren. Die Mechanisierung, d.h. der Einsatz vom Menschen 3 Feinbohrmaschine Chemnitz (?), Ende 18.Jahrhundert Kat. V.6
Uwe Fiedler Meinem akademischen Lehrer Prof. Helmut Bräuer in Dankbarkeit zugeeignet Handwerk und Bildung im 18. Jahrhundert Veränderungen in der »geistigen Verfasstheit« als Grundlage für die Aufnahme neuer gewerbespezifischer Gedanken, Anschauungen und Konzepte
65 Zunächst sei eine Bemerkung zur Methodik des Beitrags vorausgeschickt: Der Aufsatz ist kein Resultat einer gezielt an einer Fragestellung orientierten Quellenrecherche. Vielmehr handelt es sich um den Versuch der Kontextualisierung von quellenmäßigen »Beifängen« oder gar Zufallsbefunden, die sich über Jahre hinweg aus verschiedenen Recherchetätigkeiten, gewissermaßen en passant ergeben haben. Die Summe dieser wissenschaftlichen »Beifänge« führte jedoch schließlich zur gewählten Thematik. Zwei Fragestränge spielten dabei eine Rolle: Zum Einen stellte bereits die Aufklärung die Frage, wie es angesichts neuer wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, politischer Herausforderungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts um die »geistige Verfasstheit« ihrer Zeitgenossen bestellt sei. Zum Zweiten erweckt der öffentliche Umgang mit der Geschichte der Stadt nach dem Siebenjährigen Krieg den Eindruck, als seien am Ende jenes Jahrhunderts ganz spontan die ersten Fabriken aus dem Nichts oder zumindest aus einem rein handwerklich determinierten Untergrund gewissermaßen »aufgeploppt«. Fragestellungen wie etwa mentalitätsgeschichtliche, die den zweifelsfrei gewichtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruch im Übergang vom Feudalabsolutismus zum Industriekapitalismus zwangsläufig flankierten, ja diesem als conditio sine qua non immanent waren, spielten bislang in der Chemnitzer Geschichtsbetrachtung keine sonderliche Rolle. Die Quellen aber lassen deutliches Potenzial zur Beantwortung entsprechender mentalitäts- und alltagsgeschichtlicher Fragen erkennen. Und an diesen Indizien für Veränderungen in der »geistigen Verfasstheit« der Hauptmasse von in Chemnitz ansässigen Warenproduzenten als Grundlage für die Aufnahme neuer gewerbespezifischer Gedanken, Anschauungen und Konzepte setzen die folgenden Ausführungen an (Abb. 1). Als die Chemnitzer Bäckersgattin Anna Rosine Eichler Mitte des 18. Jahrhunderts für immer ihre Augen schloss, hinterließ sie ihren Nachkommen einen denkwürdigen und besonderen Besitz: Die Gattin des Obermeisters der »Weißbecken zu Kempnitz« vermachte testamentarisch ihren Kindern eine ansehnliche Bibliothek, zu der neben dem obligatorischen Chemnitzer Gesangbuch, Erbauungsliteratur und einer Wittenberger Bibel von 1618 noch insgesamt 85 »Bücher groß und klein« der verschiedensten Fach- und Wissensgebiete gehörten1 – eine für das 18. Jahrhundert immense Quantität, wie sie selbst heute nicht die Regel sein dürfte. Anna Rosine Eichler hatte bereits von ihrem Vater, dem Bäckermeister Adam Gottlieb Kempe, der nebenbei in der Stadt auch als Fechtmeister reüssierte, einige wenige Bücher geerbt, darunter die »Chronica« des Görlitzer Handwerkers, Stadtschreibers und Philosophen Jacob Böhme. Den überwiegenden Teil ihrer Bücher jedoch hatte sie die Jahre ihrer Ehe hindurch selbst erworben.2 Obwohl der Fakt des Besitzens allein noch nichts darüber aussagt, inwiefern diese Bücher gelesen und damit deren Bildungsinhalte auch ausgeschöpft wurden, widerspräche es dem pragmatischen Sinne eines Handwerkers, eine