Leseprobe

Schmidt! Demokratie leben

Vorwort Peer Steinbrück 5 Zeitleiste 6 Demokratie – Rhetorik/Image – Erinnerung Meik Woyke 13 NS-Zeit Magnus Koch 29 Sozialdemokratie Hartmut Soell 41 Politik(er)bilder Merle Strunk 53 Hamburg Franklin Kopitzsch 65 Terrorismus Gisela Diewald-Kerkmann 77 Verteidigungspolitik Detlef Bald 89 „Nachrüstung“ Claudia Kemper 101 Finanzpolitik Tim Schanetzky 113 Inhalt

Strukturkrise Wiebke Wiede 125 Energiepolitik Henning Türk 137 Atomkraft Felix Lieb 149 Frankreich Hélène Miard-Delacroix 161 Weltwirtschaft William G. Gray 173 Publizistik Thomas Birkner 185 Netzwerke eines Ex-Kanzlers Thomas Karlauf 197 Autorenverzeichnis 206 Bildnachweis 206 Impressum 208

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5 Vorwort Seit 2017 erinnert die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung an einen der bedeutendsten deutschen Staatsmänner des 20. Jahrhunderts und befasst sich als zukunftsorientierte Denkfabrik mit Fragestellungen, die den Vordenker Schmidt bewegten. Drei übergeordnete Themenfelder stehen im Mittelpunkt der programmatischen Stiftungsarbeit: 1. Europa und internationale Politik, 2. Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit sowie 3. Demokratie und Gesellschaft. Zudem macht die Stiftung im Helmut Schmidt-Archiv die privaten Dokumente von Schmidt und seiner Frau Loki der Forschung zugänglich und gewährt der Öffentlichkeit Zugang zum ehemaligen Privathaus. Während Schmidts Kanzlerschaft von 1974 bis 1982 sieht sich die Bundesrepublik erheblichen Herausforderungen gegenüber, für die allein nationalstaatliche Lösungsansätze zu kurz greifen. Ökonomisch enden die Jahrzehnte des „Wirtschaftswunders“ mit dem Ölpreisschock, militärisch droht seit Ende der 1970er-Jahre ein nuklearer Rüstungswettlauf zwischen NATO und Warschauer Pakt. Und innenpolitisch erfordert die staatliche Reaktion auf die Terroranschläge der „Roten Armee Fraktion“ schwierige Abwägungen zwischen den Grundwerten von Freiheit und Sicherheit. Viele der damaligen Problemlagen prägen die Welt bei allen seitherigen Veränderungen noch heute. Die ständige Ausstellung Schmidt! Demokratie leben in der Hamburger Innenstadt wirft Schlaglichter auf ein knappes Jahrhundert deutscher wie internationaler Zeitgeschichte mit Schwerpunkt auf der Kanzlerschaft. Schon im Titel kommt zum Ausdruck, welche herausragende Bedeutung für Schmidt die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform hatte – einschließlich ihrer Prinzipien von Debatte und Kompromiss auf der Basis von Meinungs- und Pressefreiheit. Ganz in diesem Sinne finden gesellschaftlich umstrittene Themen eine multiperspektivische Darstellung, die dem Publikum für eine eigene Meinungsbildung die jeweiligen Pro- und Kontra-Positionen nahebringt. Das vorliegende Begleitbuch zur Ausstellung beginnt mit einer Zeitleiste, die wichtige Etappen aus dem privaten wie politischen Leben Schmidts zusammenfasst. Historische Fallstudien widmen sich dann oft weiterhin noch in unserer Gegenwart kontrovers diskutierten Themen von Atomkraft bis Weltwirtschaft, aber auch biografischen Aspekten wie Schmidts Zeit in der Wehrmacht oder seinen vielfältigen Aktivitäten als Altkanzler. Zudem präsentieren Objektgeschichten – über die papierne Überlieferung politischer Dokumente hinaus – materielle Zeugnisse, die Geschichte besonders lebendig werden lassen: beispielsweise ein soldatisches Haarnetz oder eine französisch-deutsche Weinbrandflasche. Mein ausdrücklicher Dank als Kuratoriumsvorsitzender der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung gilt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die finanzielle Förderung sowie dem Ausstellungs- und Katalogteam der Stiftung für die inhaltliche Umsetzung. Peer Steinbrück

6 1937–1945 | Soldat der Wehrmacht Nach dem Abitur 1937 leistet Schmidt einen zweijährigen Wehrdienst. 1939 beginnt das Deutsche Reich mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Als Leutnant der Luftwaffe meldet sich Schmidt im Sommer 1941 freiwillig an die Ostfront. Überwiegend dient er als Ausbilder im „Heimatkriegsgebiet“. Im Frühjahr 1945 gerät er in britische Kriegsgefangenschaft. Später berichtet Schmidt, er habe geglaubt, seinem Land gehorsam dienen zu müssen – im Kriegsverlauf habe er das NS-Regime aber zunehmend abgelehnt. 27. Juni 1942 Hochzeit mit seiner Jugendliebe Hannelore „Loki“ Glaser Helmut Heinrich Waldemar Schmidt 23. Dezember 1918 Geburt von Helmut Heinrich Waldemar Schmidt in Hamburg

7 1945–1953|Weg in die Politik Im Kriegsgefangenenlager begegnet Schmidt sozialdemokratischen Ideen. Nach seiner Freilassung studiert er ab Herbst 1945 Volkswirtschaft und Staatswissenschaften in Hamburg. Er tritt in die SPD ein und engagiert sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Nach dem Studium arbeitet er zunächst in der Hamburger Wirtschaftsbehörde, 1953 wird er erstmals in den Bundestag gewählt. Dort befasst sich Schmidt hauptsächlich mit Verkehrs- und Wehrpolitik. 22. Mai 1946 Eintritt in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 8. Mai 1947 Geburt von Tochter Susanne 14. Dezember 1961 Einzug in das Haus am Neubergerweg 80 in Hamburg-Langenhorn 1961–1965 | Senator in Hamburg Zwei Ereignisse machen den Politiker Schmidt im Jahr 1962 überregional bekannt: Während der schweren Sturmflut im Februar koordiniert er als Polizeisenator die Rettungsmaßnahmen zum Schutz der Hamburger Bevölkerung. Im Oktober bemüht sich Schmidt – mittlerweile Innensenator – dann um Aufklärung in der SPIEGELAffäre und engagiert sich für die Pressefreiheit.

