Leseprobe

Aquarelle und Druckgrafik aus der Sammlung Jess Schenkung Jürgen Brinkmann Erich Heckel

SANDSTEIN Herausgegeben von Florence Thurmes und Kerstin Drechsel Aquarelle und Druckgrafik aus der Sammlung Jess Schenkung Jürgen Brinkmann Erich Heckel

5 6 Vorwort Florence Thurmes und Kerstin Drechsel 12 Wolfgang Jess Ein kunstsinniger Verleger Anette Kindler und Johanna Gerling Katalog 22 Schenkung Jürgen Brinkmann Bildkommentare von Andreas Gabelmann 136 Schenkung Katharina Coupland Bildkommentare von Andreas Gabelmann 156 Biografie 158 Anmerkungen und Abkürzungen 159 Bildnachweis 160 Impressum Inhalt

Wolfgang Jess Ein kunstsinniger Verleger

13 »Ein Mann mit feiner Witterung und bibliomaner Verliebtheit«1 und »dem Sinn für wahrhaftige und echte Werte in Kunst und Dichtung«,2 so beschrieben Zeitgenossen den Dresdner Verleger Wolfgang Jess. Er spielt für die von Jürgen Brinkmann an die Kunstsammlungen Chemnitz übereigneten Werke von Erich Heckel eine wesentliche Rolle, denn bis auf drei Blätter gehörten eben jene Werke ehemals zur Sammlung von Jess. Brinkmann hat diese Werke direkt von der Familie Jess und ihrem Freundeskreis erworben oder von der Ehefrau des Verlegers Marianne Jess und der Tochter Dr. Ina-Gerta Jess geschenkt bekommen. Einen großen Teil erhielt er schließlich aus dem Nachlass von Dr. Ina-Gerta Jess. Von den Angehörigen hat er überdies erfahren, dass Wolfgang Jess Grafiken über die Kunsthütte zu Chemnitz erstanden hat.So gab Marianne Jess am 20.September 1991 in einem Brief über die Herkunft von zwei Heckel-Blättern Auskunft, die Brinkmanns Schwiegervater zuvor als Geschenk erhalten hatte: »Wolfgang hat sie im Jahr 1931 anlässlich einer der ersten Ausstellungen von E. Heckel in der ›Kunsthütte‹ in Chemnitz bei dem ihm gut bekannten Direktor Weigand erworben. Wolfgang kaufte damals schon sehr frühe Radierungen und Lithographien aus den Jahren 1906–1920 von E. Heckel, weil er seine Bedeutung als ›spiritus rector‹ der ›Dresdner Brücke-Maler‹ erkannte.«3 Wer war also Wolfgang Jess? 1885 wurde er in Hannover geboren. Nach dem Abitur zog es ihn nach Leipzig, wo sein Vater Senatspräsident im Reichsgericht war. Dort absolvierte er eine Buchhandelslehre in der Hinrich’schen Buchhandlung. Nach einem Philosophiestudium in Lausanne und Genf arbeitete er in Berlin in der Grote’schen Verlagsbuchhandlung sowie als Volontär bei der Times in London und München, wo er Einblick in das Verlagswesen erhielt. Einen ersten Einschnitt in die bis dahin so geradlinige Karriere bildete der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in dem Jess ab 1914 als Soldat diente.4 Nach Ende des Krieges verband er seine Passion für Bücher und für Kunst mit der Gründung eines eigenen Verlags. Im März 1920 erwarb er in der Dresdner Altstadt die Gerhard Küthmann Verlagsbuchhandlung, deren Spezialisierung bereits auf Kunst und Architektur gelegen hatte. Jess führte diese Bestrebungen fort und gab im neuen Verlag unter seinem eigenen Namen ebenfalls Publikationen zur Kunst- und Kulturgeschichte heraus.5 Trotz aller Aufbruchsstimmung, die vor allem die Anfangszeit der Weimarer Republik mit sich brachte, erschwerte die wachsende Inflation das Geschäft des jungen Unternehmens. Nichtsdestotrotz stabilisierte sich der Verlag in dieser Zeit, indem Jess das umfangreiche Verlagsprogramm seines Vorgängers wieder aufnahm und zu neuem Leben erweckte. So erschienen in den ersten Jahren Neuauflagen einiger Titel zur Kunstgeschichte wie Meißner Porzellan,seine Geschichte und künstlerische Entwicklung von Willy Doenges (1921), Geschichte des japanischen Farbholzschnittes von Woldemar von Seidlitz (1921 und 1923) sowie Die Primitiven des Japanholzschnittes von Julius Kurth (1922). Nach und nach entwickelte der Verlag sein eigenes Programm. Der Erfolg kam nicht zuletzt auch durch die Zusammenarbeit mit dem Gestalter und Drucker Jakob Hegner (1882–1962), ebenfalls Inhaber eines eigenen Verlags, und dem Buchbinder Peter A. Demeter (1875–1939) zustande. Beide waren im Hellerauer Verlag tätig und für die anspruchsvolle künstlerische Galtung ihrer Publikationen bekannt. In dieser Konstellation legten die von Fritz Schillermann zusammengetragenen und heraus1 Fritz Diettrich, Im glücklichen Dresden, Berlin 1963, S.145. 2 Hans Krey, »Wege zwischen den Zeiten. Eine Rückschau auf fünfunddreißig Jahre«, in: Jahrbuch zur Pflege der Künste, 4.Folge, hrsg. v. Hans Krey, Dresden 1956, S.203–226, hier S.212. 3 Marianne Jess, Brief vom 20.9.1991, Privatbesitz. Anette Kindler und Johanna Gerling 4 Krey 1956 (wie Anm.2), S.204; vgl. auch Jens Wonneberger, »Bibliomane Verliebtheit und Sinn für das Neue, Wolfgang Jess und sein Verlag«, in: Dresdner Hefte, 21 (2003), 4, S.73–78, hier S.73. 5 Krey 1956 (wie Anm.2), S.204; vgl. auch Künstler am Dresdner Elbhang, hrsg. v. Ortsverein Loschwitz-Wachwitz e.V., Bd.2, Dresden 2007, S.210; Christoph Linke, »Die verschwundenen Verlage der SBZ/DDR, Teil 2: Sachbuchverlage«, in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie, 230 (2018), S.56–67, hier S.61.