Ware, einen Wert zu erwerben, ohne ihn im vorgedachten Sinne zu nutzen,3 vor allem, wie später noch zu sehen sein wird, wenn es sich um Bücher zur unmittelbaren Profession ihrer Besitzer handelt. In Anna Rosines Testament offenbaren sich neue Bildungsbedürfnisse, die weit über einem allgemein angenommenen Niveau der auf Haus und Werkstatt orientierten Stadtbürger lagen.4 Das Beispiel macht zudem einen Paradigmenwandel deutlich: Seit dem Beginn der Frühen Neuzeit mochten Chemnitzer Handwerker als »gebildet« gegolten haben, wenn sie ein wenig rechnen und schreiben konnten oder als »Hausväter« in der Lage 1 Ansicht der Stadt Chemnitz, sog. »Weberinnungsbild«, Kat. I.1
66 waren, der Familie aus der Bibel vorzulesen. Darüber hinausgehende Bildungsbedürfnisse waren der Bürgerschaft in einer primär auf handwerkliche Produktion ausgerichteten Gemeinde wie Chemnitz eher suspekt: Man war geneigt, das, was ein Handwerksmeister über seine Profession hinaus verstand, von dessen Gewerbefähigkeit zu subtrahieren. Wir werden sehen, dass dieses Urteil den Gewerbetreibenden Unrecht tut. Denn obwohl es natürlich in der Existenz »des Handwerkers« anhaltend zähe Konstanten gab, bestand gleichfalls, nicht zuletzt vor dem prägenden Hintergrund gesellschaftlicher Erscheinungen, zu denen Krieg, Seuchen, eine frühe Globalisierung u.ä.gehörten,die Notwendigkeit, sich vor allem innerhalb seiner Tätigkeit weiterzubilden und fachliches Know-how permanent auszubauen: Um diesem Aspekt nachzugehen, ist es zunächst einmal erforderlich, den beliebigen Werktag eines durchschnittlichen Chemnitzer Handwerksmeisters zu rekonstruieren und dabei sein Verhältnis zu Bildung, zu neuen Bildungsinhalten und deren Einfluss auf seine gewerbliche Tüchtigkeit im Auge zu behalten. Da begegnet uns eine unseren Alltagsregelungen krass zuwiderlaufende Lebenswelt: Um die natürlichen Lichtverhältnisse optimal auszunutzen, stand man, in Abhängigkeit vom Sonnenstand während der Jahreszeiten, sehr früh auf, im Sommer bereits zwischen 4 und 5 Uhr. Die Morgenglocken der Kirchen forderten noch den arbeitsunwilligsten Gesellen nachdrücklich zum Verlassen seines Strohsacks auf, indem sie alle Viertelstunde läuteten. Wenig später trafen sich die Inwohner des Meisterhaushalts zum gemeinsamen Morgengebet und zum Morgenmahl. Danach schloss sich ein früher Gottesdienst und der Arbeitsbeginn in der Werkstatt an. Nachdem der Meister Gesellen und Lehrlinge in ihre Aufgaben eingewiesen hatte, ließ ihn die Zunft durch ihren jüngsten Meister aufs Zunfthaus zur gemeinsamen »Morgensprache« bitten. Hierbei war die Anwesenheit aller Zunftmeister Pflicht, denn alle zunftrelevanten verfassungsrechtlichen, produktionstechnischen oder merkantilen Fragen wurden durch die Gemeinschaft, nicht durch das Votum Einzelner geregelt. Während der Morgensprache vertrat der Altgeselle den Meister in der Werkstatt. Mittlerweile war es nach 5 Uhr, die nachts verschlossenen Stadttore wurden geöffnet, und der Ratsdiener traf sich mit den Torwachen und jenen Handwerkern, die den nächtlichen Wach- und Streifendienst wahrgenommen hatten. Man rechnete die für Ruhestörung, das Ausschütten der Kammerlauge aus den Fenstern oder Verstöße gegen die Brandschutzverordnung verhängten Strafgelder ab. Die Meister kamen von der Morgensprache »auf der Zunft« zurück und begegneten unterwegs dem Marktmeister, der mit seinen Gehilfen Vorkehrungen zum Öffnen des Marktes traf. Mit den Handwerksmeistern, die im Versorgungsgewerbe