8 1974 –1982 | Kanzlerjahre Als Nachfolger von Willy Brandt (SPD) will Schmidt dessen Reformkurs fortsetzen, doch die politischen Gestaltungsmöglichkeiten werden kleiner. Während der Wirtschafts- und Strukturkrise verschlechtert sich die soziale Lage vieler Menschen. Gleichzeitig kritisiert eine zunehmend selbstbewusstere Zivilgesellschaft den Regierungskurs in der Energie-, Umwelt- und Friedenspolitik. Nach dem Bruch der sozial-liberalen Koalition wählt der Bundestag im Oktober 1982 Helmut Kohl (CDU) als Nachfolger. 1969–1974 | Minister in Bonn Im Herbst 1969 übernimmt Schmidt sein erstes Kabinettsamt auf Bundesebene. Als Verteidigungsminister einer sozial-liberalen Koalition versucht er, Reformen bei der Truppe voranzutreiben. Für eine zeitgemäße Ausbildung sollen angehende Offiziere neben dem Dienst an der Waffe fortan auch ein universitäres Studium absolvieren. Als Finanzminister verfolgt der studierte Volkswirt ab 1972 angesichts globaler Krisen und Konflikte eine international vernetzte Politik. 14. März 1967 Wahl zum SPD-Fraktionsvorsitzenden in Bonn

9 1983–2015 | „Außer Dienst“ Im Mai 1983 wird Schmidt Mitherausgeber der Wochenzeitung DIE ZEIT. Dort schreibt er rund 300 Artikel, außerdem über 30 Bücher. Als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ reist er um die Welt, hält Vorträge und diskutiert mit Fachleuten über die für ihn wichtigen Themen: europäische Einigung, internationale Sicherheit sowie Wirtschaft und Finanzen. Bis zu seinem Tod bleibt er ein gefragter Gesprächspartner – der „alte Schmidt“ ist in Deutschland so beliebt wie nie zuvor. 22. Dezember 1983 Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Hamburg 10. September 1986 Abschiedsrede im Deutschen Bundestag 21. Oktober 2010 Loki Schmidt verstirbt im Alter von 91 Jahren in Hamburg 10. November 2015 Helmut Schmidt verstirbt im Alter von 96 Jahren in Hamburg

13 Demokratie – Rhetorik/Image – Erinnerung „Im Jahre 1933, als Hitler an die Macht kam, war ich 14 Jahre alt. Wie den meisten Angehörigen meines Jahrgangs so hat auch mir bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs niemand gesagt, wie ein Staat und wie eine Gesellschaft eigentlich beschaffen sein sollten. Zwar war uns klar, dass die höhnische Herabsetzung der westlichen Demokratien durch das ,Dritte Reich‘ nicht richtig sein konnte, aber eine positive Vorstellung von der Demokratie und von der Ordnung eines Rechtstaats hatten wir kaum.“ Mit diesen Sätzen begann Helmut Schmidt die Broschüre Deshalb bin ich Sozialdemokrat, die vom SPD-Vorstand, genauer: von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, zur Bundestagswahl 1972 herausgegeben wurde. Zu dieser Zeit als „Superminister“ im sozial-liberalen Kabinett von Willy Brandt für die Ressorts Wirtschaft und Finanzen zuständig, schilderte Schmidt in der Wahlkampfpublikation sodann eindrücklich, wie er nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes zur Sozialdemokratie gefunden und ein Verständnis von Demokratie entwickelt habe. Als er im April 1945 in britische Kriegsgefangenschaft geriet, war er 26 Jahre alt und folgte wissbegierig den Vorträgen eines älteren Mitgefangenen zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der gemeinsam initiierten „Lageruniversität“. Bereits der Umstand, dass eine solche Institution von den Briten in dem Offizierslager zugelassen wurde, lässt sich als Ausdruck von Demokratie zur Einübung von Pluralismus und Meinungsfreiheit deuten, obschon es – bei aller Themenvielfalt – unter den Bedingungen des Kriegsendes und der Gefangenschaft ein hohes Maß an Kontrolle und Einschränkungen gab. Wie stark bei Schmidt seine Erfahrungen als Wehrmachtssoldat nachwirkten, zeigte sich fast 30 Jahre später in der Analogie, die er zwischen dem „Erlebnis der Kameradschaft“ an der Front und dem „Solidaritätsprinzip der Sozialisten“ zog. In beiden, so hieß es in der Broschüre, stecke „die gleiche sittliche Grundhaltung“. Es ist auffällig, wie Helmut Schmidt, je älter er wurde, vor allem seit den 1990er-Jahren in seinen politisch-biografischen Interviews und Erinnerungen von dem „Scheiß-Krieg“ und „Adolf Nazi“ sprach. Die funktional eingesetzten Kraftausdrücke sollten deutliche Ablehnung markieren und drückten zudem eine personalisierte Schuldzuweisung aus, während Schmidt von der Wehrmacht als soldatischer Organisation ein positives Bild zeichnete. Gleichzeitig legte er als Lehre aus der NS-Herrschaft nicht erst als Bundesminister der Verteidigung von 1969 bis 1972 großen Wert auf demokratisch kontrollierte Streitkräfte. Dass es sich bei der 1955/56 gegründeten Bundeswehr gemäß der im Grundgesetz verankerten Wehrverfassung um eine Parlamentsarmee handelte, in der „Staatsbürger in Uniform“ dienten, lag voll und ganz in seinem Sinne; ein Missbrauch der Armee sei aufgrund der historischen Erfahrungen Deutschlands unbedingt auszuschließen.

