75 10 Ernst Julius Hähnel (1811 – 1891) Schwebende Mutter mit Kind im Arm (Grabmalentwurf) 1870er Jahre (?) Gips, H. 33,5 cm, B. 16 cm, T. 4 cm Skulpturensammlung ab 1800, Inv.-Nr. ASN 519 (Abg.-ZV 3824b) Provenienz: Schenkung des Künstlers am 2. August 1890. Literatur: Unpubliziert. Die Entwicklung einer immer mehr individuell-künstlerisch gestalteten Sepulkralskulptur ging entscheidend einher mit der Veränderung der Bestattungskultur um 1800.1 Beisetzungen fanden nicht mehr in den Kirchen oder innerhalb der sie umgebenden Kirchhöfe statt, sondern auf Friedhöfen, die vor den Toren der Stadt neu angelegt wurden.2 Dazu hatten hygienische Gründe und die wachsende Bevölkerung in den großen Städten in der Zeit der Industrialisierung geführt. Es ging nicht mehr allein um höfische oder klerikale Bestattungen, sondern um Begräbnisse einer aufgeklärt-bürgerlich wohlhabenden Schicht. In Kleinstädten oder auf dem Lande allerdings bildeten künstlerische Grabmale eher die Ausnahme. Bei der Gestaltung der Werke entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein großer Variantenreichtum, nicht nur was die Form betraf, sondern auch die Attribute und Dekorationen. Besonders beliebt blieb jedoch stets die Stele, deren Fläche Platz für Inschriften bot und mit einem Bildnis, einem szenischen oder allegorischen Relief geschmückt werden konnte.3 Trauernde weibliche Gestalten, oft in antike Kleidung gehüllt, gehörten ebenso zu dem gebräuchlichen Figurenrepertoire und dem sich etablierendem Kanon wie Engel, weibliche und männliche, die Personifikationen der Verstorbenen in das Jenseits begleiteten. Hähnels nicht durchmodellierte Skizze ist als ein Entwurf für ein solches Grabmal zu verstehen. Im Flachrelief zeigt es eine Mutter, die ihr Kind liebevoll im Arm hält und mit wehendem Gewand und verschleiertem Haar in die Lüfte schwebt. Nicht allein der Zustand des Schwebens und die himmelwärts gerichteten Blicke verweisen auf den Kontext der Auferstehung, sondern auch der erhobene rechte Arm des Kindes mit dem nach oben zeigenden Finger. Das Bildthema legt nah, dass der Entwurf für ein Grabmal eines früh verstorbenen Kindes oder einer bei der Geburt verstorbenen Mutter gedacht war. Ob es tatsächlich ausgeführt wurde, muss an dieser Stelle offen bleiben.4 Ernst Julius Hähnel gehörte neben Ernst Rietschel (1804– 1861) zu den Begründern und bedeutendsten Protagonisten der Dresdner Bildhauerschule des 19. Jahrhunderts, deren Werke bis heute Plätze und Bauwerke der Stadt prägen. Der in Dresden geborene Hähnel studierte zunächst in der Residenzstadt Architektur und setzte sein Studium ab 1830 in München fort, bis er dort von Rietschel und Ludwig von Schwanthaler (1802– 1848) zum Wechsel in das Fach Bildhauerei angeregt wurde.5 Nach Aufenthalten in Florenz und Rom entschied er sich 1832 endgültig, seine Zukunft der Skulptur zu widmen. Bis 1838 blieb Hähnel bei Schwanthaler in München, als Gottfried Semper (1803–1879) ihn dazu bewog, nach Dresden zurückzukehren, um ihn mit der Anfertigung eines Teils der Skulpturen am neuen Hoftheater zu betrauen. Auch Rietschel, seit 1834 Professor an der Kunstakademie, waren Teile des plastischen Bauschmucks übertragen worden. So kehrte Hähnel nach Dresden zurück und schuf neben den Werken für das Hoftheater auch bald Arbeiten für den ebenfalls von Semper ausgeführten Neubau des Galeriegebäudes am Dresdner Zwinger. Eines der Werke, die dort schließlich ab 1855 eine neue Heimat fanden, war auch die Sixtinische Madonna (1512/13) von Raffael (1483–1520). Dieses zu Hähnels Zeiten ebenso wie heute als singulär empfundene Gemälde mit der auf den Wolken schwebenden Madonna, die das Kind schützend im Arm hält, mag ihn inspiriert haben, den Bildtypus aufzugreifen und für seinen Grabmalentwurf zu verwenden, denn bei der Darstellung kann zwischen Mutter oder Madonna kaum unterschieden werden. AN 1 Maaz 2010, 226–265. 2 Dehmer 2020, 7–21. 3 Maaz 2010, 236. 4 Ein Werkverzeichnis der Skulpturen Ernst Julius Hähnels ist ein Desiderat der Forschung. 5 Nielsen 2018, 230.
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