für den lokalen Markt arbeiteten, loste er die Reihenfolge der Verkaufsstände aus. Die Meister belegten die Stände mit ihrer Ware, die sofort vom Marktmeister hinsichtlich ihrer Qualität begutachtet wurde. Gegen 10 Uhr begaben sich die Ratsherren zur Ratssitzung. Auch die Obermeister der Zünfte wurden »coram senatu aufs Rathaus zitiret«, sofern obrigkeitliche Fragen zu den Zunftstatuten zur Klärung anstanden. In der Werkstatt wurde bis etwa 14/15 Uhr straff durchgearbeitet, danach traf man sich im Meisterhaushalt zur zweiten Mahlzeit des Tages. Diese fiel etwas opulenter aus: Es gab Suppe, ein Stück Fleisch mit »Zugemüs«, Grütze, Erbsbrei, Rüben o.ä., ganz nach wirtschaftlicher Lage oder Freigiebigkeit bzw. Knausrigkeit der Meisterin. Am Nachmittag trafen in der Regel die Wandergesellen an den Stadttoren ein und wurden auf die Herberge ihres Gewerbes verwiesen. Die Gesellen der Zunft erschienen zum gemeinsamen Umtrunk, denn die Einwandernden waren ihre Zeitung aus der Welt draußen hinter der Stadtmauer und Träger willkommener neuer Kenntnisse im Sinne eines gewerblichen Technologie2 Grabkreuz für Michael Neuber, Kat. III.9
67 transfers. Inzwischen schaute sich ein einheimischer Geselle in der Stadt nach Arbeit für die Ankömmlinge um. Am Nachmittag musste neben der Arbeit in der Werkstatt weiteren zünftigen Pflichten Rechnung getragen werden: Im Falle des Ablebens eines Meisters oder seiner Gattin begleitete das Handwerk den Sarg, danach traf man sich beim Bier, um auf das Totengedenken zu trinken (Abb. 2). Gegen 17 Uhr schließlich nahm man in der Werkstatt ein Vesperbrot zu sich. Schließlich gebot zwischen 19 und 20 Uhr der Meister Feierabend oder, was häufig erforderlich war, ordnete Überstunden an. Um 21 Uhr war schließlich »Schicht«: die Stadttore und die öffentlichen Häuser – Schankstuben und Frauenhäuser – wurden geschlossen. Im Meisterhaushalt beendete das gemeinsame Nachtmahl aller Angehörigen des »ganzen Hauses« mit Käse, Brot und Bier den Tag. Der Meister gebot Nachtruhe. Was lässt sich aus diesem Tagesablauf ablesen? Nun, es sind drei feste Bezugsgrößen, die den Handwerker im Tagesablauf einem strengen Regiment unterwerfen. Es sind dies die Stadt (Obrigkeit), schließlich Gott (Kirche) und Profession (Zunft); alle drei finden sich als zentrale Elemente in bildlichen Selbstzeugnissen wie dem Weberinnungsbild von 1780.5 Der gesamte Tag eines Handwerkers, gleich, auf welcher Stufe der zünftigen Hierarchie er auch stehen mag, ist primär auf Arbeit – auf Produktion, Planung, Verkauf – sowie auf die dafür notwendige persönliche Reproduktion ausgerichtet. Dies entspricht seinem tradierten Selbstverständnis, und exakt dieses erwartet die Gesellschaft von ihm: Im zeitgenössischen Sprachgebrauch heißt das: »Der handtwerker hat tüchtig zu sein!«6 Hier, quasi am Vorabend der industriellen Revolution, wird dezidiert noch einmal – und dies ausdrücklich – ein Terminus aus dem hohen Mittelalter bemüht: »Tüchtigkeit« geht auf das mittelhochdeutsche tuht [tauglich] zurück. Der Handwerker muss »tüchtig« sein in seiner Profession, seine Ware »tüchtig« für den Verkauf: Ein Meister muss damit in der Lage sein, markttaugliche, marktgängige Ware zum Wohle des Gemeinwesens zu produzieren. So heißt es noch 1780 auf dem Interieurbild einer Chemnitzer Weberstube (Abb. 3): »Liebt Frömmigkeit und Fleiß, macht eure Waaren tüchtig./Und schämt euch des Betrugs, meßt ohne Vortheil richtig; / So lohnt Gott euer Werck,mit Segen und Gedeyhn,/Und so wird Chemnitz stets berühmt und glücklich seyn.