14 Demokratie Diese Grundüberzeugung, nämlich der Primat der Politik über das Militär, leitete Helmut Schmidt auch in der seit den 1950erJahren laufenden Debatte über die Notstandsgesetze. Im Kern wurde über nichts Geringeres als über das bundesrepublikanische Staats- und Demokratieverständnis diskutiert. Strittig waren insbesondere die Zulässigkeit von Grundrechtsbeschränkungen im Notstandsfall, der Einsatz der Bundeswehr im Inland und eine von den Gewerkschaften geforderte Garantie des Streikrechts. Schmidt befürwortete das schließlich am 30. Mai 1968 verabschiedete Gesetzespaket. Er unterstrich in der Auseinandersetzung um diese Grundgesetzergänzung immer wieder, dass auch ein demokratischer Rechtsstaat auf extreme äußere und innere Bedrohungen vorbereitet sein müsse und notfalls konsequent zu reagieren habe. Auch in der SPD-Bundestagsfraktion, der Schmidt von 1966/67 bis 1969 vorstand, waren intensive Diskussionen über das Für und Wider der Notstandsgesetze geführt worden. Schmidt sorgte für einen möglichst breiten Austausch, den er angesichts der teilweise stark divergierenden Standpunkte unter den sozialdemokratischen Abgeordneten vorstrukturierte und moderierte. Darüber hinaus bestand eine seiner Aufgaben als Fraktionsvorsitzender darin, Vermittlungsarbeit gegenüber der Bundesregierung, der FDP als Koalitionspartnerin sowie den gesellschaftlichen Interessengruppen zu leisten. Dieses Vorgehen steht beispielhaft für Schmidts nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeformtes, plurales Demokratieverständnis, das auf offene Diskussion und Überzeugungsarbeit ausgelegt war. Demokratie mit all ihren Normen, Institutionen und Prozessen bedeutete für Schmidt per definitionem auch Streit. Zugleich setzte er – stets an der Sache orientiert – auf die Kraft rationaler Argumente, und am Ende einer politischen Debatte musste nach seiner Überzeugung ein per Mehrheitsentscheidung festgeschriebener Kompromiss stehen. Eine Entscheidung zu verschleppen oder gar offen zu lassen kam für ihn nicht infrage. Für Schmidt gehörte dieser fortwährende Aushandlungsprozess zu den „Maximen politischen Handelns“, wie er am 12. März 1981 als Bundeskanzler seinen Vortrag auf einem Kant-Kongress überschrieb. Den Ausgangspunkt für seine „Bemerkungen zu Moral, Pflicht und Verantwortung des Politikers“ bildete seine Wertschätzung für die Philosophie von Immanuel Kant, von der er sein „pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken“ zugunsten des Gemeinwohls ableitete, beziehungsweise der „res publica“, um es mit den beiden von ihm bevorzugten Vokabeln auszudrücken. Unmittelbar bezog Schmidt sich in seinen Ausführungen indessen auf die Auseinandersetzungen über den NATO-Doppelbeschluss und die sogenannte friedliche Nutzung der Kernenergie, über die – zumal angesichts der verschärften Blockkonfrontation zwischen der USA und der Sowjetunion sowie der beiden Ölpreiskrisen 1973/74 und 1978/79 – innerhalb der SPD wie auch in der Öffentlichkeit lebhaft diskutiert und immer wieder zudem erbittert gestritten wurde. Wörtlich sagte der Kanzler vor dem von der FriedrichEbert-Stiftung (FES) eingeladenen Kongresspublikum, das größtenteils aus Philosophen und Soziologen bestand: „Gegenwärtig führt die Sozialdemokratie die Diskussion über wichtige Zukunftsfragen, zum Beispiel über Sicherheitspolitik, über Energiepolitik, stellvertretend für viele andere im Land. Und ich hoffe, dass jene Bürger, die davon heute vielfach irritiert sind, auf längere Sicht anerkennen werden, dass diese Diskussion notwendig war. Allerdings will ich freimütig hinzufügen: Allzuviel Streit ist in einer Demokratie von Übel, und Porzellan muss dabei nicht unbedingt zerschlagen werden. Umgekehrt jedoch gilt: Angst vor dem Konflikt, übersteigertes Harmoniedenken oder gar die Sehnsucht nach einem vom Staat gestifteten, für alle verbindlichen Sinnzusammenhang, die können die politische Kultur, die können die Substanz unserer Demokratie gefährden.“ Politik in einer Demokratie, das lässt sich aus den letzten Zeilen herauslesen, war für Helmut Schmidt nicht die Angelegenheit eines „Mannes mit dem Löwenherzen“, der vermeintlich einfache Lösungen für komplexe politisch-gesellschaftliche Probleme kannte und notfalls mit „eisernen Besen“ kehrte, wie es vor 1933 in der Endphase der Weimarer Republik häufig von rechtsextremer Seite populistisch gefordert worden war. Nach seinen Erfahrungen und Erkenntnissen unter dem nationalsozialistischen Regime ging Schmidt derart simplifizierenden Heilsversprechungen nicht auf dem Leim. Vielmehr folgte er dem Philosophen Karl Popper und dessen Bekenntnis zum Kritischen Rationalismus, wonach jedwede Form von totalitären Systemen und Utopien abzulehnen sei.

15 Gleichwohl bedürfe es in einer Demokratie der politischen Führung, wie Schmidt in einem Interview mit der Illustrierten stern zu Beginn des Jahrs 1980 und bei einer späteren Gelegenheit vor Arbeitgebervertretern betonte. Dabei berief er sich auf seinen politischen Mentor Fritz Erler, der ihn als jungen Abgeordneten der SPD-Bundestagsfraktion in den 1950er-­ Jahren gefördert und in transatlantische Sicherheitskreise eingeführt hatte. Gerade in anspruchsvollen politischen Lagen, so hob Schmidt mit Bezug auf den von ihm mit herbeigeführten NATO-Doppelbeschluss hervor, brauche es richtungsweisende Akteure mit ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein. Dadurch sah er weder die innerparteiliche Demokratie noch die im Grundgesetz festgelegte demokratische Gewaltenteilung in Gefahr. Zwar betrachtete Helmut Schmidt grundsätzlich Konflikte positiv und als notwendig für den Fortschritt in der Gesellschaft. Aber den innovativ-provokativen Politik- und Protestformen der sogenannten 68er, der Neuen Sozialen Bewegungen und der Partei DIE GRÜNEN, die 1983 erstmals in den Bundestag einzog, stand er ausgesprochen kritisch gegenüber. Politik wurde nach seinem Dafürhalten von Parteien und in Parlamenten gemacht und nicht auf der Straße, wo in den 1970er-Jahren die Friedens-, Anti-Atomkraft-, Umwelt- und Frauenbewegung von sich Reden gemacht hatten – durch eine unkonventionelle politische Bildsprache und kreativen Protest, verstärkt durch popkulturelle Elemente insbesondere aus dem Feld der Musik. Dementsprechend beurteilte Schmidt plebiszitäre Demokratieelemente skeptisch, da es wenig Fragen gebe, die man verkürzt mit Ja oder Nein beantworten könne. Allerdings lehnte er Bürgerbeteiligung nicht gänzlich ab, sie hatte aber nach seiner Einschätzung im engen Rahmen des repräsentativen Systems zu erfolgen. Rhetorik und Image Über die „68er“ pflegte Helmut Schmidt mit unverhohlener Abneigung zu sagen: „Sie bestreiten alles, nur nicht ihren Lebensunterhalt.“ Ebenso schneidend war seine Rhetorik als Bundeskanzler gegenüber seinen innerparteilichen Kritikern, vor allem gegen die Jungsozialisten und den linken SPD-­ Flügel, die sich in der Öffentlichkeit negativ über seine Sicherheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik äußerten. Dabei waren die Übergänge zu den Neuen Sozialen Bewegungen fließend. Selbstbewusst und, wie manche sagten, nicht frei von Arroganz hielt Schmidt auf dem SPD-Landesparteitag 1974 in Hamburg seinen von der marxistischen Kapitaltheorie inspirierten Widersachern entgegen: „Die Weltwirtschaft ist durch diese Verwerfungen in eine Krise geraten, die ihr nicht begreifen wollt – ihr beschäftigt euch mit der Krise des eigenen Hirns statt mit den ökonomischen Bedingungen, mit denen wir es zu tun haben.“ Ob Schmidt jemals einen Rhetorikkursus besucht oder sich als Spitzenpolitiker individuell hat coachen lassen, wie es heutzutage nicht bloß in der Bundespolitik zum Standard gehört, ist nicht bekannt. Fest steht hingegen, dass er sein politisches Talent für eine beachtliche Karriere zu nutzen wusste. Er beherrschte die Kunst der Selbstdarstellung, präsentierte sich mit großer Professionalität in den Medien und lieferte dabei jene Zitate, die es braucht, um wahrgenommen und wiedererkannt zu werden, für sich ein Image zu definieren und debattenprägend zu sein. In der Rückschau nannte Schmidt sich zuweilen einen perfekten „Staatsschauspieler“ – eine Bezeichnung, die während seiner Kanzlerschaft ursprünglich von der CDU/CSU zur Abwertung seiner politischen Leistungen aufgebracht worden war. Hielt Schmidt sich in einem Fernsehstudio auf, war ihm stets bewusst, welche Kamera gerade sendete, dann glichen Züge aus der Zigarette zuweilen einer Inszenierung. Als ein Politiker, der auf sein öffentliches Bild bedacht war, ob im Parlament, bei Wahlkampfreden oder Betriebsbesichtigungen, beherrschte er die Technik der kalkulierten Pause, baute Spannungsbögen auf, hob ihm besonders Wichtiges auf diese Weise hervor und setzte geschickt Pointen mit der Erfahrung des öffentlichen Redners. Wenn Schmidt etwa vor Fabrikarbeitern in Hamburg sprach, verfiel er ins Plattdeutsche und passte sein Sprachniveau der Zielgruppe an. Ebenso war er mühelos in der Lage, geschliffene Konversationen auf Englisch zu führen sowie – etwa auf dem erwähnten Kant-Kongress – höhere sprachliche Register zu bedienen. Wer bei Schmidt im Bundeskanzleramt als Redenschreiber arbeitete, der lernte rasch, worauf es dem Kanzler bei seinen öffentlichen Auftritten ankam: Gefordert war eine klare Sprache, die Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit ausstrahlen und möglichst niemanden verprellen sollte. Es ging Schmidt darum, seine Zuhörerschaft von der Richtigkeit seiner Politik zu überzeugen und Vertrauen in seine Führungsstärke und Problemlösungskompetenz zu vermitteln. Vor wichtigen Reden wie Regierungserklärungen und zentralen Wahlkampfauftritten bat der Bundeskanzler ausgewählte Persönlichkeiten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, zum Beispiel den mit ihm befreundeten Schriftsteller Siegfried Lenz, passende inhaltliche Anregungen und Textversatzstücke beizusteuern. Fast jede Rede wurde von Schmidt mit seinem grünen Stift redigiert, und im Dialog mit seinem Redenschreiberteam rang er um die bessere Formulierung und treffende politische Aussage.