14 gebrachten historischen Landschaftsschilderungen des Kunsthistorikers Ferdinand Gregorovius, Wanderjahre in Italien (1925), den Grundstein für die Kooperation. Bereits kurze Zeit danach erschienen der zweite Band, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (1926), sowie der dritte Band, Athen und Athenais (1927). Das Besondere dabei? Die jeweils etwa 1 000 Seiten umfassenden Bücher wurden als handliche Dünndruckausgaben produziert, die eine qualitätvolle Herstellung voraussetzten und damit in der typografischen Gestaltung und dem ästhetischen Erscheinungsbild Aufmerksamkeit erlangten. Jess’ Leidenschaft für Kunst wird nicht nur durch das bereits von Anfang an auf kunst- und kulturgeschichtliche Themen ausgerichtete Programm seines Verlags sichtbar. Er hatte überdies vielfältige Kontakte zur Dresdner Kunstszene. So wundert es nicht, dass es mehrere künstlerische Bildnisse von ihm gibt. Neben einer Bronzeplastik von Hermann Alfred Raddatz mit dem Kopf des Verlegers (Abb.1) und einem kleinen Ölgemälde unbekannter Urheberschaft (Abb.4), beide ehemals im Besitz des Verlags, existiert im Bereich der Druckgrafik eine weitere bildliche Darstellung des Buchproduzenten (Abb.2). Diese befindet sich im Bestand der Grafischen Sammlung der Kunstsammlungen Chemnitz.6 Die 1924 entstandene Kaltnadelradierung von Bernhard Kretzschmar wurde 1929 zusammen mit zehn weiteren Grafiken vom Künstler durch die Städtische Kunstsammlung erworben. Das signierte und datierte Blatt ist als erstes Exemplar einer sehr kleinen Auflage von zehn Drucken gekennzeichnet. Links unter der Darstellung ist es mit Bleistift als »Herr J.« betitelt. Im Museum wurde es dann als Bildnis Jess inventarisiert. Im grafischen Werk des 1889 in Döbeln geborenen und seit 1916 in Dresden-Gostritz lebenden Künstlers spielt das Porträt eine große Rolle, darunter viele Darstellungen 6 Bernhard Kretzschmar, Bildnis Jess, 1924, Kaltnadel, 28 × 25 cm, Inv.-Nr. 29 – 36. 1 Hermann Raddatz, Wolfgang Jess, 1938/39, Bronze, 27 × 17 × 22 cm, Leihgabe Jürgen Brinkmann

15 von Freund:innen, Bekannten und Persönlichkeiten des Dresdner Kulturbetriebs, so etwa der Lyriker Kurt Benndorf (1920), der später auch bei Jess veröffentlichte, sein Lehrer, der Maler Otto Gußmann (1925), und der Direktor der Städtischen Sammlungen, Paul Ferdinand Schmidt (1920). Das Porträt von Jess hat Kretzschmar in der vom Künstler bevorzugten grafischen Technik der Kaltnadel gefertigt, die sich ganz im Stil der Neuen Sachlichkeit durch eine klare Linienführung auszeichnet. Der Verleger ist in einer nachdenklichen Pose widergegeben: Die rechte Hand, schlank gezeichnet und mit Siegelring geschmückt, stützt den Kopf. Mit offenen, klaren Augen scheint der Dargestellte in einer anderen, geistigen Welt versunken und wird so als sensibler und kunstsinniger Mensch gezeigt. Dieses Blatt ist insofern eine Rarität, da die in kleiner Auflage gedruckte Radierung weder im Werkverzeichnis der Druckgrafik Kretzschmars7 noch in anderen Publikationen verzeichnet ist und es sich hier um das bisher einzige noch bekannte Exemplar des Drucks handelt. Auch Wolfgang Jess selbst war Sammler moderner Grafik. So dürfte ihm nicht entgangen sein, dass Werke des von ihm geschätzten, nun in Berlin lebenden Künstlers Erich Heckel in den 1920er Jahren regelmäßig in Ausstellungen des Kunstvereins der sächsischen Industriestadt Chemnitz präsent waren und außerdem erworben werden konnten. Zum Beispiel fand in der Kunsthütte im Januar 1921 eine umfangreiche Einzelausstellung Heckels mit fast 100 grafischen Blättern statt, in der November-Ausstellung 1922 war er mit 28 Grafiken vertreten, in der ersten Sommer-Ausstellung 1923 mit sieben Aquarellen, in der Januar-Ausstellung 1923 mit 18 grafischen Blättern und der zweiten Sommer-Ausstellung 1924 wieder mit 26 Grafiken.8 7 Gudrun Schmidt, Bernhard Kretzschmar. Werkverzeichnis der Druckgraphik 1914 bis 1969, hrsg. v. Klaus Werner mit einer Einführung von Fritz Löffler, Berlin 1981. 2 Bernhard Kretzschmar, Bildnis Jess, 1924, Radierung, 28 × 25 cm, Kunstsammlungen Chemnitz 8 Kunstsammlungen Chemnitz, Archiv (KSChA), Ausstellungs-Buch der Kunsthütte zu Chemnitz, 1919–1925; 1925– 1927. Die Ausstellungsbücher der Jahre 1928–1932 sind nicht mehr vorhanden.

16 Welche Spuren der Beziehung des Dresdner Verlegers zum Chemnitzer Kunstverein Kunsthütte, der Städtischen Kunstsammlung oder zum damals amtierenden Direktor und Ausstellungsleiter der Kunsthütte Friedrich Schreiber-Weigand lassen sich außerdem noch finden? In den Ausstellungsverzeichnissen der Kunsthütte Chemnitz ist neben Eingang und Ausgang der ausgestellten Werke auch dokumentiert, was aus der Ausstellung für die Sammlung oder die Verlosung der Kunsthütte angekauft oder anderweitig verkauft wurde. Nicht immer sind die Käufer:innen namentlich vermerkt. So erfahren wir, dass aus der großen Grafik-Ausstellung Erich Heckels im Januar 1921 vier Holzschnitte für den Bestand und drei für die Verlosung der Kunsthütte erworben wurden. Mehrere Blätter wurden an private Interessent:innen verkauft, wobei die Käufer:innen hier nicht genannt werden; von den Holzschnitten Beim Vorlesen (1914) und dem Selbstporträt des Künstlers (Bildnis E H, 1917) wurden sogar jeweils sieben beziehungsweise neun Exemplare veräußert.9 9 KSChA, Ausstellungs-Buch der Kunsthütte zu Chemnitz, 1919–1925, S.123–128. 3 Else Seifert, [Marianne] Jess, aus der Serie Loschwitzer Porträts, 1950/54, Fotografie, Deutsche Fotothek

