Erinnern und Gedenken Flucht und Vertreibung kritischer und stärker im Kontext der deutschen Schuld am Angriffs- und Vernichtungskrieg. Dies mag zwar in erster Linie für die Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren gelten, denn in der DDR galt das Postulat des Antifaschismus, das den Menschen die moralische Mitverantwortung für den Nationalsozialismus und die davon ausgehende Gewaltherrschaft nahm. Ein gesamtdeutsches Phänomen besteht seit den 1990er-Jahren darin, dass die Enkelgeneration das Schicksal Der feststehende Doppelbegriff Flucht und Vertreibung, der sich in seiner Bedeutung einer Übersetzung in eine andere Sprache weitgehend entzieht, benennt in Deutschland die Zwangsmigration von rund 14 Millionen Deutschen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs (Flucht) sowie in der Zeit danach, ob als unmittelbare Vertreibung oder als erzwungene Aussiedlung auch Jahre später. Darüber hinaus, und das ist das Besondere, hat sich Flucht und Vertreibung als ein Erinnerungskomplex manifestiert. Damit ist die Gesamtheit offizieller wie privater Formen der Erinnerung gemeint. Mit wachsendem Abstand zum historischen Ereignis läuft dieser – kritisch gesehen – Gefahr, durch ständige Wiederholung den Zustand einer stagnierenden Vergangenheitserzählung anzunehmen. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die gesellschaftliche Erinnerungskulturen seit vielen Jahren erforscht, warnt, dass eine solche Stagnation des Erinnerns sich dem Wissen, das aus lebendigen Erfahrungen bestehe, entgegenstelle. Der Erinnerungskomplex Flucht und Vertreibung gab auch Anlass zur Kritik aufgrund seiner langjährigen engen Verbindung zur Politik. Im Konflikt der Generationen über die Erinnerung an den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Frage nach der deutschen Schuld spielte die Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen eine zentrale Rolle. ihrer Großeltern wieder neu entdeckte. Seither wächst das Interesse sowohl für die Kulturen der Herkunftsregionen der deutschen Vertriebenen als auch für ihre Erlebniswelt und Traumata. Die ersten Bundesregierungen in den 1950er-Jahren waren darauf bedacht, einer gesellschaftlichen Gruppe mit der bedeutsamen Größe von etwa acht Millionen nicht nur auf der Ebene der wirtschaftlichen Eingliederung in der Gegenwart ein überzeugendes Angebot zu machen, sondern Ersatzheimaten Zweifellos haben die Erfahrungen von Heimat- und Besitzverlust und die damit oft verbundene Gewalt viele Familien in Deutschland nachhaltig geprägt. Von der Erinnerung an Flucht und Vertreibung sind drei Generationen betroffen, die jeweils andere Perspektiven auf das Thema entwickelten und teilweise kontrovers aufeinanderstießen. Während sich die erste Generation der unmittelbar Betroffenen weitgehend kollektiv als Opfer betrachtete, sahen viele Angehörige der Nachfolgegeneration ANDREA MOLL
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