16 Im Laufe seiner mehr als drei Jahrzehnte umspannenden politischen Karriere sind Helmut Schmidt immer wieder charakteristische wie zuspitzende Etikettierungen zugeschrieben worden. Angesichts seiner beißenden und rhetorisch ausgefeilten Polemik gegen die Adenauer-Regierung während der Bundestagsdebatte über die Atombewaffnung der Bundeswehr (1958) brachten die Medien für ihn den Beinamen „SchmidtSchnauze“ auf. Das entschlossene Krisenhandeln, mit dem Schmidt als Polizeisenator von Hamburg der Sturmflutkatastrophe 1962 begegnete, führte zu dem Image, er sei ein „Macher“, der auch in enormen Drucksituationen den Überblick behalte und pragmatisch die erforderlichen Schritte zur Überwindung des Ausnahmezustands einleite. Wo solche verdichtenden Zuschreibungen ihren Ursprung haben, wer sie erstmals formulierte und publik machte, lässt sich kaum mehr lückenlos nachvollziehen. Dies gilt auch für das Etikett „Weltökonom“, das am Beginn von Schmidts Bundeskanzlerzeit in der medialen Berichterstattung auftauchte. Allerdings liegt ein Zusammenhang mit dem ersten „Weltwirtschaftsgipfel“ („G6“) im Jahr 1975 in Rambouillet und der wahlstrategischen Herausstellung von Schmidts ökonomischer Kompetenz vor der Bundestagswahl 1976 nahe. Dies unterstreicht ein Papier zur Kommunikationsstrategie, das zu jener Zeit in der SPD-Zentrale entstand. Unter der Überschrift „Unsere Personen und ihre Images“ wurde betont, dass Helmut Schmidt als „Manager, Fachmann, Weltwirtschaftskanzler“ dargestellt werden sollte, und darüber hinaus als der „moderne, kompetente, internationale Staatsmann“, der überzeugend für das im Wahlprogramm der SPD für die Bundestagswahl 1976 konturierte „Modell Deutschland“ stehe. Während andere Kabinettsmitglieder den Wahlstrategen als zu farblos und duckmäuserisch erschienen, riefen sie Schmidt und den Parteivorsitzenden Willy Brandt zu „Zentralfiguren“ ihrer Wahlkampagne aus, da sie gemeinsam ein Wählerpotenzial abzudecken versprachen, das sie alleine nicht erreichen könnten. Fraglos unterschieden sich beide Männer beträchtlich aufgrund ihrer Herkunft, Mentalität und ihres politischen Stils. Gleichwohl oder gerade deshalb seien deren Images nicht zu polarisieren, sondern zu addieren. Gegen Ende des Wahlkampfs sollte die Kampagne dann voll auf den Kanzler Schmidt zulaufen. Bei der Analyse von Etikettierungen wie „SchmidtSchnauze“, „Macher“ oder „Weltökonom“ sind zwei Ebenen zu unterscheiden: das Selbstbild und die Inszenierungsbereitschaft des so bezeichneten Politikers auf der einen und das Ausmaß der Fremdstilisierung und Ikonisierung auf der anderen Seite. Das Image von Helmut Schmidt entstand in einem wechselseitigen Prozess, wobei verschiedene Faktoren ineinandergriffen, verstärkend wirkten und sich überlagerten. Einerseits verstand Schmidt es bereits als junger Politiker, sich in Szene zu setzen. Bereitwillig stand er für Homestorys zur Verfügung, ließ in den Bundestagskampagnen 1953 und 1957 professionelle Imagekurzfilme über sich produzieren, genoss die Rededuelle im Parlament, nahm Pressefotografen mit auf Urlaubsreisen und empfing schließlich als Bundeskanzler wiederholt Staatsgäste – wie den französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing und den sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew – in seinem Privathaus in Hamburg-Langenhorn, das somit zur politischen Bühne wurde. Auf der anderen Seite versahen die Medien den aufstrebenden Schmidt mit Etiketten, ob sie ihm passten oder nicht. Er galt als fest in Norddeutschland verwurzelter, emotional unterkühlter Hanseat, der für Liberalität und Toleranz eintrat, und als Staatsmann mit Weitblick, der in globalen Zusammenhängen dachte. Teils knüpften diese Zuschreibungen an Schmidts aktiver Image-Arbeit an, teils wurden sie von differenziert beobach-

