88 89 Der gelbe Notizzettel führt wichtige Dokumente auf, wie Radmila Ercegs Diplomurkunde und den Eigentumsnachweis für ein Haus in Sarajevo. Auch praktische Dinge wie ein Radio und ein Batterieladegerät gehörten zu dem Wenigen, was sie mitnahm. Von größerer Bedeutung aber waren für sie die persönlichen Dinge, die sie an ihr Leben vor der Flucht erinnerten: Video- und Musikkassetten, Kinderschmuck, Filme und Fotos von der Familie sowie ein Tonband, auf dem die Stimme ihrer jüngsten Tochter zu hören ist. Gegenstände wie die, die Radmila Erceg mitgenommen hat, erinnern nicht nur an ein friedliches Leben. Sie stehen auch stellvertretend für den großen Verlust, den Flucht oder Vertreibung mit sich bringen. Nicht nur Hab und Gut gehen verloren, sondern auch Angehörige, Freunde, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, der soziale Status, ein ganzes Land, das Heimat gewesen war. Menschen auf der Flucht werden auf dem gefährlichen Weg, den sie gehen müssen, auf das bloße Überleben zurückgeworfen. Gefahrvolle Wege Welcher Weg ist auf der Flucht zu wählen, um das Ziel »Sicherheit« zu erreichen? Die Entscheidung für eine bestimmte Route ist folgenschwer, denn sie kann Gefahren und Unwägbarkeiten mit sich bringen. Auf ihrem riskanten Weg erleiden Betroffene häufig große Angst und sind der Willkür Anderer ausgesetzt. So unterschiedlich die Ursachen von Flucht und Vertreibung auch sind – die Probleme, vor denen Menschen fern ihrer Heimat stehen, ähneln sich über Zeit und Raum hinweg. Viele werden auf ihrem beschwerlichen Weg bedroht und erfahren Gewalt. Frauen auf der Flucht sind in hohem Maß von sexuellen Übergriffen betroffen. Kinder sind besonders verletzlich. Sie leiden vor allem darunter, plötzlich aus ihrer vertrauten Umgebung und ihrem gewohnten Alltag gerissen zu werden. Die erschütternden Erfahrungen, die der siebenjährige Eitel Koschorreck während des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht machte, gruben sich nachhaltig in sein Gedächtnis. Seine Familie lebte im ostpreußischen Masuchowken (1936–1945 Rodental). Im Januar 1945 hatte der sowjetische Vormarsch Ostpreußen vom Deutschen Reich abgeschnitten. Die einzige Möglichkeit, vor der Roten Armee zu fliehen, führte über einen der Ostseehäfen. Um dorthin zu gelangen, brachte Eitels Mutter ihn und seine Geschwister auf Schlitten der Pferdetrecks unter und ging selbst zu Fuß. Sie hüllte ihren Sohn in einen für ihn viel zu großen Fellmantel, um ihn vor der eisigen Kälte zu schützen. Wochenlang zogen sie im tiefsten Winter Richtung Ostsee, bis die Mutter im März 1945 starb. Eitel kam zusammen mit seinen beiden älteren Schwestern in ein Kinderheim in Neukloster bei Wismar in Mecklenburg- Vorpommern. Sein Vater kehrte 1946 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück und zog mit den Kindern nach Straußberg in Thüringen. Eitel kehrte zeitlebens nie an die Ostsee zurück. Er fürchtete die Erinnerung an Tod und Elend. Zu den vielen Hindernissen auf der Flucht gehören auch Grenzen zwischen Staaten. An diesen entscheiden in der Regel Andere, ob und wie der Weg weitergehen kann. Ab Februar 2015 etwa entdeckten Schutzsuchende aus Syrien oder Afghanistan die Möglichkeit, über die russischnorwegische Grenze nach Norwegen und damit in den Schengen-Raum zu gelangen. Sie nahmen Schnee und Eis auf dem Landweg in Kauf, um der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer zu entgehen. Nach russischen Vorschriften aber durfte der Grenzübergang nicht zu Fuß erfolgen. Deshalb kauften sich viele in Russland Fahrräder und warfen diese dann oft direkt nach dem Grenzübertritt weg.
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