Geteilte Geschichte. Europäische Verständigung Nach der documenta wurde in der Stadt ein erbitterter Streit über den Verbleib des Werkes geführt. Viele Bürgerinnen und Bürger sprachen sich dafür aus, den Obelisken am zentralen Platz der Stadt stehen zu lassen, andere lehnten die Botschaft des Kunstwerks ab und verlangten den Abbau. Nach langen Diskussionen im Stadtrat entschied der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle sich für einen Wiederaufbau in der Treppenstraße, einem weitaus weniger zentralen Ort in der Stadt Kassel. Die Geschichte des Obelisken von Olu Oguibe ist nur ein Beispiel, das eine starke Polarisierung im Hinblick auf das Thema Flucht und Vertreibung in der deutschen Gesellschaft verdeutlicht. Und das gilt ähnlich für viele europäische Länder. Zwar entscheiden in der Europäischen Union 27 Staaten gemeinsam über die Migrations- und Flüchtlingspolitik. Das Thema wird aber bis heute weiterhin in nationalstaatlichen und somit hauptsächlich innenpolitischen Logiken behandelt. Dabei ist eine Abschwächung der globalen Krisen nicht abzusehen. Tiefgreifende politische, soziale und religiöse Konflikte im Nahen Osten haben bis heute gespaltene Gesellschaften hinterlassen. Die dort geführten Bürgerkriege sind jedoch nicht nur Ursache für Fluchtbewegungen. Sie haben auch verdeutlicht, dass die Unterstützung oder Ablehnung der Regime auf Grundlage internationaler militärischer und sicherheitspolitischer Überlegungen getroffen werden. Russlands militärische Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien legte beispielsweise offen, dass geopolitische Aspekte und die Suche nach neuen Bündnissen eine Rolle spielen und die Sicherheitspolitik Europas neu herausfordern werden. Spätestens nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wurde klar, dass die europäische Sicherheits- und Friedensordnung auf längere Zeit erschüttert ist. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind nun durch den Krieg zur Flucht gezwungen. Auch Deutschland hat bisher knapp über eine Million Menschen aufgenommen. Die Frage, wie sich die Herausforderungen, die mit der Aufnahme von Flüchtlingen einhergehen, bewältigen lassen, wird bleiben. Eine weitere Aufgabe wird sein, den unterschiedlichen und vielleicht auch gegensätzlichen Erinnerungen und Fluchtgeschichten der hier ankommenden Menschen Raum zu geben und empathisch zu begegnen. Nicht ohne Grund verbindet die Ständige Ausstellung im Dokumentationszentrum die Vergangenheitserzählungen der Deutschen mit den Erfahrungen anderer von Zwangsmigration Betroffener. Während die deutsche Erlebnisgeneration von Flucht und Vertreibung allmählich verschwindet, erinnert die zweite und dritte Generation mit erweiterten Perspektiven und aktuellen Bezügen an das historische Geschehen. Auch sie werden sich den verändernden weltpolitischen Zusammenhängen stellen und eigene Vorstellungen von Erinnerungskultur entwickeln.
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