17 tenden Journalisten in die Welt gesetzt, die ihn an seiner konkreten Politik maßen. Dabei ging es gemäß der Eigenlogik der Medien vielfach auch um die Steigerung der Auflagenhöhe beziehungsweise der Zuschauerquote. Gefragt waren griffige Formulierungen und semantische Zuspitzungen mit hohem Wiedererkennungswert. Überdies entstanden seit den 1950er-Jahren zahlreiche Karikaturen und kabarettistische Aneignungen, die ein Gradmesser dafür sind, welche Facette des vielschichtigen Images von Schmidt gerade Konjunktur hatte. Erinnerung Ob jemand zu einer Person der Zeitgeschichte wird, lässt sich weder geradlinig noch mit absoluter Erfolgsgarantie steuern. Entscheidend sind die wahrgenommenen Leistungen im Amt sowie die politischen Zeitläufte und personellen Konkurrenzkonstellationen. Über Schmidts Amtszeit als Bundeskanzler ist mitunter gesagt worden, dass ihr ein großes Thema gefehlt habe: Konrad Adenauer stehe für die Westbindung und Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, Willy Brandt habe die Neue Ostpolitik ins Werk gesetzt und Helmut Kohl die Deutsche Einheit ausgehandelt. Diese historische Argumentation verzerrt jedoch die Perspektive. Immerhin sah Schmidt sich als Kanzler mit den Auswirkungen einer Weltwirtschaftskrise konfrontiert, mit einer grassierenden Inflation und rasant steigender Arbeitslosigkeit, für die er in globalen Zusammenhängen nach Lösungsansätzen strebte. Zudem musste er innenpolitisch auf die Bedrohung des Staats durch den Terrorismus der „Roten Armee Fraktion“ reagieren. Darüber hinaus suchte er in der Sicherheitspolitik nach Antworten auf die Blockkonfrontation zwischen der NATO als transatlantisches Verteidigungsbündnis und dem von der UdSSR dominierten Warschauer Pakt. Auch wenn man den eigenen Platz in der Geschichte nicht selbst definieren kann, so lassen sich doch Vorkehrungen dafür treffen. Das Privatarchiv, das Helmut Schmidt bereits Mitte der 1940er-Jahre anlegte und das heute seinen Namen trägt, diente ihm einerseits als Wissensspeicher und Referenzüberlieferung für sein politisches Wirken und publizistisches Schaffen. Andererseits lassen sich daraus auch Schmidts Anspruch auf historische Bedeutung und ein gewisses Geltungsbewusstsein ablesen: Das persönliche Lebenswerk soll für die Nachwelt erhalten bleiben. In dieselbe Richtung weisen die Gründung der privaten Helmut und Loki Schmidt-Stiftung im Jahr 1992, anlässlich der Goldenen Hochzeit des Ehepaars, und 2017 – zwei Jahre nach Schmidts Tod – die Errichtung der Bundeskanzler-HelmutSchmidt-Stiftung (BKHS) als öffentlich-rechtliche Einrichtung. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Stiftungsgründungen erfolgten nicht als Ausdruck eines übergroßen Egos, sondern im Interesse des Gemeinwohls und demokratischen Zusammenhalts, wie nicht zuletzt anhand des Programms und der Arbeit der BKHS deutlich wird. Sie versteht sich nicht als Denkmalpflegeverein für Helmut Schmidt, sondern erinnert an dessen politisches Handeln und ordnet es kritisch in die westdeutsche Zeitgeschichte mit ihren deutsch-deutschen und internationalen Verflechtungen ein. Überdies trägt die BKHS zu einem tieferen Verständnis der europäischen und globalen Herausforderungen der Gegenwart bei, insbesondere auf den Feldern der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik, und erarbeitet tragfähige, zukunftsorientierte Lösungen. Dabei unterstreicht sie den hohen Stellenwert von Demokratie, Grund- und Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit, die gegenwärtig vor allem gegen Angriffe aus dem rechtsextremen Spektrum geschützt werden müssen. Hier als weitere Formen der Erinnerung sämtliche Schulen, Plätze, Straßen und Brücken sowie Lehrstühle und Fellowships aufzuzählen, die Helmut Schmidts Namen tragen, würde den Bogen überspannen und ließe sich vermutlich kaum erschöpfend leisten. Zu den markantesten Beispielen für solche Reminiszenzen, die ihre Gravität mithilfe von Schmidt gewissermaßen aus externer Quelle beziehen respektive das eigene Tun mit zusätzlicher Bedeutung aufladen, zählen sicherlich der Helmut Schmidt Airport in Hamburg und das HelmutSchmidt-Haus der Wochenzeitung DIE ZEIT, wo der ehemalige Bundeskanzler vom Mai 1983 an für mehr als 30 Jahre als Mitherausgeber wirkte und es verstand, sein reichweitenstarkes Blatt als publizistische Plattform zu nutzen. Dabei handelt es sich übrigens um eine Zeitspanne, die bisher niemand anderem von Konrad Adenauer bis Angela Merkel vergönnt war, um politisch und medial nach dem Ausscheiden aus dem Bundeskanzleramt zu wirken. Zwar kokettierte Schmidt immer wieder damit, seit dem 1. Oktober 1982 „außer Dienst“ zu sein, wie auch das zum Bestseller gewordene Buch hieß, das er anlässlich seines 90. Geburtstag publizierte. Aber sein Engagement als „Elder Statesman“, etwa im InterAction Council, und sein bis ins hohe Alter nahezu ungebrochenes publizistisches Engagement sprechen eine andere Sprache. Wer die Ausstellung Schmidt! Demokratie leben im Helmut-Schmidt-Forum besucht, stößt auf dem Weg dorthin auf ein Werbeplakat der BKHS, auf dem Loriots Schmidt-­ Karikatur aus den 1970er-Jahren zu sehen ist. Auch die als Teil der Kabarettsendung Mitternachtsspitzen vom Westdeutschen Rundfunk von 2007 bis 2010 ausgestrahlte Persiflage Loki und Smoky, die sich großer Beliebtheit erfreute, gehört zur vielfältigen Erinnerung an den fünften deutschen Bundeskanzler, der für seine charakteristische Elblotsenmütze bekannt war.

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41 „Der richtige Mann in der falschen Partei!“ So stand es – vor allem während der Jahre Schmidts als Minister und Kanzler – in manchen Zeitungen, wenn die von ihnen für richtig gehaltene Politik auf Kritik in Schmidts eigener Partei stieß. Dahinter verbarg sich oft auch eine gewisse Ratlosigkeit politischer Gegner und Kommentatoren rechts von der Mitte. Die Schwierigkeiten, die manche alte und später auch die neuen „Traditionalisten“ in der SPD mit ihm hatten, waren kaum geringer – aber andere. Sozialdemokratie

