Leseprobe

65 Paula Modersohn-Becker * 8. 2.1876 in Dresden-Friedrichstadt † 20.11.1907 in Worpswede Paula Becker war kulturell geprägt von ihrer Heimatstadt Dresden, wurde in der brodelnden Kunstszene Berlins der 1890er Jahre ausgebildet und kam zur Reife durch ihr Leben im naturnahen Worpswede sowie mehrfache Reisen in das kosmopolitische Paris. Heute gilt sie, ab 1901 verheiratet mit dem Maler Otto Modersohn, als bedeutendste Wegbereiterin der Moderne in Deutschland. Seit ihren frühen Parisaufenthalten und damit verbundenen Museumsbesuchen beschäftigte sich Paula Modersohn-Becker wiederholt mit schreitenden Figuren der Archaik sowie mit frühchristlichen Mumienbildnissen. Für ihr hochformatiges »Selbstbildnis als stehender Akt«1 konnte sie zudem auf ein besonders ausgewogenes Kompositionsschema der Porträtkunst zurückgreifen, welches auch von Eva-und-Adam-Darstellungen von Lucas Cranach d. Ä. bekannt ist. Wichtige weitere Anregungen bot ihr die einflussreiche Ausdruckstänzerin Isadora Duncan. Laut ihrer 1903 erschienenen programmatischen Schrift »Tanz der Zukunft« suchte Duncan im Tanz nach »ewig gleicher Harmonie« – so, dass »die Bewegung des Körpers die natürliche Sprache der Seele spricht«. Als »Sitz der Seele« und »aller Bewegungen« definierte die Tänzerin das Nervenzentrum oberhalb des Nabels. Entsprechend stellte sich Paula Modersohn-Becker dar: in ausgewogen anmutiger Schrittstellung, das Sonnengeflecht, den Solarplexus mit dem asiatischen Tanz verwandten Handbewegungen umkreisend. Für diese wohldurchdachte Komposition fertigte die Schwester der Künstlerin eigens eine Fotografie an. Die Orangen, die bei der Kreisbewegung zentral gehalten werden, sind zugleich der stärkste farbige Akzent in der sonst im Gleichklang der Abstufung von Haut- und Erdtönen gestimmten Palette. Die AusPaula Modersohn-Becker »Selbstbildnis als stehender Akt« 1906 ∙ Öl auf Leinwand, 169,7× 69,7 cm Leihgabe im Albertinum

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