«7 Kein Wunder also, dass die alte, scheinbar auf längst vergangene Zeiten zurückgehende Forderung auch 1780 noch vorkommt und sich gleichsam als »roter Faden« durch bildliche und schriftliche Quellen, von Selbstzeugnissen über Handwerksordnungen bis hin zu Liedgut und Belletristik, finden lässt. Was hier, in seiner fast mittelalterlichen Diktion auf den ersten Eindruck eher rückwärtsgewandt klingt, erfährt seine Aktualisierung aus der zeitgenössischen Entwicklung und lässt einen hochaktuellen, nach neuen Wegen heischenden Aspekt mitklingen: Tüchtigkeit bedeutet, dass ein zünftiger Handwerker, der, wie etwa die textilen Gewerbe in der Stadt, für einen nunmehr weltweiten Markt arbeitet, seine Nase auch deutlich über die Stadtmauer hinaus in die »Welt«, also in ebenjenen globalisierten, nicht mehr an der Stadtmauer endenden Markt, stecken muss.8 Die Zünfte selbst wachen zwar dem Buchstaben nach auch im 18. Jahrhundert noch darüber, dass innerhalb eines Gewerbes niemand einen ökonomischen Vorteil gegenüber seinen Innungsverwandten, sei es durch die Einführung technologischer Neuerungen oder durch Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse, erlangen konnte.9 Dies beginnt sich jedoch deutlich zu ändern, denn genauso selbstverständlich wird nun das Bewusstsein, dass man wirtschaftliche und soziale Katastrophen riskierte, hätte man versucht, den Handwerker von jeder Form von zusätzlicher Bildung, nicht zuletzt, ja vor allem neuer fachlicher Natur, fernzuhalten.10 Um das Phänomen »Bildung« in den richtigen kulturellen Kontext zu setzen, muss man differenzieren zwischen berufsspezifischer auf der einen und weiterführender individueller Bildung innerhalb des gewerblich determinierten Bevölkerungsteils in der Stadt Chemnitz auf der anderen Seite. Schauen wir uns deshalb zunächst jene Institutionen an, die dafür in der Stadt zur Verfügung standen. Wenn man am Ausgang des 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Sachsen einem »aufgeklärten« Zeitgenossen die Frage nach der Bildung eines zünftigen Handwerkers gestellt hätte, so hätte man ziemlich stereotyp Worte wie »rückständig«, »wenig gebildet« oder »desinteressiert« zur Antwort bekommen.11 3 Interieur einer Chemnitzer Weberstube, Kat. III.1
68 Doch werden diese Prädikate aus der Sicht dezidiert bürgerlich-kapitalistischen Leistungswillens im Industriezeitalter verliehen; sie werden dem Handwerker nicht im tatsächlichen Sinne gerecht. Schon gar nicht gerecht wird ihm der gleichfalls erhobene Vorwurf der absoluten Bildungslosigkeit. Man muss die Frage nach Bildung in ihrer Zeitbezogenheit stellen. Johann Stuve, von der deutschen Aufklärung geprägter und auch in Chemnitz rezipierter Hamburger Pädagoge, schreibt 1785 in seinen »Allgemeinen Grundsätzen der Erziehung«: »[...] so notwendig die Verschiedenheit der Stände und der Geschäfte, des Ansehens und des Vermögens ist, so notwendig ist auch die Verschiedenheit der Ausbildung der Körper- und Geisteskräfte. Der Landmann, der Handwerker, der Soldat, der Künstler, der Gelehrte, der Regent müssen jeder für seine Verhältnisse ausgebildet werden.