17 Ankäufe durch Jess lassen sich für die November-Ausstellung 1922 nachweisen. Neben Gemälden und grafischen Arbeiten von Elisabeth Ahnert, Karl Hofer und Wilhelm Dressler wurden dort auch 14 Holzschnitte, 16 Radierungen und acht Lithografien von Heckel gezeigt. Jess erwarb sechs Grafiken des Künstlers (Bildnis A. N., 1919, Holzschnitt; Reckackt, 1919, Radierung; Drei Mädchen am Strand, 1912, Radierung; Bootsbauer, 1914, Radierung; Parksee, 1914, Radierung; Seiltänzer, 1920, Radierung)10 und außerdem eine Zeichnung von Karl Hofer mit dem Titel Sitzende. Auch diesem Künstler war er verbunden: Karl Hofer schuf für seinen Teil der Ausstellung eine Einladungskarte mit einer Originallithografie,11 die sich zusammen mit Einladungen zu Hofer-Ausstellungen im Dresdner Graphischen Kabinett Erfurth im Nachlass von Jess befindet. Im gleichen Jahr ist der Dresdner Verleger als Käufer von zwei Holzschnitten mit Tiermotiven von Wilhelm Rudolph aus der Dezember-Ausstellung12 und im Februar 1924 für ein Aquarell von Otto Mueller13 notiert. Dank der Schenkung von Jürgen Brinkmann kehren nun zwei der vor über 100 Jahren in Chemnitz gekauften Radierungen, Reckackt und Drei Mädchen am Strand, zurück an diesen Ort. Dass Jess persönlich diese Ausstellungen in Chemnitz gesehen oder das Städtische Museum am Theaterplatz besucht hat, lässt sich leider nicht vollends belegen und kann nur vermutet werden.14 1931 fand in der Kunsthütte zu Chemnitz mit 100 Gemälden von 1906 bis 1930 die erste umfangreiche Retrospektive von Erich Heckel statt. Zeitgleich waren im Graphikkabinett grafische Arbeiten aus dem eigenen Bestand zu sehen.15 Durch den eingangs zitierten Brief der Witwe des Verlegers ist überliefert, dass Jess anlässlich dieser Präsentation in Chemnitz auch Heckel-Grafiken erworben hat. 10 Ebd. 11 Das für die Chemnitzer Sammlung vom Künstler angekaufte Exemplar der Einladungskarte zur Ausstellung in der Kunsthütte (Inv.-Nr.22–89) wurde 1937 im Rahmen der Aktion »Entartete Kunst« beschlagnahmt. 12 Wie Anm.9 13 Ebd. 14 Durchgesehen wurden die Gästebücher der Kunsthütte zu Chemnitz und der Städtischen Kunstsammlung sowie der Schriftverkehr im Museumsarchiv. Wolfgang Jess war nicht Mitglied der Kunsthütte und hat deshalb auch nicht an den Verlosungen teilgenommen. 15 Anja Richter, »Chemnitz, die geistige Wiege« Erich Heckels, in: Erich Heckel in den Kunstsammlungen Chemnitz, Ausst.-Kat. Chemnitz, Kunstsammlungen Chemnitz – Museum Gunzenhauser 17.1.– 17.4.2016, hrsg. v. Ingrid Mössinger und Anja Richter, Bielefeld, Berlin 2016, S. 10 – 29. 4 Unbekannt, Wolfgang Jess, undatiert, Öl auf Pappe, 46 × 30 cm, Leihgabe Jürgen Brinkmann

18 Eine weitere Kontaktaufnahme nach Chemnitz ist auf einem Postkartenvordruck des Wolfgang Jess Verlags notiert: Im Auftrag von Jess wandte sich der Künstler Karl Kröner am 6. Mai 1926 mit einer Bitte an den Chemnitzer Museumsdirektor Schreiber-Weigand: »Caro Don Federigo! Herr Jess fragt mich eben um die Anschrift von Herrn Goeritz, der die Sammlung von Corinth hat. Würdest du so freundlich sein und diese Herrn Jess mitteilen. Hoffentlich sehen wir uns bald. Heute herzliche Grüße und Dank voraus. Herzlichst dein Carlo.« Der Verleger selbst fügte einen kurzen Gruß hinzu. Sein Wunsch wurde noch am selben Tag erfüllt.16 Kröner, der aus Zschopau stammte, hatte vor seinem Studium in Dresden eine Lehre als Textilzeichner in Chemnitz angetreten und besaß seit 1914 ein Atelier in Niederlößnitz bei Dresden. Mit dem Museumsdirektor verband ihn eine jahrzehntelange freundschaftliche Beziehung.17 Mehrfach hat Kröner in der Chemnitzer Kunsthütte ausgestellt, so waren dort im Jahr 1923 Aquarelle aus Italien von ihm zu sehen. Das Programm des Wolfgang Jess Verlags umfasste bald eine breite Aufstellung über die Kulturgeschichte mit vielen Facetten rund um Memoiren, Reiseliteratur, Dichtung und Geisteswissenschaften.18 In Zusammenarbeit mit Hegner entstand eine Vielzahl an Publikationen wie etwa der Zwinger-Führer von Hubert Georg Ermisch mit einem Vorwort von Cornelius Gurlitt (1926), der Katalog über die Graphische Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes im Rahmen der Jahresschau Deutscher Arbeit in Dresden 1927, die von Emil Schaeffer zusammengestellten Texte über Raphaels Sixtinische Madonna als Erlebnis der Nachwelt (1927) oder auch die von Ernst Kamnitzer und Gräfin Gertrud von Helmstatt herausgegebenen Fragmente von Novalis (1928). Es waren vor allem traditionsreiche Themen, die behandelt wurden. 1927 startete Jess den Versuch eines Dresdner Kunstbuches, 16 Wolfgang Jess Verlag an Friedrich Schreiber-Weigand, 6.5.1926, KSChA, Briefwechsel IJ-089 und Friedrich Schreiber Weigand an Wolfgang Jess, 6.5.1926, KSChA, Briefwechsel IJ-088. 17 In Briefen nennt er ihn liebevollspaßhaft »Federigo« und unterzeichnet selbst mit »Carlo«, in Anspielung an seine Reisen und die fortwährende Sehnsucht nach Italien. Besprochen wurden u. a. besuchte Ausstellungen, aber auch Informationen und Urteile über Künstler:innen in Dresden sowie Empfehlungen für Ankäufe mitgeteilt. Karl Kröner an Friedrich Schreiber-Weigand, KSChA, Autographen A 211–A 214. 18 Lothar Dunsch, »Wolfgang Jess und sein Verlag«, in: Hellerau-Almanach, 1 (1994), S.43–64, hier S.46. 5 Unbekannt, Porträt Wolfgang Jess, undatiert, Fotografie, Leihgabe Jürgen Brinkmann

