Leseprobe

216 217 44 000 Menschen wurden nach Sibirien, in den Ural oder in den hohen Norden der Sowjetunion gebracht, wo sie in Bergwerken oder im Eisenbahnbau arbeiten mussten. Ab 1946 wurden viele von ihnen gesundheitsbedingt in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands (SBZ) entlassen, die letzten kehrten Anfang der 1950er-Jahre zurück. Im Herbst 1945 lebten noch etwa 140 000 Deutsche im nördlichen Teil Ostpreußens. Ihr Leben war fortan von strenger Arbeitspflicht, Aus- und Umquartierungen, eingeschränkter Bewegungsfreiheit und häufig auch Gewalt geprägt. Der Hunger war allgegenwärtig. Besonders im Winter 1946/47 starben überproportional viele einheimische Deutsche an Entkräftung, aber auch Epidemien wie Typhus und Malaria. Ein eindrucksvolles und zugleich bedrückendes Dokument dieser Zeit ist das Tagebuch von Charlotte Schmolei. In einem einfachen Rechnungsbuch notierte die junge Frau aus dem Samland von April 1945 bis November 1947, was sie erlebte und bewegte. Der tägliche Hunger, die schwere körperliche Arbeit in einer Militärsowchose, Krankheit und Sterben sind die bestimmenden Themen. Sie schreibt auch über Plünderungen, Vergewaltigungen, ihre Angst und die Sehnsucht nach Sicherheit. Viele ihrer Gedanken kreisen um das nackte Überleben: »9. Februar 1947 – Jutta Podack ist nun auch gestorben. Willi Linda ist gestern auf der Straße liegen geblieben. Auch schon ohnmächtig vor Hunger. Der Dei ist auch vor Hunger gestorben. [...] Mama ist nach Heiligenkreutz gegangen. Vielleicht bekommt sie noch ein paar Rüben. Wenn wir nur erst alle unter der Erde wären, dann hätten wir doch Ruhe. Es sieht doch so aus, als wenn es gar nicht mehr anders werden will. Ich merke auch mit jedem Tag, dass meine Kräfte schwinden. Papa sieht auch schon so elend aus. 3. März 1947 – Gestorben sind die Frau Stange, das Kind von Holz, das Kind von Zander, der Mazewski, der Junge von Karell. Alle vor Hunger und Kälte. 8. März 1947 – Es hat noch wieder so geschneit. Ich bin auch ganz am Verzagen. Es wird gesagt, wir sollen rauskommen. Wenn es nur erst so weit wäre. 16. März 1947 – Sonntag. Wir essen unser letztes Süppchen. Ich denke, jetzt ist alles zu Ende. [...] Eben ist die Frau Kuschinski auch vor Hunger gestorben. Jetzt friert es wieder. Es will nicht Frühling werden. [...] Der Dewinske ist auch vor drei Tagen gestorben. Frau Wittke hat ihren Hund geschlachtet. [...] Papa ist noch immer krank. 29. März 1947 – Mama holt Lindenknospen zum Suppekochen. [...] Mir war morgens so schlecht, wenn es nur etwas zu essen gäbe.« Das nördliche Ostpreußen unter sowjetischer Herrschaft Infolge des Potsdamer Abkommens wurde Ostpreußen zwischen der Sowjetunion und Polen aufgeteilt. Der nördliche Teil wurde 1946 als Kaliningrader Gebiet der Russischen Sowjetrepublik (RSFSR) angegliedert und das Memelland der Litauischen Sowjetrepublik zugeschlagen. Der größere südliche Teil kam unter polnische Verwaltung. Anders als für die Deutschen in Polen trafen die Alliierten in Bezug auf die deutsche Bevölkerung des sowjetischen Teils keinerlei Vereinbarungen. Da die Sowjetunion kein Interesse daran hatte, ein menschenleeres Gebiet zu übernehmen, forderte das sowjetische Militär jene Flüchtlinge, die im Winter und Frühjahr 1944 bis 1945 von der Roten Armee überrollt worden waren, zur Rückkehr in ihre Heimatorte auf. Viele kehrten nach Ende der Kampfhandlungen auch auf eigene Initiative zurück. Bereits im Februar 1945 begann die Rote Armee, auch aus Ostpreußen arbeitsfähige Erwachsene ins Innere der Sowjetunion zu verschleppen. Als Rechtsgrundlage diente ein auf der Konferenz von Jalta gefasster Beschluss, deutsche Arbeitskräfte für Reparationsleistungen einzusetzen. Schätzungsweise

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