Leseprobe

11 Florentiner Madonnenreliefs des 15. Jahrhunderts: Wie die Bildhauerkunst ein Genre transformierte Claudia Kryza-Gersch »Kaum ein zweiter künstlerischer Gedanke hat die Bildhauer der italienischen Frührenaissance so lebhaft angeregt, so innerlich ergriffen und zur Formbildung gedrängt wie die Vorstellung von Maria mit dem göttlichen Kinde. Von Donatello an, der mit starker Hand und dem ganzen Ernste seiner Kunst zugriff, haben alle führenden Meister des Quattrocento ein Bestes an Wollen und Können an diese Aufgabe gesetzt [...].«1 Mögen diese Worte für das heutige Ohr auch etwas pathetisch klingen, so beschreiben sie dennoch im Kern richtig das eindrucksvolle Phänomen der Florentiner Madonnenreliefs des 15. Jahrhunderts. Ihr Verfasser, Paul Herrmann, war von 1915 bis 1925 Direktor der Dresdner Skulpturensammlung und klassischer Archäologe.2 Dennoch war ihm offenbar klar, dass es der Dresdner Skulpturensammlung an Beispielen dieser Kunstform mangelte, sodass er bei der Auktion der bedeutenden Sammlung Beckerath 1916 in Berlin zuschlug und zwei Terrakottareliefs (Kat. 3, 5) mit der Darstellung der Madonna mit Kind erwarb.3 Die Treffsicherheit seiner Auswahl ist erstaunlich, denn unter den rund 35 Madonnenreliefs, die in dieser Auktion angeboten wurden, suchte er Unikate von ganz besonderem Reiz aus. Herrmann setzte mit seinem Ankauf eine Initiative fort, die sein Vorgänger Georg Treu, ebenfalls Archäologe und Direktor der Dresdner Skulpturensammlung von 1882 bis 1915, eingeleitet hatte, als er 1893 eine Florentiner Stuckmadonna erwarb. Auch er bewies dabei ein gutes Händchen, denn es handelte sich um ein Original nach einem Entwurf von Desiderio da Settignano mit einer Farbfassung von Neri di Bicci (Kat. 6) – was damals allerdings noch niemand erkannte. 1902 kaufte Treu ein weiteres Stuckrelief, das sich als Original von Buggiano erweisen sollte (Kat. 4), gemeinsam mit einem kleinen oberitalienischen Madonnenrelief mit Rahmen (Kat. 7). Treu wurde bei diesen drei Einkäufen von niemand Geringerem als Wilhelm von Bode (1845–1929) unterstützt, dem legendären Berliner Museumsdirektor und einflussreichen Kunsthistoriker. Das heute nach ihm benannte Museum auf der Museumsinsel wurde nach seiner Konzeption 1904 gegründet und widmete sich hauptsächlich der italienischen Renaissance.4 Ganz anders hingegen war die Ausrichtung der Dresdner Skulpturensammlung, die die Entwicklung der abendländischen Plastik von der Antike bis zur Gegenwart abbilden wollte5 – ein einzigartiges Konzept, dessen Kühnheit bis heute beeindruckt. Um dieses Ziel zu erreichen, begann man in Dresden nicht nur damit, zeitgenössische Werke zu erwerben, sondern kaufte auch in großem Stil Abgüsse von berühmten Werken, deren Originale unerreichbar waren.6 Wo es aber möglich war, versuchte man selbstverständlich, an echte Objekte heranzukommen, und so war es angezeigt, sich um ein paar florentinische Madonnen der Renaissance zu bemühen. Während man im Berliner Bode-Museum heute Dutzende solcher Madonnenreliefs betrachten kann, war es in der Schausammlung in Dresden bisher nicht möglich, auch nur ein einziges Beispiel für diese wichtige Kunstform ausgestellt zu sehen, denn die vier (mit dem oberitalienischen Beispiel fünf) von Treu und Herrmann erworbenen Reliefs lagen mehr oder weniger unbeachtet im Depot. Warum dies vermutlich der Fall war und warum ihre Wiederentdeckung so bedeutsam ist, soll im Folgenden dargestellt werden. Florenz – die Wiege der Renaissance Florenz gilt – vielleicht mehr noch als als Venedig oder Rom – als Inbegriff der Renaissance, also jener Epoche, mit der die Menschheit in die sogenannte Neuzeit eintrat und das Mittelalter hinter sich ließ. Es erscheint wie ein Wunder, als dort um 1400 eine völlig neue Art von Künstlern die Bühne betrat und Werke geschaffen wurden, die den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt stellten. Wie war das möglich? Dafür brauchte es das Zusammentreffen ganz bestimmter Umstände, und die waren offenbar in der Stadt am Arno gegeben. Florenz war seit 1250 eine Republik.7 Das hieß natürlich nicht, dass das Volk regierte, aber es gab auch keinen Fürsten,

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