19 19 Friedrich Schreiber-Weigand an Wolfgang Jess, 10.9.1927, KSChA, Briefwechsel IJ-097. Joos de Momper 1564– 1635, Ausst.-Kat. Chemnitz, Kunsthütte zu Chemnitz im Städtischen Museum 4. 9.– 2. 10. 1927, Chemnitz 1927. das Jahrbuch zur Förderung der Kunstpflege. Bereits im September 1927 übersandte er dem Direktor der Städtischen Kunstsammlung in Chemnitz aus dem aktuellen Verlagsprogramm den ersten Band. Das Jahrbuch erschien 1927 und 1928 jeweils mit einem Band, der von Jess selbst, zusammen mit Alexander Bertelsson, herausgegeben und bei Hegner gedruckt wurde. Allerdings blieb es bei diesen beiden Jahrgängen. Gut bebildert widmen sich die Beiträge der Architektur, Denkmalpflege, Kunst und Kulturgeschichte Dresdens in der Vergangenheit und Gegenwart. Auch weitergefasste kulturgeschichtliche Themen sind vertreten. So schreiben zum Beispiel Karl Großmann, der Direktor der städtischen Sammlungen, kurze Abrisse Aus der Geschichte alter Dresdner Firmen oder Alexander Bertelsson über Die künstlerische Reklame in Dresden. Tanz, Theater, Ausstellungen, Fotografie, Bau- und Wohnungspolitik werden ebenso behandelt. Unter der Rubrik »Dies und Jenes« werden Kunsthandlungen und Kunstgewerbe der Stadt vorgestellt. In Chemnitz wurde der geschenkte Band mit dem handschriftlichen Vermerk auf dem Vorsatzpapier »Geschenk des Herrn Wolfgang Jess, Dresden. Herbst 1927.« in den Bestand der Museumsbibliothek eingegliedert (Abb.6).Im Gegenzug schickte Schreiber-Weigand dem Verlagsbuchhändler den Katalog der aktuellen Ausstellung mit Werken des Antwerpener Meisters Joos de Momper. Nicht ohne Stolz fügte er in seinem Begleitschreiben hinzu: »Hoffentlich findet er Ihren Beifall, vor allem nach der drucktechnischen Seite, die Sie in diesem Falle ja besonders interessieren wird. Führt Sie der Weg in den nächsten Wochen nach Chemnitz, oder in seine Nähe, so hoffe ich, Sie bei uns begrüßen zu können. Die Ausstellung findet in kunstwissenschaftlichen Kreisen reges Interesse.«19 Das Dresdner Kunstbuch wurde von dem Museumsmann in Chemnitz wohl aufmerksam gelesen, besonders die Beiträge und ganzseitigen Anzeigen zu den Verlagspublikationen. Im Mai 1928 kaufte Schreiber-Weigand für die Bibliothek der Städtischen Kunstsammlung ein großes Bücherpaket von Jess an, wobei die Bezahlung der Rechnungen auf die Haushaltspläne 1927 und 1928 verteilt wurde. Über den Haushalt 1927 wurden der Ankauf der Schriften des Dresdner Romantikers Carl Gustav Carus, Neun Briefe über Landschaftsmalerei und Goethe, finanziert, ebenso die von Hermann Uhde-Bernays zusammengetragene und 1926 erschienene Sammlung Künstlerbriefe über Kunst. Bekenntnisse von Malern, Bildhauern und Architekten aus fünf Jahrhunderten (Abb. 7) – im Dresdner Kunstbuch als »Die Kunstbibel« beworben – und Adolf von Hildebrands Briefwechsel mit Conrad Fiedler. 6 Chemnitzer Erwerbungsnotiz im Dresdner Kunstbuch, Wolfgang Jess Verlag, Dresden 1927

Jürgen Brinkmann Schenkung Bildkommentare Andreas Gabelmann

24 1 Die Kleine 1905 Holzschnitt in Rot, 16 × 12 cm, 31,2 × 28,3 cm monogr. im Stock u.r.: H; sign. u.r.: EHeckel; bez. u.l.: Die Kleine Ebner/Gabelmann 25 H b.1; Dube H 42 Inv.-Nr. D 658 Noch vor Beginn seiner Malerei und vor Gründung der Künstlergruppe »Brücke« 1905 in Dresden markierte die Beschäftigung mit der Druckgrafik den Auftakt von Heckels künstlerischem Schaffen. Ab 1903 erschloss er sich im autodidaktischen Ringen mit den Techniken und Materialien die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten druckgrafischer Gestaltung. Hierbei beherrschte vor allem der Holzschnitt die Anfänge von Heckels umfangreichem grafischem Werk und blieb zeitlebens das bevorzugte Medium.1 Nach ersten, noch wenigen Blättern in den Jahren 1903 und 1904 setzte mit den Holzschnitten von 1905 die eigentliche vollgültige Werkentwicklung ein. Allein in diesem Jahr schuf Heckel knapp 70 Arbeiten. Intensiv widmete er sich im Kreis seiner Weggefährten Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl den formalen Eigenheiten des elementarsten aller Druckmittel, dessen schroffe Härte des Naturmaterials zur Vereinfachung der Form und Steigerung der Bildaussage prädestiniert war. Wie in keiner anderen Drucktechnik entdeckte Heckel im Holzschnitt ein ideales Terrain, das seinem künstlerischen Temperament und energischen Ausdruckswillen entsprach. Dieser kleinformatige Holzschnitt offenbart eine noch vergleichsweise dekorativflächige Stilisierung des Motivs, wie Heckel sie bei japanischen Farbholzschnitten in den damaligen Kunstzeitschriften entdeckte und schätzte. Formatfüllend und konturbetont konzentrierte er sich auf wenige, grob vereinfachte Merkmale des kindlichen Gesichtes. Die Bildwelten der ersten Jahre zeigen neben Landschaften überwiegend Darstellungen der menschlichen Figur sowie Köpfe. Das Atelier der »Brücke«-Maler lag im Arbeiterviertel der Dresdner Vorstadt, aus diesem Milieu dürfte auch das Mädchen stammen. Von Beginn an experimentierte Heckel mit verschiedenen Druck- und Farbvarianten. So existieren vom vorliegenden Blatt Abzüge sowohl in Schwarz als auch in Rot, wobei letztere zahlenmäßig überwiegen. Generell machte Heckel in den Anfangsjahren nur wenige Handabzüge von einem Motiv, die sich jeweils im Druckbild unterscheiden und damit Unikat-Charakter besitzen. Von diesem Holzschnitt sind bisher acht Drucke bekannt, zwei davon in Schwarz befinden sich in den Chemnitzer Kunstsammlungen. Ein Exemplar trägt die Bezeichnung »1.Druck, Nov. 05«. Das rote, undatierte Exemplar aus der Sammlung Jess bedeutet somit eine wertvolle Bereicherung der Chemnitzer Heckel-Bestände. 1 Vgl. Andreas Gabelmann, »›Das kam einfach aus dem Material ...‹, Zum druckgraphischen Werk von 1903 bis 1933«, in: Renate Ebner, Andreas Gabelmann, Erich Heckel, Werkverzeichnis der Druckgraphik, München 2021, Bd.3, S.7–25. Mit fast 500 Arbeiten bildet der Holzschnitt den Schwerpunkt in Heckels insgesamt rund 1 100 Arbeiten umfassendem druckgrafischem Œuvre, gefolgt von fast 400 Lithografien und knapp 200 Radierungen.

