Leseprobe

29 Heckel und seine Mitstreiter der Künstlergruppe »Brücke« machten sich diese Besonderheiten der Technik zu eigen und experimentierten unerschrocken mit deren Möglichkeiten. Dabei teilten sich Heckel und Kirchner 1907 einen Druckstein: »Wir besaßen anfänglich nur einen einzigen Lithostein, den wir von irgendeiner Druckerei bekommen hatten. Auf diesem Stein haben Kirchner und ich abwechselnd Versuche unternommen, bei denen [...] Dinge herauskamen, die vom üblichen Verfahren abwichen«, erinnerte sich Heckel an das energische Vorwärtsdrängen auf dem Gebiet der Lithografie. Entgegen der um 1900 üblichen herkömmlichen Druckgrafik, bei der Künstler ihre Lithografien zum Zwecke der verfeinerten Reproduktion bei einer professionellen Druckanstalt herstellen ließen, druckten Heckel und seine »Brücke«-­ Kollegen ihre Blätter von Beginn an selbst. Sie schufen Handabzüge in geringer Stückzahl, die aufgrund des manuellen Arbeitsprozesses unterschiedliche Druckbilder aufweisen und durchweg Unikat-Charakter besitzen. An die Stelle akkurater Druckergebnisse traten der expressive Ausdruckswille und das Ausloten neuer Wirkungsweisen. Da nach dem Druck der Stein für die Neubenutzung wieder abgeschliffen werden musste, konnte später nicht noch einmal nachgedruckt werden. Im Medium der Lithografie vermochte Heckel mit spontaner Bildsprache auf das direkte Seherlebnis zu reagieren, wenngleich die Grafik auf der Grundlage einer vor Ort geschaffenen Zeichnung entstand. So atmen die frühesten Arbeiten von 1907 vor allem seine Faszination für die ursprüngliche Landschaft im kleinen Fischer- und Badeort Dangast am Jadebusen bei Oldenburg, den er in diesem Sommer zusammen mit Karl Schmidt-Rottluff als Inspirationsquelle entdeckt hatte.2 Darstellungen von urigen Fischerköpfen, weiten Marsch- und Moorlandschaften sowie einsamen Gehöften prägen Heckels druckgrafische Bildschöpfungen aus Dangast. In Werken wie Bauernhof ist die besondere Atmosphäre dieser abgeschiedenen Naturregion mit lebendiger Frische eingefangen. Im knappen Bildausschnitt verdichtete und steigerte Heckel das Motiv mit dynamischem Gestus von Lithokreide und Pinsel. Von dieser seltenen Lithografie sind bisher nur drei Exemplare bekannt.3 2 Vgl. auch Ewald Gäßler, »Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckels Anfänge in Dangast und ihre Beziehung zur Oldenburger Kulturszene in den Jahren 1907 und 1908«, in: 100 Jahre Künstlerort Dangast. Karl Schmidt-­ Rottluff, Erich Heckel, Franz Radziwill, Ausst.-Kat. Dangast, Franz Radziwill Haus 2.9.2007–6.1.2008, hrsg. v. der Franz Radziwill Gesellschaft e.V., Oldenburg 2007, S.10–22. 3 Wie Anm.1, Nr.230 L. Neben der Sammlung Jess befinden sich Abzüge im Museum Folkwang Essen und in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe.

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