42 Weg in die Politik Eine Parteizugehörigkeit war Schmidt nicht in die Wiege gelegt worden. In der Kleinbürgerfamilie, der er entstammte, sorgte vor allem der Vater dafür, dass er von der Politik ferngehalten wurde. Nach seinem Kriegsdienst geriet er für fünf Monate in britische Gefangenschaft. Dort schloss er sich einem Kreis um Hans Bohnenkamp an. Dieser, ein religiöser Sozialist, hatte sehr großen Eindruck auf ihn gemacht und wurde zu seinem Mentor. So wurde aus dem „damaligen unklaren Antinazi Helmut Schmidt“ ein „bewusster Sozialdemokrat“ – so seine retrospektive Einschätzung in einem Brief an den Parteikollegen und Journalisten Fritz Sänger von August 1978. Anfang Mai 1946 füllte Schmidt einen Aufnahmeantrag für die SPD aus. Den ersten Distriktabend der SPD in seinem Wohnbezirk Hamburg-Neugraben fand er „recht erfreulich“, wie er unter dem 13. Juli 1946 in seinen Kalender notierte. Vier Wochen später wurde er nach einem Vortrag über Jugendfragen zum Vorsitzenden der dortigen Jungsozialisten gewählt. In den folgenden Wochen fuhr er mit der Gruppe in das in der Lüneburger Heide gelegene Bispingen und hielt den ersten Gruppenabend ab. Zweifellos hatte Schmidt dort vor Ort Erfahrungen sammeln können, die ihm halfen, als er sein politisches Engagement auf die Hamburger Gruppe des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) ausdehnte, die sich schon Ende 1945 zusammengefunden hatte. Im Juli 1946 lernte der Student der Volkswirtschaft die Gruppe kennen und diese ihn. In der Erinnerung ehemaliger Mitglieder tauchte er „urplötzlich“ und „wie aus dem Nichts“ auf und wurde wegen seiner „rednerischen Fähigkeiten“ und weil er „erwachsener als die meisten anderen wirkte, bald zur unumstrittenen Führungsfigur in der Gruppe“. Nach einer vierjährigen Tätigkeit für die Hamburger Wirtschaftsverwaltung wurde Schmidt im September 1953 in den Bundestag gewählt. Mit Fritz Erler arbeitete er in Fragen der Einordnung der entstehenden Bundeswehr in das Grundgesetz besonders eng zusammen. Wie stark die Berührungsängste innerhalb der SPD-Fraktion gegenüber der Bundeswehr waren, zeigte die Reaktion auf Schmidts Wehrübung als Reservist im Herbst 1958: Bei den Wahlen zum Fraktionsvorstand verlor er im November des Jahrs seinen Sitz. Dennoch zog er sich keineswegs in ein Schneckenhaus zurück – denn auch in Partei und Fraktion blieben seine Energie und seine konkreten Ideen gefragt. Im November 1961 nahm er das Angebot des Ersten Bürgermeisters seiner Vaterstadt Paul Nevermann an, als Polizeisenator eine einheitliche Innenbehörde aufzubauen. Die Erkenntnisse aus der Hamburger Flutkatastrophe zwei Monate später, die über dreihundert Menschen in den Tod riss, beschleunigten den Aufbau der Behörde. Der SPIEGEL, der Schmidt am 6. März 1962 in übertreibender Manier zum „Herrn der Flut“ erhob, trug dazu bei, den neuen Innensenator auf nationaler Ebene mit dem Charisma des Lenkers auszustatten, der dem Chaos Einhalt gebot. Bonner Republik Schmidt hatte nach der Bundestagswahl 1965 dem Druck der SPD-Spitze nachgegeben, in den Bundestag zurückzukehren. Wie notwendig Schmidts geistige Präsenz und Überzeugungskraft in Bonn waren, zeigte sich wenig später. Für den Dortmunder Parteitag im Juni 1966 entwarf er eine Entschließung zur Deutschlandpolitik unter sich ändernden weltpolitischen Bedingungen und erläuterte diese in einer zweistündigen Rede. Die Entschließung steckte den Rahmen ab, in dem während des folgenden Jahrzehnts die Ost- und Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Koalition stattfand. Am 22. Februar 1967 starb Fritz Erler im Alter von 53 Jahren an Leukämie. Bei der Wahl zu seinem Nachfolger als Fraktionsvorsitzender drei Wochen später erhielt Schmidt mit 121 von 144 abgegebenen Stimmen – wegen der schwachen Beteiligung – ein schlechtes, wenngleich ehrliches Ergebnis. Bereits in den ersten Monaten ging es darum, politische Schwelbrände, wie sie durch die Kohlekrise an Rhein und Ruhr entstanden waren, so schnell wie möglich auszutreten. Als im Oktober 1967 die Stilllegung von Zechen angekündigt wurde, entwarf Schmidt eine 18 Seiten lange Skizze zur Kohlen- und Ruhrproblematik, die in der Fraktion große Zustimmung fand, und die auch Karl Schiller als Bundeswirtschaftsminister – nach vorheriger eingehender Diskussion – berücksichtigte. Mitten in einer an Schärfe zunehmenden Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften über die Notstandsverfassung konnte Schmidt so zeigen, dass er überall da, wo existenzielle Interessen von Arbeitnehmern direkt bedroht waren, diese vehement verteidigte. In der Frage der Notstandsverfassung hatte Schmidt ein schwieriges, teilweise – bezogen auf die politische Atmosphäre – vergiftetes Erbe übernommen. Das Misstrauen gegen jede Einschränkung der Grundrechte der Arbeitnehmer war besonders bei den Gewerkschaften, die noch unter dem Trauma ihrer kampflosen Kapitulation im Mai 1933 vor dem NS-Regime litten, sehr groß. Trotz erheblichen Widerstands in der Fraktion gelang es Schmidt, dass deren große Mehrheit – über 75 Prozent – der Notstandsverfassung zustimmte. Wie sehr in seiner Politik gegenüber den Gewerkschaften die Dialektik von Konflikt und Integration dominierte, zeigte sich auch in der von ihm geführten Kommission zur Ausweitung der Mitbestimmung, die seit Frühjahr 1968 tagte. Es ging ihm vor allem um soziale Fortschritte an der Basis, um Mit- und Selbstbestimmung des einzelnen Arbeitnehmers an seinem Arbeitsplatz sowie um den Ausbau der Rechte der Betriebsräte. Mit auf seine Initiative hin konnte am 12. Juni 1969 im Bundestag die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter beschlossen werden. Das bedeutete für Schmidt einen „entscheidenden Durchbruch auf dem Wege vom überholten Kasten- und Klassendenken zu einer offenen Leistungsgesellschaft“, wie es in einem Informationsbrief der SPD-Bundestagsfraktion von Juli 1969 hieß. In der neuen sozial-liberalen Koalition seit Herbst 1969, in der Schmidt das Amt des Verteidigungsministers übernommen hatte, sollte auf dem Feld der inneren Reformen neben der Bildungs- vor allem die Gesellschaftspolitik im Mittelpunkt stehen. Der Parteitag in Saarbrücken im Frühjahr 1970 beschloss eine Kommission unter dem Vorsitz von Schmidt, die ein „langfristiges gesellschaftspolitisches Programm“ erarbeiten sollte. Das Dilemma, in dem die Kommission steckte, lag schon im Auftrag: Die Erarbeitung eines solchen Programms sollte nicht nur innerparteilich integrierend wirken, sondern dem Wählerpublikum insgesamt sicheren Fortschritt garantieren. Denn das Streben nach Sicherheit dominierte die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Der im Mai 1972 präsentierte Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens für die Jahre 1973 bis 1985 schritt einen thematisch weiten Bogen ab: von der Wirtschafts- bis zur Agrarstruktur, die Vermögensbildung, die Staats- und Verwaltungsorganisation, die Rolle des Parlaments und der Parteien, die Massenmedien und die