26 2 Bauernhof 1907 Lithografie (Kreide, Pinsel) 27,5 × 37 cm, 36,5 × 44 cm sign. und dat. u.r.: Erich Heckel 07 [Zahl 8 mit 7 überschrieben]; bez. u.l.: 6 Bauernhof Ebner/Gabelmann 230 L; Dube L 54 Inv.-Nr. D 660 Nachdem die Anfänge von Heckels druckgrafischem Schaffen vom Holzschnitt dominiert wurden, trat 1906 die Technik der Radierung und 1907 die Beschäftigung mit der Lithografie hinzu. Mit enormem Schaffenseifer widmete sich Heckel dem Verfahren des Steindruckes und fertigte allein im ersten Jahr über 60 Werke, sodass die Lithografien zu jenem Zeitpunkt den Holzschnitt an Zahl übertrafen.1 Bei der aufwändigen und komplexen Drucktechnik wird die Motivzeichnung mit fetthaltiger Farbe auf den zuvor mit Wasser und Säure präparierten Stein aufgebracht. Im Unterschied zum Holzschnitt ermöglicht die Lithografie ein rasches und leichtgängiges, dem Zeichnerischen und Malerischen verwandtes Erfassen des Motivs, das mit schwungvollem Duktus den unmittelbaren Ausdruck einer Beobachtung transportieren kann. 1 Vgl. Renate Ebner, Andreas Gabelmann, Erich Heckel, Werkverzeichnis der Druckgraphik, Bd.1, München 2021, S. 112 –149.

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29 Heckel und seine Mitstreiter der Künstlergruppe »Brücke« machten sich diese Besonderheiten der Technik zu eigen und experimentierten unerschrocken mit deren Möglichkeiten. Dabei teilten sich Heckel und Kirchner 1907 einen Druckstein: »Wir besaßen anfänglich nur einen einzigen Lithostein, den wir von irgendeiner Druckerei bekommen hatten. Auf diesem Stein haben Kirchner und ich abwechselnd Versuche unternommen, bei denen [...] Dinge herauskamen, die vom üblichen Verfahren abwichen«, erinnerte sich Heckel an das energische Vorwärtsdrängen auf dem Gebiet der Lithografie. Entgegen der um 1900 üblichen herkömmlichen Druckgrafik, bei der Künstler ihre Lithografien zum Zwecke der verfeinerten Reproduktion bei einer professionellen Druckanstalt herstellen ließen, druckten Heckel und seine »Brücke«-­ Kollegen ihre Blätter von Beginn an selbst. Sie schufen Handabzüge in geringer Stückzahl, die aufgrund des manuellen Arbeitsprozesses unterschiedliche Druckbilder aufweisen und durchweg Unikat-Charakter besitzen. An die Stelle akkurater Druckergebnisse traten der expressive Ausdruckswille und das Ausloten neuer Wirkungsweisen. Da nach dem Druck der Stein für die Neubenutzung wieder abgeschliffen werden musste, konnte später nicht noch einmal nachgedruckt werden. Im Medium der Lithografie vermochte Heckel mit spontaner Bildsprache auf das direkte Seherlebnis zu reagieren, wenngleich die Grafik auf der Grundlage einer vor Ort geschaffenen Zeichnung entstand. So atmen die frühesten Arbeiten von 1907 vor allem seine Faszination für die ursprüngliche Landschaft im kleinen Fischer- und Badeort Dangast am Jadebusen bei Oldenburg, den er in diesem Sommer zusammen mit Karl Schmidt-Rottluff als Inspirationsquelle entdeckt hatte.2 Darstellungen von urigen Fischerköpfen, weiten Marsch- und Moorlandschaften sowie einsamen Gehöften prägen Heckels druckgrafische Bildschöpfungen aus Dangast. In Werken wie Bauernhof ist die besondere Atmosphäre dieser abgeschiedenen Naturregion mit lebendiger Frische eingefangen. Im knappen Bildausschnitt verdichtete und steigerte Heckel das Motiv mit dynamischem Gestus von Lithokreide und Pinsel. Von dieser seltenen Lithografie sind bisher nur drei Exemplare bekannt.3 2 Vgl. auch Ewald Gäßler, »Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckels Anfänge in Dangast und ihre Beziehung zur Oldenburger Kulturszene in den Jahren 1907 und 1908«, in: 100 Jahre Künstlerort Dangast. Karl Schmidt-­ Rottluff, Erich Heckel, Franz Radziwill, Ausst.-Kat. Dangast, Franz Radziwill Haus 2.9.2007–6.1.2008, hrsg. v. der Franz Radziwill Gesellschaft e.V., Oldenburg 2007, S.10–22. 3 Wie Anm.1, Nr.230 L. Neben der Sammlung Jess befinden sich Abzüge im Museum Folkwang Essen und in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe.

31 3 Stehende 1907 [Weiblicher Akt] Radierung, 31,9 × 19,7 cm, 43,7 × 26 cm monogr. in der Platte u.l.: H; sign. und dat. u.r.: Erich Heckel 19[nachträglich]08 [sic] Ebner/Gabelmann 248 R; Dube R 25 Inv.-Nr. D 659

