Leseprobe

67 gewogenheiten der Farbtöne und der klaren einfachen Komposition entsprechen einander und stehen der Malerei des neuidealistischen Deutschrömers Hans von Marées nahe, ebenso die plastische Qualität der fruchttragenden Aktfigur. Paula Modersohn-Becker führte im Sinne der Reformbewegung für einen gesunden, freien Körper gymnastische Übungen mitunter unbekleidet aus. Die Künstlerin war aufgeschlossen gegenüber vielen Neuerungen um 1900, die auch Sittlichkeitsvorstellungen veränderten; Licht- und Luftbäder oder »Müllers Nacktgymnastik« waren ihr vertraut. Otto Modersohns Bilder aus dem Familienleben (Zeichnungen vom 3. November 1905) zeigen eine große Selbstverständlichkeit, mit der sie lebensreformerische Bewegungsübungen in ihren Alltag integrierte. Während dies für Anhängerinnen der aufkommenden Freikörperkultur im Privaten selbstverständliches Mittel war, eine Einheit von Körper und Seele zu erreichen, löste der öffentliche barfüßige und korsettlose Tanz von Isadora Duncan noch einen Skandal aus. Einen Tabubruch bedeuteten die Selbstakte von Paula Modersohn-Becker jedoch allenfalls bezogen auf ihre unkonventionelle Denk- und Handlungsweise. Für eine Veröffentlichung waren sie eher nicht bestimmt. Das ganzfigurige »Selbstbildnis als stehender Akt« entstand im selben Jahr wie der intime Halbakt »Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag« vom 5. Mai (Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen). Auch dort trägt sie eine Halskette aus Bernstein, der in Esoterik und Energielehre mit positiven Bedeutungen aufgeladen ist.2 Allgemein waren in der Bildenden Kunst Selbstdarstellungen als Akt bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein selten. Dementsprechend werden Modersohn-Beckers vermeintlich unverstellte Blicke auf das nackte Ich auch als revolutionäre Errungenschaften und Ikonen weiblicher Selbstbefreiung gewürdigt.3 Die Malerin selbst hegte allerdings eine gewisse Zurückhaltung gegenüber allzu radikalen Erscheinungsformen der Reform- und Frauenbewegungen. Dass sie zu Lebzeiten kaum öffentlich in Erscheinung getreten ist, mag u. a. auch darin begründet sein, dass sie mit aktiven Engagements oder Mitgliedschaften in etwaigen Künstlerinnen-Vereinigungen offenbar wenig sympathisierte. BD, AD 1 Vgl. dazu auch Ulrich Bischoff/Birgit Dalbajewa/Andreas Dehmer: Paula Modersohn-Becker und die Worpsweder in der Dresdener Galerie, Dresden 2012, S. 40 f. Für das erste Halbjahr 2026 plant das Albertinum die Sonderausstellung »Paula Modersohn-Becker und Edvard Munch. Die großen Fragen des Lebens«. 2 Betrifft u. a. Sakral- und Solarplexus-Chakra; freundlicher Hinweis von Ute Schweitzer, Berlin, 22. 6. 2023. 3 Vgl. Sie. Selbst. Nackt. Paula Modersohn-Becker und andere Künstlerinnen im Selbstakt, Ausst.-Kat. Museen Böttcherstraße, Paula Modersohn-Becker Museum 2013/14, hg. von Verena Borgmann/ Frank Laukötter, Ostfildern/Bremen 2013. Grundlegend Doris Hansmann: Akt und nackt. Der ästhetische Aufbruch um 1900 mit Blick auf die Selbstakte von Paula Modersohn-Becker, Weimar 2000.

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