43 Mitbestimmung bis zur Förderung von Wirtschaft und Technologie. Ein Ansporn für die Mitarbeit war für Schmidt vor allem die Überzeugung, an einem Pionierunternehmen teilzunehmen. Die Bundestagswahl am 19. November 1972 brachte mit ihrem Ergebnis von 45,8 Prozent für die SPD und 8,4 Prozent für die FDP der Koalition eine sichere Mehrheit ein. Schon am Tag danach rief Willy Brandt im Parteivorstand Schmidt „zum ersten Mann der SPD im Kabinett“ aus und ließ dies sogleich auch der Öffentlichkeit mitteilen. Dies war gut gemeint, aber ein Fehler, der seine eigene Autorität schwächte und die Schmidts nicht stärkte. Der SPD-Parteitag im April 1973 in Hannover zeigte, wie stark der linke Flügel inzwischen geworden war. Brandt erhielt bei seiner Wiederwahl als Parteivorsitzender 404 von 428 abgegebenen Stimmen. Die beiden Stellvertreter Brandts – neben Schmidt Heinz Kühn als Nachfolger Herbert Wehners – wurden von der Linken abgestraft: Für sie stimmten nur rund zwei Drittel der Delegierten. Beide verkörperten, symbolisiert durch ihre Funktion, das ungeliebte Realitätsprinzip. Schmidt hatte sich in seiner Rede mit Begriffen wie „Strategie“ und dem vermeintlich „spätkapitalistischen System“ der Bundesrepublik auseinandergesetzt und an Forderungen des Godesberger Programms wie Unternehmerinitiative und Wettbewerb erinnert. Schwerwiegend war auch die Abwahl von altgedienten Sozialdemokraten, vor allem von Carlo Schmid. Diese Zierde der Partei so schnöde zu behandeln war Ausdruck der Geschichtslosigkeit einer Generation, für die die schwierigen Jahrzehnte seit 1945 eine terra incognita waren. Kanzlerjahre Als Willy Brandt im Mai 1974 aus Anlass der Guillaume-­ Affäre seinen Rücktritt erklärte, fügte er hinzu: „Der Helmut muss das machen.“ Schmidts erste Reaktion auf das Ansinnen Brandts, ihn einmal mehr zum Nothelfer zu machen, war nach eigener Aussage „zutiefste“ Abwehr: Es sei nicht allein die Angst vor der Verantwortung gewesen, die das Amt des Kanzlers mit sich brachte. Brandts zweimaliger Ruf „gescheitert“ habe ihn gar fürchten lassen, dass Brandt alles hinschmeißen würde. Als Wehner vorschlug, Brandt solle Parteivorsitzender bleiben, und dieser damit einverstanden war, stimmte Schmidt sofort zu. Die große Mehrheit auch der linken Abgeordneten bekundete sogleich ihre Loyalität. Schien der neue Kanzler doch am ehesten geeignet, die Wiederwahl zu gewährleisten. Schmidts Arbeitskraft und Zeitbudget wurden in den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft in hohem Maße von der Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise absorbiert. In der Innenpolitik konnten neben der erweiterten Mitbestimmung auch die unter Brandt begonnenen Reformen fortgesetzt werden. Allein in der Politik für die Umwelt wurden von 1975 bis 1980 sechs Gesetze zu deren Schutz verabschiedet. Die relativen Erfolge, die die Regierung Schmidt, gemessen an anderen Staaten, vor allem in der Wirtschaftspolitik vorweisen konnte, erhöhten zwar das persönliche Ansehen Schmidts, nicht aber das der SPD. Zu sehr hatten sich Meinungsführer der Partei und die an diesen orientierten Gruppen in ihr spätmarxistisches beziehungsweise ökologisch bestimmtes Weltbild eingegraben, um noch ausreichend Verständnis für die Verletzlichkeit der Bundesrepublik durch ihre außenwirtschaftliche Verflechtung sowie für den Aufwand an Zeit, Kapital und Arbeitskräften zu haben, der beim Umsteuern zum Schutz der Umwelt notwendig wurde. Vor dem Hintergrund verlorener Kommunal- und Landtagswahlen in den Jahren 1973 bis 1976 musste für die Bundestagswahl 1976 bergauf gekämpft werden. Das Ergebnis von 42,6 Prozent für die SPD war ein achtbarer Erfolg. Auch die FDP musste bei einem Ergebnis von 7,9 Prozent Verluste hinnehmen. Die Zahl der Koalitionsmandate war von 271 auf 253 gesunken. Die Koalition stolperte zu Beginn in einem besonders für die SPD sensiblen Punkt. Aufgrund der Höhe des Defizits der Rentenversicherung beschloss die Regierung nach der Wahl, eine vorgesehene Rentenerhöhung zu verschieben. Als dies durchsickerte, brach ein Sturm los. Die Presse fiel höhnend über Koalition und Kanzler her. Und die Union sprach von der „Rentenlüge“. Zum ersten Mal kündigte die Fraktion Schmidt die Gefolgschaft auf, deren Mehrheit ihm sonst immer den notwendigen Rückhalt geboten hatte. Daraufhin wurde der Koalitionsbeschluss geändert. Bei der Wahl des Kanzlers wurden für Schmidt 250 Stimmen abgegeben. Der Kanzler hatte damit nur eine Stimme mehr erhalten als Adenauer 1949. Hätte er die absolute Mehrheit verfehlt, wäre er für den zweiten Wahlgang nicht mehr angetreten. Noch mehr als drei Jahrzehnte danach erklärte er in einer Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Marburg am 22. Februar 2007, dass ihn der moralische Vorwurf der „Rentenlüge“ stärker getroffen habe als „später die emotionalen Vorwürfe der sogenannten Friedensbewegung“. Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, dass er auf dem Feld der Friedenserhaltung und der Abrüstung mehr Recht behielt als seine Kritiker. 1987 beschlossen der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und der US-­ amerikanische Präsident Ronald Reagan die Abrüstung einer ganzen Kategorie von Waffensystemen – der SS-20 auf sowjetischer Seite sowie der US-amerikanischen, in Westeuropa stationierten Pershing II und der Marschflugkörper vom Typ