79 20 Frühlingslandschaft 1913 Holzschnitt, 25,5 × 21 cm, 38 × 31 cm sign. und dat. u.r.: EHeckel 13; bez. u.l.: Frühlingslandschaft | Holzschnitt Ebner/Gabelmann 595 H A; Dube H 255 A Inv.-Nr. D 710 Im Juni 1913 hatte Erich Heckel den kleinen Ort Osterholz an der Flensburger Förde für sich entdeckt. Das Erlebnis der abgeschiedenen und ursprünglichen Landschaft an der Ostsee inspirierte ihn gleich bei seinem ersten Aufenthalt zu einigen Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen und Druckgrafiken. Im Holzschnitt Frühlingslandschaft reagierte er mit dynamischer Expressivität auf die Naturbeobachtung. Von erhöhtem Standort gleitet der Blick über die Küstenvegetation aus Hecken, Büschen und Bäumen auf die weite Meeresfläche der Bucht, über der sich ein dramatischer Wolkenhimmel mit gleißenden Sonnenstrahlen spannt. Scharfkantig gebrochene Konturlinien, splittrig gezackte Flächen und schroffe Hell-Dunkel-Kontraste versetzen die Szenerie in rhythmische Bewegung. Eine große Unruhe durchpulst die Kräfte der rauen Natur am Meer – das Einwirken von Luft und Licht, Wind und Wolken auf die Wahrnehmung der Landschaft wird für die Betrachtenden direkt erlebbar. Mit dieser energiegeladenen Übersteigerung des Naturvorbilds lieferte Heckel ein herausragendes Beispiel für den expressionistischen Holzschnitt-Stil der späten »Brücke«-Jahre, in dem sich die Formen extrem verdichteten und eine überaus spannungsvolle Atmosphäre erzeugen. Die Natur wandelt sich zum Spiegelbild innerer Empfindung. Ihre Schönheit, Macht und Großartigkeit kommen unmittelbar zum Ausdruck. Das Motiv dieser Druckgrafik von 1913 verarbeitete Heckel fünf Jahre später im Gemälde Frühling. Vermutlich noch während seines Sanitätsdienstes in Ostende entstanden, versinnbildlicht es die Erinnerung an die unbeschwerte Zeit in Osterholz und zugleich die Hoffnung, nach baldigem Frieden wieder dorthin zurückkehren zu können. Das in der Malerei noch stärker betonte Sehnsuchtssymbol der Sonne, die aus Wolken hervorbricht, steht für die Vision einer besseren Zukunft. Der Holzschnitt erschien im Januar 1918 in der expressionistischen Zeitschrift Das Kunstblatt – vermutlich im Zusammenhang mit dieser Auflage hatte sich Heckel wieder mit dem Motiv beschäftigt und die Leinwandkomposition geschaffen. Erich Heckel, Frühling, 1918 Öl und Tempera auf Leinwand, 91 × 92,5 cm Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie

80 21 Frau mit Blumen 1914 Aquarell über Bleistift, 50,8 × 33,8 cm sign. und dat. u.r.: Erich Heckel 14; bez. u.l.: – Frau mit Blumen – Inv.-Nr. Z 5931 Im gestreckten Bildformat erscheint die schlanke Gestalt von Heckels Lebensgefährtin Milda Frieda Georgi (1891–1982), die der Maler Ende 1910 kennengelernt hatte und die als Tänzerin unter dem Künstlernamen Sidi Riha auftrat. Spätestens mit ihrer Heirat 1915 etablierte sich Siddi als ihr Rufname. Über das gesamte folgende Schaffen hinweg blieb sie das bevorzugte, fast ausschließliche weibliche Modell und lieferte wesentliche Impulse für zahlreiche Bildnisse und Figurenszenen.1 Nahsichtig in die vorderste Bildebene gerückt und die gesamte Bildhöhe einnehmend, zeigt Heckel seine Partnerin im hellen Kleid mit langem, blauem Umhang und einem Bund Blumen in den Händen. Ihr Kopf ist mit ernstem Blick zur Seite geneigt, sie wirkt nachdenklich. Die räumliche Umgebung bleibt sparsam angedeutet: Hinterfangen wird die Person von einer blauen Wandfläche oder Türöffnung, zur Linken steigen Treppenstufen steil empor, zur Rechten nehmen skizzenhaft gesetzte horizontale Pinselstriche den Rhythmus der Stufen auf. Hierbei handelt es sich vermutlich um einen bemalten Vorhang, der wohl zur Raumausstattung von Heckels Dachbodenatelier in Berlin-Steglitz gehörte, das er im Dezember 1911 bezogen hatte. Über einen dortigen Besuch im Jahr 1914 1 Vgl. zur Person von Siddi Heckel auch Hans Geissler, »Siddi Heckel«, in: Frauen in Kunst und Leben der »Brücke«, Ausst.-Kat. Schleswig, Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf 10.9.– 5.11.2000, hrsg. v. Hermann Gerlinger und Herwig Guratzsch, Schleswig 2000, S.37–60.

101 28 Mann in der Ebene 1917 Holzschnitt, 38,3 × 27,1 cm, 59,4 × 44,2 cm sign. und dat. u.r.: Erich Heckel 1917; bez. u.l.: – Mann in der Ebene – | Holzschnitt Ebner/Gabelmann 715 H II.A; Dube H 305 Inv.-Nr. D 680 Tief haben sich die Erlebnisse des Krieges in das Gesicht der dargestellten Person gegraben. Bestürzung und Verzweiflung angesichts von Tod, Leid und Zerstörung sprechen aus der Figur. Die Hände ebenso schützend wie fassungslos an die Stirn gehoben, steht die einsame Gestalt in weiter Landschaft, überwölbt von einem unruhig zuckenden Wolkenhimmel. In diesem Holzschnitt hat Erich Heckel ein schonungsloses Selbstbildnis geschaffen, in dem sich markant und symbolhaft die Eindrücke und Ereignisse des Ersten Weltkriegs verdichten. Als Sanitäter im belgischen Ostende blieb Heckel zwar vom mörderischen Frontkampf in den Schützengräben verschont, erlebte jedoch unmittelbar die fürchterlichen Auswirkungen des Krieges. Spürbar werden in der Figur und ihrer Umgebung die enorme Anspannung und die Bedrohlichkeit der Situation, in der sich Heckel während seines Einsatzes in Flandern befand.1 Die expressive, von splittrigzerfaserten Schnittspuren wie aufgerissen wirkende Formensprache sowie die Betonung von Gesicht und Händen lassen die Betrachtenden emotional teilhaben am inneren Kampf, an den seelischen Erschütterungen und den massiven Bedrängnissen von außen, denen Heckel mit zunehmender Dauer des Krieges 1 Vgl. dazu ausführlich Kriegszeit. Erich Heckel 1914–1918, Ausst.-Kat. Halle (Saale), Kunstmuseum Moritzburg 14. 8. 2014 – 18. 1. 2015, hrsg. v. Hermann Gerlinger und Thomas Bauer-Friedrich, Dresden 2014.