«12 Dieser zentralen, für die Epoche der Frühen Neuzeit gültigen Forderung nach standesgemäßer Bildung hatte neben dem späteren »Berufsbildner« Zunft auch das Chemnitzer respektive sächsische Schulwesen zu entsprechen, das seit Ausgang des Spätmittelalters neben den Lateinschulen die sogenannten deutschen Schulen für beide Geschlechter, für Knaben und »meigdlein«, kannte. Die Chemnitzer Lateinschule hatte ihre erste Blüte bereits an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert erlebt, doch war von ihrer vormaligen Bedeutung zum Ende des 18. Jahrhunderts kaum mehr etwas übriggeblieben. Sie erhielt von Zeitgenossen das Prädikat einer »armseeligen Gelehrtenschule alten Styls«.13 Dennoch schickten auch viele Handwerker ihre Kinder auf die höhere Schule; ein verstärktes Hinwenden zu höherer Schulbildung unter dem Aspekt, den Kindern durch Absolvieren einer höheren Schule ein Studium und damit einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen, lässt sich in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts durchaus in der Tendenz erkennen. Man muss außerdem klar benennen, dass es nicht nur Kinder aus dem Handwerk waren: Gerade an der Chemnitzer Lateinschule finden sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 25- und 28-jährige Leineweber, die, wie aus den Matrikeln zu erfahren ist, aus beruflich notwendigem »unstillbaren Wissensdurst« ans Lyceum gekommen waren.14 Vorrangig jedoch sollten sich die deutschen Schulen den Bildungsbedürfnissen künftiger Handwerker widmen. Diese Institutionen wurden seitens der Handwerker- und Kaufmannschaft nachhaltig unterstützt, vor allem weil, wie es in einer kollektiven Petition aus diesen Kreisen heraus heißt, »Jungenn Knabenn so zum Latein nicht geschicket, nichts nutzlicher, dann sie in dewtschen Schulen mit guten Schrieften unnd Rechnungen megen unterweist werden, damit sie beide handwergks und handelsleuth nutzlich und dienstlich sein konnen [. . .]«.15 Dies sollte die Norm sein, jedoch werden wir hier erneut mit einer Erscheinung konfrontiert, die erkennen lässt, dass sich eine einstmals relativ homogene Bevölkerungsgruppe weiter ausdifferenzierte: Die Chemnitzer Gewerbelandschaft ist durch die »textilen« Gewerbe geprägt – Gewerbe, in denen der Bedarf an Hilfskräften – Frauen und Kindern – besonders hoch war. Und dann gab es nach dem Siebenjährigen Krieg die etwa 20 als »Fabriquen« bezeichneten Wirtschaftsbetriebe16 in der Stadt, in denen regelmäßig und dauerhaft eine recht erhebliche Zahl an Kindern arbeitete.17 Es verwundert daher nicht allzu sehr, und das spricht dezidiert für einen neuen handwerklichen Bildungswillen in jenem Zeitraum, wenn den offiziellen Bildungseinrichtungen in Stadt und Land Konkurrenz durch bildungsvermittelnde, inoffizielle Einrichtungen erwuchs.18 Bereits kurz nach Ende des Siebenjährigen Krieges, während der Anlaufphase des großen sächsischen Rétablissements wurden im Jahr 1766 insgesamt 26 sogenannter Klipp- und Winkelschulen, in denen eine stattliche Anzahl Kinder unterrichtet wurde, beim Chemnitzer Rat zur Anzeige gebracht. Die Bandbreite des Unterrichtens in den vom städtischen Lehrkörper massiv angefeindeten Winkelschulen reichte vom Vorbeten und Memorieren einzelner Bibelpassagen über die berufsnotwendige Elementarbildung (Lesen, Schreiben, Rechnen), ferner über tatsächlich berufsspezifische Aspekte (Musterzeichnen) hin zu Inhalten, die an »höheren« gesellschaftlichen Leitbildern orientiert waren, wie Klavier, Fremdsprachen (Französisch) und Fechtunterricht.19 Sie bilden damit ein weiteres Indiz für ein deutliches Ausdifferenzieren der scheinbar so homogenen Schicht der Chemnitzer Handwerkerschaft: Das Beispiel »Klavier, Fechten, Französisch« korrespondiert mit dem zeitgenössischen englischen Sprichwort »Every handyman is a tradesman, every tradesman is a merchant, every merchant is a gentleman« und mag hier seine Entsprechung in neuen gesellschaftlichen Leitbildern auch unter Personen aus dem Chemnitzer Handwerkerstand finden. Zwar mag die Qualität des Unterrichtens, etwa durch die Person der »gaßenvoigtin« recht miserabel gewesen sein, jedoch musste in einer Anzahl anderer Fälle selbst der Rektor der städtischen Lateinschule ausdrücklich konstatieren, dass viele seiner Zöglinge durch die Winkelschulhalter »privatim [...] gut zur öffentlichen Schule vorbereitet« worden seien.20 Trotz der zum Teil vernichtenden Kritiken, die seitens der Zeitgenossen, wie etwa Christian Gottlob Heyne, gegen die Chemnitzer Schulen erhoben wurden, waren diese nichts anderes als normentsprechend. Sie taten exakt das, was gesellschaftlich von ihnen erwartet wurde, nämlich der geforderten standesgemäßen Bildung Rechnung zu tragen, und sie taten es – wenngleich sich dies nur in Einzelfällen quellenmäßig manifest machen lässt – mit deutlicher Orientierung auf die europa-, ja weltweit veränderte Gewerbelandschaft. Daher spielten nun im Kontext des schulischen wie auch außerschulischen berufsbezogenen Bildungserwerbs noch weitere, über die tradierten Bildungsinstitutionen hinausgehende Faktoren eine gewichtige und ausschlaggebende Rolle. Es sei nochmals daran erinnert, dass der Maßstab für das gesellschaftliche Ansehen eines Handwerkers in der Stadt des 18. Jahrhunderts nach wie vor seine berufliche Tüchtigkeit war (Abb. 4). Die darin implizierte Markttauglichkeit seiner Produkte setzte die bewusste und durchdachte Auseinandersetzung mit den Konsumwünschen der potenziellen Kundschaft voraus, wo immer diese sich finden
69 sollte, sei es über holländische Zwischenhändler auf den westindischen Inseln, in der Nachbarstadt oder auf dem lokalen heimischen Markt. Der Handwerker musste wissen, was gerade Mode war, musste im vorherrschenden Zeitgeschmack, im Stil seiner Zeit gängige Ware herzustellen wissen. Für den Gesellen, der gedachte, sein Meisterrecht zu erwerben, war die Walz, die Wanderung, Pflicht.21 Ausnahmslos alle verbindlichen zünftigen Gesetzesvorlagen hielten noch im 18. Jahrhundert am Wanderzwang für Meisterrecht begehrende Gesellen fest; im Durchschnitt schrieben die Statuten zwei bzw. drei Jahre Walz als Minimalzeit vor; doch waren Gesellen, die ihre Wanderschaft auf sechs, sogar auf zehn Jahre ausdehnten, keine Seltenheit. Die Zunft verfolgte mit dem Wanderzwang drei zentrale Motive: zunächst die Begrenzung der Meisterzahl vor Ort, um das Prinzip der gleichen Nahrung für die Innungsverwandten zu gewährleisten. Zum Zweiten werden auf der Wanderung wichtige moralische Werte des Gesellen vervollkommnet. Der wandernde Geselle unterliegt einem ungeschriebenen, tradierten Ehrenkodex, der u.a. seine unbedingte Ehrlichkeit fordert. Selbstredend stellt Stehlen einen nicht wieder gutzumachenden Frevel dar, zugleich aber wird er darauf orientiert – und damit kommen wir zum eigentlichen Hauptzweck der Wanderung –, dass er so viel als möglich »mit den Augen zu stehlen« hat. Diese Forderung sagt im Kern nichts anderes, als dass der Geselle zum Nutzen seines Handwerks alle Modernisierungen im Gewerbe, alle modischen, stilistischen, verfahrenstechnischen, wissenschaftlichen, technologischen, merkantilen usw. Neuerungen auszuforschen und in den Katalog seiner individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, zum späteren korporativen