Leseprobe

6 sondern ebenso ein freilich nur allmählicher und mitunter leidvoller, aber gezielt und vernetzt vorbereiteter Aufstieg weiblicher Kunst um 1900 – meist männlichem Missmut zum Trotz – ist der geschichtliche Hintergrund dieser Publikation. Nicht überall bzw. nicht uneingeschränkt trafen solche »Modernen Frauen«, wie sie oft genannt wurden (vgl. S.10, 35) und auch sich selbst definierten, bei ihren vermeintlichen Geistesschwestern auf offene Ohren. Die junge, kaum 21-jährige Paula (Modersohn-)Becker beispielsweise berichtete ihren Eltern am 10. Januar 1897 aus Berlin: »So war ich am Freitag nach dem Akt in einem Vortrage: Goethe und die Frauenemanzipation. Die Vortragende, Fräulein [Natalie] von Milde, sprach sehr klar und sehr gut, und auch ganz vernünftig. Nur haben die modernen Frauen eine mitleidige, höhnische Art, von den Männern zu sprechen wie von gierigen Kindern. Das bringt mich dann gleich auf die männliche Seite.« Aber das Thema beschäftigte sie offenbar zu jener Zeit. In einem Tagebuchblatt notierte sie im Sommer 1897: »Worpswede, Worpswede, Du liegst mir immer im Sinn […]. Deine mächtigen großartigen Kiefern! Meine Männer nenne ich sie, breit, knorrig und wuchtig und groß, und doch mit feinen, feinen Fühlfäden und Nerven drin. So denke ich mir eine Idealkünstlergestalt. Und Deine Birken, die zarten, schlanken Jungfrauen, die das Auge erfreuen […]. Einige sind auch schon ganz männlich kühn, mit starkem, geradem Stamm. Das sind meine ›modernen Frauen‹ […].«5 Paula Becker reflektierte solche Kategorisierungen demnach ebenso wie ihre spätere Freundin, die angehende Bildhauerin Clara (Rilke-)Westhoff. Diese hatte sich etwa zur gleichen Zeit selbst als »regelrechtes emanzipiertes Fin-de-siècle-Weib« und »Malweib« bezeichnet – ein anderes, ursprünglich abschätzig gemeintes Schlagwort, das vermutlich in Münchner Kreisen geprägt worden war und um 1900 bereits weit verbreitet gewesen ist.6 Gleichwohl geriet Modersohn-Becker diese Zurückhaltung postum nicht zum Nachteil. Als eine der ersten verfasste 1911 die Berliner Publizistin und Frauenrechtlerin Lu Märten einen Essay über die früh verstorbene Malerin, die »nur einem kleinen Kreis von Künstlern bekannt ist, nach Qualität und Element ihres Schaffens aber verdiente, dem besten größten Teil eines kunstschauenden Publikums bekannt zu werden«.7 Die Jahreszahlen zweier früher bedeutender Ausstellungen bildender Künstlerinnen in Dresden bezeichnen die Eckdaten des Zeitraums, aus dem fast alle der im Folgenden besprochenen Werke stammen: 1892 und 1912. Beide Kunstausstellungen standen unter herrschaftlicher Protektion des Wettiner Königshauses. Sowohl Königin Carola als auch Prinzessin Mathilde von Sachsen waren künstlerisch sehr interessiert bzw. auch aktiv. Die sächsische Residenz war in den 1890er Jahren eine Hochburg weiblichen Kunstschaffens: »Kaum in einer anderen deutschen Kunststadt dürfte, und zwar nicht nur verhältnismäßig, das Kontingent der malenden Damen so stark sein wie in Dresden«, konstatierte man 1895, mit einigen vorurteilenden Vorbehalten. »Immerhin aber wäre es Unrecht zu verkennen, dass gegenwärtig in Dresden eine Anzahl Malerinnen leben [sic!], die sich mit ihren Leistungen getrost neben denen mancher ihrer männlichen Kollegen sehen lassen können.«8

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