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103 ausgesetzt war. Übernatürliche Lichtphänomene und scharfkantig facettierte Wolkenfragmente versetzen das Ganze in vibrierende Dynamik und evozieren eine nervös überreizte, spannungsgeladene Atmosphäre. Die Vorstellung einer apokalyptischen Endzeitstimmung schwingt mit. Schutzlos den übermächtigen Schrecken des Krieges ausgeliefert, scheint die Person inmitten eines imaginären Sturms zu verharren. In dem Holzschnitt gelang Heckel ein eindringliches Zeugnis psychischer und physischer Gewalt in einer existenziellen Grenzsituation. Die ganze Brutalität des Krieges vermittelt sich dem Betrachtenden nur indirekt beim Blick in die zerfurchte Physiognomie des Künstlers und die verheerte Ödnis der Naturkulisse. Angesichts der zugespitzten Bildaussage mutet der Titel Mann in der Ebene überraschend lapidar und nüchtern an, ist jedoch charakteristisch für Heckels Bildbezeichnungen, die stets auf das Allgemeingültige und Elementare abzielten. Und so offenbart sich in dem Bildnis das ergreifende Zeichen heftiger Belastung und intensiver innerer Verarbeitung des Erlebten im Sinne einer künstlerischen Selbstbefragung. Figur und Natur spiegeln die Ereignisse, Heckel reflektierte das Geschehen und schien dies zugleich mit einer von Erschöpfung und Resignation, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit getragenen Innenschau auszufechten. Vier Jahre nach seiner Entstehung erfuhr der Holzschnitt durch Heckels Grafikhändler I. B. Neumann in Berlin eine größere Verbreitung: Das Selbstbildnis erschien 1921 als Reproduktion in der Zeitschrift Der Anbruch – Flugblätter aus der Zeit,2 und im gleichen Jahr gab Neumann Heckels Grafikmappe mit elf Holzschnitten der Jahre 1912 bis 1919 heraus, für die der Künstler dieses für ihn bedeutsame Blatt auswählte.3 2 Abgebildet in Heft Nr.3, 4.Jg., Berlin 1921. 3 Vgl. Renate Ebner, Andreas Gabelmann, Erich Heckel, Werkverzeichnis der Druckgraphik, Bd.2, München 2021, S. 132 f.

Katharina Coupland Bildkommentare Andreas Gabelmann Schenkung

137 2021 schenkte Katharina Coupland, geb. Geissler, die in den Vereinigten Staaten lebt, den Kunstsammlungen Chemnitz neun Aquarelle und drei Druckgrafiken von Erich Heckel. Sie stammen aus dem Erbe ihres Vaters Dr. Ernst Geissler. Für den Katalog verfasste sie mit der Unterstützung ihres Cousins Hans Geissler im April 2024 den folgenden Text. »Erich Heckel war eines von drei Geschwistern. Weder er noch sein Bruder Manfred hatten Kinder, aber seine Schwester Elsa und ihr Ehemann Johannes Geissler hatten acht. Eines davon war mein Vater Ernst, der 1915 geboren wurde und in Chemnitz aufwuchs. Er studierte Ingenieurwissenschaften und Physik und schloss sich dem Team von Raketenspezialisten an, das von Werner von Braun an der Heeresversuchsanstalt Peenemünde geführt wurde. Dort entwickelten sie Raketen für den Krieg. Nach Kriegsende wurden er, zusammen mit vielen anderen aus seinem Team, von den Amerikanern in die Vereinigten Staaten gebracht. Hier setzten sie zunächst ihre Militärforschungen fort, arbeiteten dann aber vor allem zu dem Fachbereich der Luftfahrt, wo sie Werner von Brauns Vision verwirklichten, Raketen zu bauen, die in den Weltraum vordringen würden. Sie erreichten dieses Ziel im Rahmen des ApolloProgramms der NASA (National Aeronautics and Space Administration), das von Präsident John Kennedy gefördert wurde, und brachten den ersten Menschen auf den Mond. Im Verlauf seiner Karriere promovierte er in theoretischer Physik und wurde schließlich Direktor des Aeroballistics Laboratory (später umbenannt in AeroAstrodynamics Laboratory) am Marshall Space Flight Center in Huntsville, Alabama. Die familiäre Nähe zu Erich Heckel entstand schon in der Kindheit. Zusammen mit seiner Frau Siddi nahm er immer wieder eines oder zwei von Elsas Kindern in den Ferien mit nach Osterholz an der Flensburger Förde, wo sie ein Bauernhaus besaßen und alljährlich Sommer und Herbst verbrachten. Im Jahr 1927 waren es Ernst und eine seiner Schwestern, die sie dorthin begleiteten. Von Amerika aus besuchte mein Vater immer wieder Familienangehörige in Deutschland, wobei sein Hauptziel stets Hemmenhofen am Bodensee war. Erich Heckel schätzte offenbar diesen Neffen ganz besonders, der sich dort jedes Mal ein paar seiner Arbeiten aussuchen und nach Hause mitnehmen durfte. Bis zum Ende seines Lebens hatte er auf diese Weise über 100 Werke, vor allem Aquarelle und Druckgrafiken, erworben. – Mein Vater verspürte eine große Affinität zur Natur und zur Kunst. Besonders fesselten ihn die Landschaften, die schon seit den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ein gewichtiger Bestandteil von Heckels malerischem Schaffen geworden waren. Ich erinnere mich, wie mein Vater, wenn er nach einem langen Arbeitstag nach Hause kam, nachdem er zu Abend gegessen hatte, in unserem Wohnzimmer eine Platte mit klassischer Musik auflegte und Heckels Bilder betrachtete, die ihm sehr lieb waren. Ernst Geissler starb im Jahr 1989. Meine Schwester und ich hatten das Glück, das Erbe seiner Heckel-Sammlung bei uns bewahren zu können. Um das Werk Heckels zu würdigen, wollte ich Arbeiten von ihm der Öffentlichkeit zugänglich machen und sie einem Museum schenken. Die Wahl fiel auf die Kunstsammlungen Chemnitz, da die Familie Geissler in dieser Stadt gelebt und Erich Heckel hier so viel Zeit verbracht hat.« Katharina Coupland, geb. Geissler, USA, April 2024 Dr. Ernst Geissler

138 43 Blick auf die Förde 1919 Aquarell, 42 × 57 cm sign. und dat. u. r.: Erich Heckel 19 Inv.-Nr. Z 5862

139 44 Frauengruppe 1929 Aquarell, Kreide, 50,2 × 68,4 cm sign., dat. und bez. u. r.: Erich Heckel 29 | Frauengruppe Inv.-Nr. Z 5864