44 Tomahawk. Damit endete ein zehn Jahre langer Kampf, der von Schmidt in seiner Londoner Rede am 28. Oktober 1977 als erster westlicher Politiker aufgenommen wurde, nachdem bekannt geworden war, dass Moskau seit 1975/76 begonnen hatte, neue zielgenaue Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 zu stationieren. Warum mischte sich Schmidt als Regierungschef einer europäischen Mittelmacht, die auf die Produktion von Atomwaffen verzichtet hatte, in den „Atompoker“ der Weltmächte ein? Die Regierungen in Washington und Moskau hatten sich darauf geeinigt, dass nur solche Waffensysteme den SALT-Abkommen (Strategic Arms Limitation Talks) unterliegen sollten, die jeweils das Territorium der anderen Weltmacht erreichen konnten. Die „eurostrategischen“ SS-20 konnten auch die nicht atomar bewaffneten Staaten in Westeuropa bedrohen, das heißt in Krisenfällen politisch erpressen. Anfang 1979 trafen sich die Chefs der drei westlichen Atommächte auf der Karibikinsel Guadeloupe. Als einziger Vertreter eines nicht atomar bewaffneten Lands war Schmidt eingeladen worden. Der dort entwickelte Ansatz, notfalls auf westlicher Seite Waffen mit ähnlicher Wirkung zu stationieren, um in Rüstungskontrollverhandlungen Druck auf Moskau zum Abbau der SS-20-Systeme auszuüben, wurde im Dezember 1979 zum Doppelbeschluss der NATO. Innerparteiliche Gegner Schmidts wie Erhard Eppler sprachen oft von der „Erblast“, die Schmidt als Kanzler für die SPD hinterlassen habe. Das stimmt eher umgekehrt – vor allem in einer Hinsicht: Er huldigte nicht dem Zeitgeist eines einseitigen Atompazifismus, dem sich große Teile der Friedensbewegung hingegeben hatten und der schließlich auch die Mehrheit der SPD erfasste. Das mangelnde Verständnis dafür, dass militärische Macht und die Möglichkeit mit ihr zu drohen nicht verrechenbar war mit anderen Machtfaktoren der Politik, verband sich mit dem überzogenen Mythos des Erfolgs der Ost- und Friedenspolitik zu Beginn der 1970er-Jahre, der bis vor kurzem die Politik der SPD gegenüber Russland prägte. Bilanz Der NATO-Doppelbeschluss war nicht entscheidend für das Ende der Koalition von SPD und FDP. Die wachsenden Unterschiede in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gaben letztlich den Ausschlag. Die mangelnde Unterstützung vonseiten Brandts in der Frage des Doppelbeschlusses führte zu einer gewissen Distanz zwischen den beiden Politikern, die aber spätestens nach dem Fall der Mauer ein Ende fand. Das Unverständnis der „Enkel“ Brandts – Nachäfferei der Marotte Helmut Kohls, sich als politischer „Enkel“ Adenauers zu stilisieren – für die Vereinigung brachte beide wieder näher zusammen. In Schmidts letzter Rede im Bundestag am 10. September 1986, mit der er von der Politik als Beruf, den er 33 Jahre lang ausgeübt hatte, Abschied nahm, kam er nicht nur auf seinen ersten Mentor Hans Bohnenkamp zurück, der seine Erziehung „zum bewussten Demokraten und Sozialdemokraten eingeleitet“ habe. Er betonte auch, wie notwendig politische Führung sei: „Wir Deutschen bleiben ein gefährdetes Volk, das der politischen Orientierung bedarf“. Er führte dies auch auf die damals bestehende Teilung zurück, die immer wieder die Gefahr mit sich bringe, „dass die ohnehin gegebene deutsche Neigung zum gefühlsmäßigen Überschwang gefährlich durchbricht“. Um dieser Sorge zu begegnen, die Schmidt auch nach der Vereinigung in den folgenden Jahrzehnten bis zum Tod begleitete, war er als Autor und Herausgeber der ZEIT selbst zu einem großen Mentor geworden, der mit „abwägender Vernunft“ nicht nur seiner Partei, sondern uns Deutschen politische Orientierung gab. Hartmut Soell

45 Zum Weiterlesen Brandt, Willy/Schmidt, Helmut: Deutschland 1976. Zwei Sozialdemokraten im Gespräch, Reinbek b. Hamburg 1976. Rohwedder, Uwe: Helmut Schmidt und der SDS. Die Anfänge des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes nach dem Zweiten Weltkrieg, Bremen 2007. Schmidt, Helmut: Auf dem Fundament des Godesberger Programms, Bonn 1973. Soell, Hartmut: Helmut Schmidt 1918–1969. Vernunft und Leidenschaft, Stuttgart 2003. Soell, Hartmut: Helmut Schmidt 1969 bis heute. Macht und Verantwortung, München 2008.

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77 Die Geschichte der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) macht deutlich, dass terroristische Gruppen in der Regel nicht isoliert, sondern im Kontext breiterer Protestbewegungen auftreten. Nach deren Scheitern wählen einige Akteure und Akteurinnen den Weg in den Untergrund, um nicht die Legitimation des Staats anerkennen zu müssen. Insoweit geht es nicht mehr um symbolische Protestformen gegen das staatliche Gewaltmonopol oder um die Infragestellung der Herrschaftsstruktur, sondern um die prinzipielle Negierung und Zerstörung des Systems. Die Aktionen der RAF sollten eine vorrevolutionäre Situation schaffen, um insbesondere drei Ziele zu erreichen: erstens den Staat durch gewaltsame Aktionen als repressive Institution zu „entlarven“, zweitens die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu untergraben und drittens die soziale und moralische Verbundenheit der Bevölkerung mit Staat und Gesellschaft aufzubrechen und zu zerstören. Der Staat sollte zu Überschreitungen und zur Aufgabe der geltenden rechtlichen Prinzipien provoziert werden, um Teile der deutschen Bevölkerung für einen Umsturz zu mobilisieren. Mit dieser Intention wurden konspirative Unterkünfte angemietet, Terrorismus Waffen und Sprengstoff durch Betrug und Diebstahl beschafft, Urkundenfälschungen, Banküberfälle, Entführungen durchgeführt und Tötungsdelikte begangen. Die RAF konfrontierte nicht nur den Bundeskanzler und seine Regierung, sondern auch die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden mit einem neuen Phänomen, das es zuvor in der Bundesrepublik nicht gegeben hatte. Für Helmut Schmidt war der bundesdeutsche Terrorismus eine der größten Herausforderungen in seiner Amtszeit. Damit ist fast zwangsläufig die Frage verknüpft, mit welchen Mitteln die Bundesregierung antworten sollte. Die Auseinandersetzungen zwischen RAF und Staat um die innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland entwickelten sich zur Richtschnur für staatliches Handeln. Von der Bundesregierung und der Opposition, staatlichen Instanzen und Medien wurde die RAF, wenn auch in unterschiedlichen Ausformungen, schon relativ früh als wachsende Bedrohung eingeschätzt. Bereits am 15. Februar 1971 hatte der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) in der BILD öffentlich davor gewarnt, „diese Verbrecher in irgendeiner Weise zu unterstützen“. Am 29. November 1974 – also vor Beginn des Hauptverfahrens gegen die führenden RAF-Mitglieder Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe – wurde in der von der Bundesregierung herausgegebenen Dokumentation über die Tätigkeit anarchistischer Gewalttäter unterstrichen, dass die Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe den radikalen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik anstreben würden. Nach Ansicht des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß habe die Baader-Meinhof-Gruppe dem Rechtsstaat einen Krieg erklärt, für dessen Dimension es in der Bundesrepublik keine rechtlichen Vorschriften gebe. Seitens der terroristischen Gruppen wurden, wie auch von politischen Repräsentanten und Medien, Kriegsmetaphern und Kriegsszenarien verwendet, sodass immer häufiger von einem „Krieg“ zwischen RAF und Staat gesprochen wurde. Angesichts der Eskalation der Gewalt in der bundesdeutschen Gesellschaft erklärte der damalige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) in der Bundestagsdebatte am 28. Oktober 1977, der staatliche Abwehrkampf gelte einem „frontalen Angriff gegen unseren Staat“. Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte bereits in seiner Regierungserklärung im Bundestag am 13. März 1975 hervorgehoben, dass die Bundesregierung für die volle Ausschöpfung der rechtsstaatlichen Gewalt eintrete. Da gegen Terroristen und Terroristinnen zwei wesentliche Grundgedanken des Strafrechts versagen würden, nämlich Abschreckung und Resozialisierung, bleibe nur der dritte Grundgedanke des Strafrechts: die Sicherung. „Das heißt, wir müssen sie hinter Schloss und Riegel bringen.“ Bereits an dieser Stelle wird die Vorgehensweise von Helmut Schmidt deutlich, nämlich diese politischen Konflikte mit den Mitteln des Strafrechts zu lösen.

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