Nutzen aufzunehmen hat. Damit fördert man Technologietransfer, und aus diesem Grunde orientieren die Zünfte im Zuge der Wanderjahre des Gesellen auf konkrete Wanderziele, nämlich in jene Regionen oder Städte, in denen das Gewerbe »im besonderen Schwange steht«.22 Das tut die Zunft dezidiert noch bis ins 19. Jahrhundert hinein mit Erfolg. Dass in Chemnitz hochqualitative Produkte nach niederländischem oder englischem Vorbild verfertigt wurden, hat seine Ursache nicht in nennenswertem Zuzug aus den beiden Gebieten, sondern im intendierten Technologietransfer der Wanderung. Dazu einige Beispiele: Fall Nummer eins – die Buchbinder.23 Sie sind in der Chemnitzer Gewerbelandschaft des 18. Jahrhunderts ein typisches Randgewerbe: geachtet im städtischen und zünftigen Kontext, für einen lokalen bzw. begrenzt regionalen Markt arbeitend, jedoch – im Gegensatz etwa zu ihren universitätsnahen Leipziger oder den für eine gänzlich andere Klientel in der Residenzstadt arbeitenden Dresdner Innungsverwandten – völlig unbeeinflusst von Zeitströmungen. Weil die Chemnitzer Buchbinder bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein nicht auf äußere Zwänge reagieren mussten, bestand das Nonplusultra handwerklicher Fertigkeit, wie es sich in den genauestens reguliert abzulegenden Meisterstücken niederschlug, in der Produktion von Sachwerten, die sich seit dem 16. Jahrhundert nicht verändert hatten. Um 1775 herum gab es nun aber keinen Bedarf mehr an den Foliant-Einbänden »mit Filletten, Buckeln und Klausuren«, die schon die Hanns-Lufft-Bibel von 1542 geziert hatten.24 Nunmehr erforderte der empfindsame 4 Zunftlade der Chemnitzer Strumpfwirker, Kat. III.4
Stefan Thiele Kattundruckereien in Sachsen Eine neuartige Bauaufgabe und ihre architektonische Umsetzung im späten 18. Jahrhundert
109 Unter den zahlreichen Denkmalen der sächsischen Industriegeschichte spielen die Zeugnisse der Textilproduktion eine herausragende Rolle. Schon früh weckten Einzelobjekte und Baugruppen das Interesse nicht nur von Wirtschafts- und Technikhistorikern, sondern auch von Kunstwissenschaftlern und Denkmalpflegern.1 Im Mittelpunkt standen vor allem die Spinnmühlen des Erzgebirges.2 Demgegenüber fand die unmittelbar vorangehende Generation von Fabrikbauten bislang nur wenig Aufmerksamkeit. Die aufwendige Sanierung und Neueröffnung des »Weisbachschen Hauses« in Plauen als »Fabrik der Fäden« lenkte im Herbst 2023 die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit wieder auf die Kattundruckereien oder -manufakturen, die seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts bis zum allmählichen Niedergang dieses Gewerbezweigs um 1850 das Erscheinungsbild zahlreicher sächsischer Klein- und Mittelstädte prägten.3 Die folgende Studie nimmt die Bauten der Kattunverarbeitung als »erste große fabrikartige Etablissements«4 in den Blick, beschränkt sich jedoch, dem zeitlichen Rahmen des vorliegenden Bandes entsprechend, auf exemplarische Beispiele aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Produktionstechnische Grundlagen Für das Kurfürstentum Sachsen waren Herstellung, Veredelung und Vertrieb von farbig bedrucktem Kattun seit dem frühen 18. Jahrhundert einer der wichtigsten wirtschaftlichen Faktoren.5 Einzelne Regionen, u. a. das Vogtland sowie die Städte Chemnitz und Großenhain mit ihrem Hinterland entwickelten sich dabei zu Zentren dieses Gewerbezweigs. Nachdem um 1710 erste Experimente mit neuartigen Druckverfahren in Frankenberg