Leseprobe

77 11 Jules Dalou (1883–1902) Mutterliebe Um 1874, Guss nach 1902 Bronze, H. 21,5 cm, B. 10,7 cm, T. 9,7 cm/ Sockel: H. 4 cm, B. 12 cm, T. 12 cm Skulpturensammlung ab 1800, Inv.-Nr. ZV 2471 Provenienz: Angekauft 1912 von A. A. Hébrard in Paris. Literatur: Bärbel Stephan in Dresden 1994, 202–203, Kat.-Nr. 227. Das Talent des aus einer Handwerkerfamilie stammenden Dalou wurde von dem Bildhauer Jean-Baptiste Carpeaux (1827–1875) entdeckt, der ihn förderte und seinen Eintritt in die Académie des Beaux-Arts in Paris ermöglichte, nachdem Dalou zuvor die Pétite École besucht hatte und hier bei Horace de Boisbaudrans (1802–1897) unterrichtet worden war, der in der Ausbildung besonderen Wert auf die präzise Naturbeobachtung legte. Dalou wurde zu einem der herausragenden Bildhauer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und war vor allem für seine Denkmäler berühmt, wie etwa den Triumph der Republik (1879–1899) auf dem Place de la Nation in Paris.1 Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 war Dalou 1874 für sein politisches Engagement in Abwesenheit zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden und verbrachte die nächsten Jahre im Exil in London. Infolge einer Amnestierung konnte er 1880 nach Paris zurückkehren und seine künstlerische Laufbahn wiederaufnehmen. 1883 beteiligte er sich erstmals am Pariser Salon – der alljährlich von der Académie des Beaux-Arts veranstalteten Ausstellung – und erzielte hier großen Erfolg, denn die Ausstellung wurde von der Kritik als »Salon de Dalou« bezeichnet.2 Viele seiner Denkmäler, seine eindringlichen Porträts und die weiblichen Genrestatuetten offenbaren ein großes Interesse an den Themen der bürgerlichen Gesellschaft und der Arbeiterschaft, begründet durch die eigene Herkunft. Auch aus diesem Grund gilt Dalou neben Constantin Meunier (1831–1905) als »Vorkämpfer auf dem Gebiet sozial engagierter realistischer Plastik«.3 Seine Idee, ein Denkmal für die Arbeiter zu schaffen, blieb allerdings vor seinem Lebensende unvollendet.4 Während seiner Londoner Zeit schuf Dalou mehrere Frauenfiguren, darunter etwa auch eine Stillende Pariserin (1874, Paris, Musée d’Orsay). Die kleine Dresdner Bronze ist als spiegelverkehrte Version und vor allem als skizzenhaft modellierte Fassung dieser detailliert und naturalistisch ausgeführten Statuette zu verstehen. Die sitzende junge Mutter hat den Fuß in bequemer Haltung etwas erhöht abgestellt und blickt auf den Säugling in ihrem Schoß, den sie zu stillen beginnt. Wie bei Charpentier (Kat. 12) ist auch dies eine moderne Interpretation des Darstellungstypus’ der Maria lactans, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht nur von Dalou aufgegriffen wurde; auch Künstlerkollegen wie Paul Dubois (1829–1905) oder Eugène Carrière (1849–1906) widmeten sich diesem Thema.5 Dalou war »die industrielle Serienproduktion von Plastik zuwider«, sodass er keines seiner Werke serienmäßig in Bronze gießen ließ.6 Zudem schätzte er alle »Vorstudien gering, zerstörte zahlreiche eigene Modelle« und »faßte die Studie lediglich als ein Mittel künstlerischer Selbstverständigung auf, das nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte. Er ließ nur das finale Werk gelten.«7 So war der Guss dieser skizzenhaften Statuette also keineswegs von Dalou beabsichtigt. Es war vielmehr sein Nachlassverwalter, der schon bald nach seinem Tod 1902 eine Vielzahl von Werken in hohen Auflagen bei den bekannten Gießereien ausführen ließ. In einem Schreiben vom 21. Dezember 1911 der Gießerei A. A. Hébrard in Paris an Georg Treu wird ein Guss der »Maternité« (Mutterschaft) zum Kauf angeboten und darauf verwiesen, dass die Auflage auf zehn Exemplare begrenzt sei. Treu akzeptierte den Preis, und so gelangte das Werk nach Dresden.8 AN 1 Hünigen 1989. 2 Hünigen 1999, 547. 3 Ebd., 548. 4 Schmoll gen. Eisenwerth 1985, 189–194. 5 Auch in der Bildhauerei in Deutschland wurde das Thema aufgegriffen; siehe dazu Maaz 2010, 57. 6 Maaz 1992, 138. 7 Ebd., 138. 8 Künstlerakte Dalou, Archiv Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden.

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