Leseprobe

Wege und Lager NOTIZZETTEL VON RADMILA ERCEG Zvornik/Bosnien und Herzegowina, 1992 Aufbruch ins Ungewisse Jeder Aufbruch ist anders. Das Ereignis selbst ist wohl für die meisten einschneidend und hinterlässt tiefe Spuren. Was macht ihn aus, diesen bestimmten Moment, wenn Menschen gezwungen sind, ihr Zuhause zu verlassen? In der Regel gibt es nur wenige Zeugnisse davon. Es kann eine behördliche Anweisung sein, die Zwangsmigration anordnet oder koordiniert. Manche Menschen notieren hastig wichtige Dinge auf einer Liste, um sie nicht zu vergessen. Anderes steht wiederum für die Hoffnung auf eine Rückkehr, wie der Schlüssel zur Wohnung oder zum eigenen Haus. Manchmal gibt das Gepäck Auskunft über die Umstände des Aufbruchs. Blieb vor der Flucht oder Vertreibung genügend Zeit zum Packen? Ließ sich etwas vorausschicken? Fast immer schrumpft ein ganzer Hausstand auf wenige Gegenstände zusammen. Ist es wichtiger, Proviant und Kleidung einzupacken oder die Familienfotos? Menschen stehen dann vor der schmerzhaften Aufgabe, entscheiden zu müssen, was sie mitnehmen und was sie, wahrscheinlich für immer, zurücklassen. Radmila Erceg hatte vor ihrer Flucht keine Zeit zu packen. Sie konnte sich mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern gerade noch vor den bosnischserbischen Truppen in Sicherheit bringen. Als 1991 der Krieg in Jugoslawien ausbrach, lebte sie mit ihrer Familie in der Gemeinde Zvornik in Bosnien und Herzegowina. Ihr Mann hatte einen muslimischen und sie einen serbisch-orthodoxen Hintergrund. Vor dem Krieg gab es in Bosnien und Herzegowina kaum ethnisch homogene Gemeinden. Wie Radmila Erceg und ihr Mann waren viele Menschen über ethnische und religiöse Grenzen hinweg verwandtschaftlich miteinander verbunden. Im Frühjahr 1992 besetzten bosnisch-serbische Truppen das an der Grenze zu Serbien liegende Zvornik. Sie vertrieben, misshandelten oder ermordeten die muslimische Bevölkerung. Die Familie Erceg rettete sich zu Freunden ins 150 Kilometer entfernte Novi Sad. Kurze Zeit später kehrte Radmila Erceg unter Lebensgefahr noch einmal nach Hause zurück, um ihrer Schwiegermutter und ihrer Schwägerin bei der Flucht zu helfen. Außerdem wollte sie einige persönliche Gegenstände holen, die ihr Mann auf einem gelben Zettel aufgelistet hatte. LUDMILA GELWICH

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