stattgefunden haben sollen, kam es 1755 in Plauen zur Gründung der ersten »Fabrique«. Dieser zeitgenössische Begriff umreißt die Konzentration von Personal und technischer Ausstattung in speziell zu diesem Zweck eingerichteten »Etablissements«, komplexen baulichen Anlagen, in denen Güter für die unterschiedlichsten Bedürfnisse produziert wurden. Dies geschah im hier betrachteten Zeitraum überwiegend in Handarbeit, so wie es schon in den Jahrhunderten zuvor üblich war, nur mit dem Unterschied, dass der Arbeiter seine Selbstständigkeit aufgegeben und sich in die Abhängigkeit vom Lohnherrn begeben hatte. Mechanisierte Antriebskräfte auf der Basis von Wasser- oder Windkraft waren zwar bekannt, spielten jedoch in der Textilbranche noch keine explizite Rolle. Anlage und bauliche Struktur einer Kattundruckerei wurden durch den Verarbeitungsprozess bestimmt, der sich in mehreren Abteilungen wie Bleicherei, Druckerei, Formenstecherei sowie letztlich dem Vertrieb vollzog.6 Um einen rationellen Ablauf zu gewährleisten, war eine stringente Organisation unabdingbar. Sie spiegelte sich sowohl in der Lage der Fabrik als auch in deren Aufbau wider. Voraussetzung war die Nähe eines Gewässers »von Flut und gehöriger Tiefe«, in dem die Rohware gewaschen und gespült wurde, um sie anschließend auf dem Bleichplan auslegen zu können. Im Anschluss erfolgte das Glätten mithilfe einer Mangel aus zwei starken Rundhölzern, die gelegentlich schon mit mechanisiertem Antrieb auf der Basis von Wasserkraft oder mit Göpelwerken ausgestattet war. Zum Kern einer Kattunfabrik zählten die Farbenküche sowie die angegliederte Färberei: Hier produzierte der »Couleurist« auf der Grundlage gut gehüteter Rezepturen die benötigten Farben. Die Stoffbahnen wurden in große Kessel getaucht und erhielten damit die gewünschte Kolorierung. Zum Abtrocknen gelangten sie anschließend in einen hölzernen Trockenturm, alternativ konnte dies auch auf den Dachböden oder mithilfe spezieller Vorrichtungen im Traufbereich der Produktionsgebäude geschehen.7 Neben dem Färben bildete das Bedrucken einen weiteren zentralen Arbeitsgang: Das Druckhaus mit mehreren gut belichteten Sälen war der Arbeitsplatz des Druckers sowie der assistierenden Streichjungen und Schildermädchen. Auf großen Tischen wurden die ausgebreiteten Stoffbahnen mithilfe hölzerner, später auch metallener Modeln mit dem vorgegebenen Muster versehen und anschließend individuell bemalt. Nach 1820 setzten Bestrebungen zur Mechanisierung des Druckverfahrens mit dem Walzendruck ein. Für die Herstellung und Instandhaltung der notwendigen Arbeitsgeräte mussten darüber hinaus Werkstätten wie Tischlerei und Formenschneiderei (für die Modeln) vorgehalten werden (Abb. 1). Typologie und bauliche Entwicklung der frühen Kattundruckereien In der Regel errichtete man Produktionsgebäude ohne höheren gestalterischen Anspruch, es handelte sich um reine Zweckbauten, die nicht selten zudem in leichter Bauweise – entweder vollständig oder teilweise in Fachwerk oder Holz – ausgeführt waren. Zu beobachten ist dabei, dass man nicht zuletzt aus Gründen des Feuerschutzes bei den zentralen Gebäuden Wert auf eine massive Ausführung der Erdgeschosse und deren wenigstens partielle Einwölbung legte. In ihrer charakteristischen Struktur bilden diese Bauten das Kontinuum 1 Drucker und Streichjunge bei der Arbeit in einer Kattundruckerei, idealisierte Darstellung aus dem späten 19. Jahrhundert
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