Leseprobe

79 12 Alexandre Charpentier (1856–1909) Junge Mutter, ihr Kind stillend 1882 Zinn, H. 42 cm, B. 27,5 cm Skulpturensammlung ab 1800, Inv.-Nr. ZV 1299 Provenienz: 1894 aus dem Pariser Kunsthandel (Chaine & Simonson) erworben. Literatur: Paris 2008, 81–83, Kat.-Nr. 22; Bärbel Stephan in Dresden 1994, 188–191, Kat.-Nr. 181. Alexandre Charpentier absolvierte zunächst eine Ausbildung bei einem Graveur und besuchte ab 1873 die École des Beaux-Arts in Paris, wo er die Medaillengravur bei Hubert Ponscarme (1827–1903) erlernte, der selbst als Wegbereiter »eines auf malerische Behandlung mit weichen Übergängen zielenden Stils«1 galt. Die Medaillenkunst erlebte in den 1880er Jahren in Frankreich eine Renaissance, und das Ausstellungswesen sorgte für die positive Wahrnehmung und Verbreitung der Medaille.2 Künstler, die sich rege an den Ausstellungen (wie zum Beispiel der Weltausstellung in Paris 1889) beteiligten, wurden rasch über die Grenzen des Landes hinaus bekannt. Diese Entwicklungen weckten schließlich auch das Interesse von Georg Treu (1843–1921) in Dresden. Der Archäologe Treu hatte 1882 sein Amt als Direktor der Königlichen Skulpturensammlung angetreten und widmete sich ab 1894 verstärkt der zeitgenössischen Kunst. Sein besonderer Fokus lag dabei auf der in Europa als stilistisch führend und revolutionär empfundenen französischen Skulptur. Wie andere seiner Kollegen auch, widmete sich Charpentier nicht ausschließlich der Medaillenkunst, sondern schuf auch kunstgewerbliche Gegenstände, von denen Treu von 1894 bis 1915 etliche erwarb, darunter auch das Relief Mutter und Kind.3 Der Jugendstilkünstler Charpentier war an unterschiedlichen Art-Nouveau-Großprojekten beteiligt, so etwa an der Villa Majorelle in Nancy, der Ausgestaltung des Cabaret de Chat Noir oder dem Speisezimmer für den französischen Bankier Adrien Bénard (1846–1912).4 Das Relief zeigt eine junge Mutter im Profil auf einem Stuhl sitzend, ihr Fuß ist bequem auf einem kleinen Schemel abgestellt. Der intime Moment des Stillens ihres Sohnes, den sie in entspannter Haltung im Arm auf ihrem Schoß hält, ist als Momentaufnahme wiedergegeben. Charpentier deutete so den religiösen Darstellungstypus der Maria lactans um, ohne das Motiv wörtlich zu übernehmen oder es zu überhöhen. Vielmehr übertrug er das Bild in die Gegenwart, in das häusliche Leben seiner Umgebung – es ist die moderne und bürgerliche Version der Madonna mit dem Kind. Dargestellt ist allerdings nicht die Ehefrau Charpentiers, sondern die Schwester des Schwagers, was allerdings keine wichtige Rolle spielt, denn Charpentier verlieh dem Werk eine allgemeingültige Aussage. Dieses Relief machte den Künstler berühmt. Nachdem er 1883 eine Gipsversion im Salon des Artistes ausgestellt hatte, kaufte es der französische Staat an. Der Erfolg war schließlich so groß, dass es in ganz unterschiedlichen Materialien und Größen ausgeführt wurde, zwischen eineinhalb Metern und acht Zentimetern.5 Als Verzierungselement fand es zehn Jahre später zudem Verwendung an einem Armoire à layette (1893), auch Meuble à layette (Babyausstattungsschrank) genannt.6 Es ist bemerkenswert, dass die plastische Qualität der Arbeit nicht unter diesem Variantenreichtum litt. Die Kritik jedenfalls äußerte sich nahezu enthusiastisch. So hieß es: »Im kleinsten Relief mit den gewagten Verkürzungen werden die Figuren modelliert und zum Leben erweckt; unendliche Zärtlichkeit breitet sich in dieser köstlich einfachen Szene aus. Auch wenn es in Aussehen und Anordnung sehr modern ist, ist dieses Werk – und das ist sein größtes Lob – keine Modeerscheinung. Keine Künstlichkeit, einfach natürlich. Sie bezauberte, als sie erschien, sie verführt heute, und noch viele Jahre lang werden diejenigen, die sie betrachten, von Emotionen ergriffen sein.«7 AN 1 Berlin 1995, 127. 2 Nielsen 2022, 36. 3 Paris 2008, 81–83, Kat.-Nr. 22; siehe Rainer Grund in Dresden 1994, 188–191, Kat.-Nr. 194–199. 4 Vgl. Paris 2008. 5 Bei dem Dresdner Zinnguss handelt es sich um das dritte von insgesamt 20 Exemplaren. 6 Emmanuelle Héran in Paris 2008, 81–83, Kat.-Nr. 22, hier 82. 7 Saunier 1895, 551 (Übersetzung der Verfasserin).

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