140 45 Meer bei Bajonne 1929 Aquarell, weiße Deckfarbe 50,3 × 68 cm sign., dat. und bez. u. r.: Heckel 29 | Meer bei Bajonne Inv.-Nr. Z 5867 Eine rege Reisetätigkeit prägte Heckels Leben und Schaffen während der 1920er und frühen 1930er Jahre. Ausgedehnte Studienreisen führten ihn durch ganz Europa, von Südschweden bis Sizilien, von den Pyrenäen bis in die Graubündner Alpen.1 Als Gegenpol zu seinem Atelier in Berlin und dem mittlerweile festen Sommerdomizil in Osterholz suchte der Maler neue Eindrücke und Erfahrungen in fremden Ländern und Städten. In den Sommern 1926 und 1929 führten ihn zwei Reisen nach Südfrankreich. Von August bis Ende Oktober 1929 hielten sich Heckel und seine Frau Siddi in der Provence, den Pyrenäen, Aquitanien und an der südlichen Atlantikküste auf. Wie schon bei der ersten Frankreichreise lieferte die Begegnung mit den unterschiedlichen Landschaftsregionen und Städten Inspiration für zahlreiche Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen. Im großformatigen Blatt Meer bei Bajonne fasste Heckel mit Aquarell- und Gouachefarben die Sicht auf die Meeresbucht von Bajonne bei Biarritz ins Blickfeld. Dargestellt ist die von mächtigen seitlichen Kaimauern flankierte Mündung des Flusses Nive in den Atlantik. Es herrscht stürmisches Wetter. Hohe Wellen schlagen an die Befestigung, Gischt spritzt auf, ein dunkler Himmel mit dramatisch zerrissenen Wolken spannt sich über das bewegte Meer. Die kleine Staffageszene eines pflügenden Bauern im linken Vordergrund verdeutlicht die Größe und Macht der herrschenden Naturkräfte des Atlantiks. Im Verlauf der 1920er Jahre hatte Heckels Malerei einen Stilwandel erfahren. Die impulsive Expressivität der 1910er Jahre wich einer abgemilderten, eher sachlich orientierten Schilderung des Gesehenen. Gleichwohl atmet die ausdrucksgeladene Darstellung des aufgewühlten Meeres mit ihrem raschen und zupackenden Pinselduktus und der kontrastreichen Farbigkeit noch den Geist des stürmisch drängenden »Brücke«- Expressionismus, mit dem Heckel um 1910 Kunstgeschichte geschrieben hatte. Eine verstärkte Hinwendung zum Naturvorbild, verbunden mit formaler Klarheit, kompositorischer Ausgewogenheit und der Vorliebe für weitwinklige Perspektivansichten von leicht erhöhtem Standort, kennzeichnen vor allem die Städte- und Hafenansichten der südlichen Küste. Häufig zu beobachten ist auch die klassische Einführung des Betrachter:innenblicks ins Bildgeschehen mittels eines Weges im Vordergrund. In diesem Fall übernimmt der Verlauf der schützenden Befestigungsanlage diese Funktion. An ihrem Ende bildet die helle Gischt vor dem dunklen Himmel einen optischen Fixpunkt. So verschränken sich zugleich Architektur und Landschaft, das konstruktiv Gebaute und das organisch Bewegte zu einer lebhaften Szenerie. 1 Vgl. Andreas Gabelmann, »Von Hier nach Dort, Die Reisebilder der 20er Jahre«, in: Erich Heckel. Sein Werk der 20er Jahre, Ausst.-Kat. Berlin, BrückeMuseum 30. 10. 2004 – 12. 2. 2005, hrsg. v. Magdalena M. Moeller, München 2004, S.89–103.

156 Am 31.Juli in Döbeln geboren. Mutter: Margarete Elisabeth (geb. Barth, 1854–1938), Vater: Wilhelm Julius Heckel (1852–1935), Geschwister: Helene Elsa (1979–1955) und Wilhelm Manfred (1880–1936). Besuch der Volksschule in Dresden und Olbernau sowie des Realgymnasiums in Freiberg und Chemnitz. Lernt dort 1902 Karl Schmidt aus Rottluff kennen. Beginn Architekturstudium an der Technischen Hochschule Dresden, wo er Ernst Ludwig Kirchner und Fritz Bleyl begegnet. Gründung der Künstlergruppe »Brücke« gemeinsam mit Schmidt-Rottluff, Kirchner und Bleyl. Erste Gruppenausstellung in Leipzig. Aufenthalte in Dangast an der Nordsee. Italienreise. Aufenthalte an den Moritzburger Teichen gemeinsam mit »Brücke«-Künstlern, Modellen und Freundinnen. Lernt die Tänzerin und spätere Lebensgefährtin und Ehefrau Milda Georgi (1891–1982) kennen, die unter dem Namen Sidi Riha auftritt und sich spätestens seit ihrer Heirat 1915 Siddi nennt. Sie wird fortan sein bevorzugtes Modell. Aufnahme in den Deutschen Künstlerbund. Umzug mit Siddi von Dresden nach Berlin. Aufenthalte an der Ostsee. 1883 1890–1904 1904 1905 Ab 1907 1909 1909–1911 1910 1911 Ab 1911 Erich Heckel Biografie

157 Auflösung der Künstlergruppe »Brücke«. Erste Einzelausstellung in der Galerie Fritz Gurlitt in Berlin. Weitere Ausstellungen folgen. Erster Sommeraufenthalt mit Siddi in Osterholz an der Ostsee. Sie verbringen nun regelmäßig den Sommer dort und erwerben 1919 ein Bauernhaus mit Atelier, das sie bis 1939 nutzen. Heirat mit Siddi. Militärdienst im Ersten Weltkrieg als Sanitäter in Flandern. Erste Reise an den Bodensee. Grafik-Einzelausstellung in der Kunsthütte zu Chemnitz mit 99 Blättern. Retrospektive in der Kunsthütte zu Chemnitz mit 100 Gemälden. In der Propaganda-Ausstellung »Entartete Kunst« in mehreren deutschen Städten werden 15 seiner Werke gezeigt. Etwa 780 Werke werden im Rahmen der Aktion »Entartete Kunst« aus deutschen Museen entfernt. Allein in Chemnitz werden zwei Gemälde und 69 Werke auf Papier beschlagnahmt bzw. verkauft. Zerstörung der Berliner Wohnung und Atelier. Lebt zunächst in Wangen am Bodensee. Umzug nach Hemmenhofen. Berufung als Professor für Malerei an die Karlsruher Akademie der Bildenden Künste. Lehrtätigkeit bis 1955. Ausstellung im Schloßbergmuseum Chemnitz. Das neu erbaute Haus in Hemmenhofen am Bodensee wird ständiger Wohnsitz. Großes Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Am 27.Januar in Radolfzell gestorben. 1913 1915 1915 –1918 1920 1921 1931 1937 1944 1949 1955 1953 1970

9 783954 988464 SANDSTEIN Erich Heckel war Mitbegründer und Geschäftsführer der Künstlergruppe »Brücke« und mit Sachsen und Chemnitz eng verbunden. Die herausragende Schenkung von Jürgen Brinkmann an die Kunstsammlungen Chemnitz erweitert den Sammlungsbestand um vier Aquarelle und 39 Druckgrafiken aus den Jahren 1905 bis 1966. Die Bilder geben einen Querschnitt durch die Motivwelt des Künstlers wieder: Selbstbildnisse und Darstellungen seiner Frau Siddi und weiterer Porträtierter sind ebenso zu finden wie Landschaften und Stillleben. Die Blätter befanden sich früher überwiegend in der Sammlung des Dresdner Verlegers Wolfgang Jess. Als Kunstliebhaber und Sammler moderner Grafik schätzte Jess besonders die Werke von Erich Heckel. Seine grafischen Arbeiten erwarb er auch auf Ausstellungen der Kunsthütte zu Chemnitz, was die Verbindung der Schenkung zu Chemnitz umso bedeutender macht.

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