26 Eine Betrachtung der Sammlungszusammenstellung in ihrem zeithistorischen Kontext eröffnet erhellende Perspektiven.4 Die meisten Werke gelangten zwischen den 1950er und 1970er Jahren in die Sammlung; viele entstanden auch in diesen Jahrzehnten. Es handelt sich vorwiegend um gegenständliche Kunst, und das ermöglicht die Einordnung in einen wichtigen Diskurs der Nachkriegszeit: Nach 1945 standen abstrakte und gegenständliche Kunstrichtungen in einem konfliktreichen Spannungsverhältnis, das die tiefgreifenden gesellschaftspolitischen und kulturellen Veränderungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts widerspiegelte. In der Suche nach neuen Ausdrucksformen zur Verarbeitung der Schrecken und Traumata des Krieges diente die Kunst als Medium der Reflexion. Gegenständliche Kunst wurde vielfach als traditionell, rückwärtsgewandt und konservativ wahrgenommen, während die abstrakte Kunst als Ausdruck einer neuen Welt und als radikaler Bruch mit der jüngsten Vergangenheit galt. Künstlerische Positionen, die sich gegenständlich äußerten, gerieten leicht in den Verdacht, geschichtsvergessen zu arbeiten. Schließlich war die avantgardistische und insbesondere abstrakte Kunst während der NS-Zeit verfemt und eine Orientierung an vormodernen Vorstellungen erzwungen worden, »die die künstlerischen Avantgarden längst hinter sich gelassen hatten«.5 Andererseits wurde abstrakte Kunst häufig als elitär und unverständlich kritisiert. Die Symposien der Darmstädter Gespräche, die zwischen 1950 und 1975 zumeist als Begleitveranstaltung zu einer Ausstellung stattfanden, sowie die erste documenta und die wiederaufgenommenen Künstlerbundausstellungen boten eine Plattform für die Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Das erste Darmstädter Gespräch und die zugehörige Ausstellung, initiiert von der Neuen Darmstädter Sezession auf der Mathildenhöhe, beschäftigten sich 1950 mit dem Thema Das Menschenbild in unserer Zeit. Die Veranstaltung gilt als ein Streitgespräch zwischen den Befürwortern und Gegnern der abstrakten Kunst.6 Der Widerhall dieser Nachkriegskonflikte lässt sich in der Zusammenstellung der Sammlungswerke erahnen. Ernst Straßner, der bis zum Anfang der 1970er Jahre für die Erweiterung des Konvoluts maßgeblich verantwortlich war, stellte sich eindeutig auf die Seite der gegenständlich arbeitenden Künstlerinnen und Künstler.7 Dies geht aus seinen Schriften und dem privaten Briefaustausch mit Hans Purrmann hervor, und möglicherweise sind die von ihm ausgewählten Werke ein Spiegel dieser Überzeugung. Denn das Sammlungskonvolut der ersten Phase zeugt hauptsächlich von der Hinwendung zu einer figürlichen, auf den Gegenstand bezogenen Kunst in unterschiedlich stark abstrahierten stilistischen Ausformungen. Straßners Haltung in dieser Debatte scheint jedoch weniger ambivalent zu sein, als die Vielfalt der gesammelten Werke es vermuten lässt. HAP Grieshabers Holzschnitt etwa weist starke Abstrahierungen auf, doch arbeitete er stets mit dem Ziel, bei der Figuration zu bleiben und »existenzielle Themen der Menschheit« zu bearbeiten.8 Die wenigen gänzlich abstrakten Positionen der Sammlung wurden in den 1970er Jahren unter Federführung von Rudolf Schönhöfer in die Sammlung aufgenommen. Die übrigen durch ihn ergänzten Werke sind mehrheitlich Druckgrafiken der 1960er und 1970er Jahre, die dem Neuen oder Phantastischen Realismus zugeordnet werden können – ihrerseits ebenfalls Gegenpole zu den abstrakten Richtungen wie Informel und Tachismus. Was hat ein Blumenstillleben von Hans Purrmann mit einem abstrakten Rund Rupprecht Geigers gemeinsam? Diese Begegnung zweier Werke leitet das erste Ausstellungskapitel ein. Die Gegenüberstellung eröffnet gleichzeitig die Bandbreite der Sammlung zwischen Malerei und Grafik, Gegenständlichkeit und Abstraktion sowie alle in der Sammlung vertretenen Zwischen- und Grautöne. 4 Zur Genese der Sammlung sh. S. 8–21 dieser Publikation. 5 Maset, Pierangelo: »Kunst im Nationalsozialismus«, in: Faulstich, Werner (Hg.): Die Kultur der 30er und 40er Jahre, München 2009, S. 233–242, hier S. 234. 6 Vgl. Laade, Clea Catharina: Die Ausstellung »Das Menschenbild in unserer Zeit« und das erste Darmstädter Gespräch, Berlin 2016, S. 9. 7 Sh. hierzu die Ausführungen auf S. 19f. dieser Publikation. 8 Vgl. Laade 2016, S. 50. 9 Vgl. Rupprecht-Geiger-Gesellschaft Städtische Galerie im Lenbachhaus, München (Hg.): Rupprecht Geiger. Werkverzeichnis der Druckgrafik 1948–2007, München 2007.
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