KATALOG ZUR STÄNDIGEN AUSSTELLUNG FLUCHT VERTREIBUNG VERSÖHNUNG DOKUMENTATIONS ZENTRUM F L U C H T VERTREIBUNG VERSÖHNUNG
KATALOG ZUR STÄNDIGEN AUSSTELLUNG FLUCHT VERTREIBUNG VERSÖHNUNG HERAUSGEGEBEN VON DER STIFTUNG FLUCHT, VERTREIBUNG, VERSÖHNUNG SANDSTEIN VERLAG DOKUMENTATIONSZENTRUM
EINE EUROPÄISCHE GESCHICHTE DER ZWANGS MIGRATIONEN 7 ZUGANG ZU DIGITALEM KATALOGMATERIAL 8 VORWORT 12 EINFÜHRUNG IN DIE AUSSTELLUNG 30 NATION UND NATIONALISMUS 48 KRIEG UND GEWALT 66 RECHT UND VERANTWORTUNG 84 WEGE UND LAGER 104 ERINNERUNG UND KONTROVERSEN 122 VERLUST UND NEUANFÄNGE
FLUCHT UND VERTREIBUNG DER DEUTSCHEN 144 DEUTSCHE EXPANSIONSPOLITIK 172 UMSIEDLUNGEN, EVAKUIERUNGEN UND FLUCHT 192 NEUORDNUNG DURCH VERTREIBUNGEN 238 FLÜCHTLINGE UND VERTRIEBENE IN DEUTSCHLAND NACH 1945 262 ERINNERN UND GEDENKEN 278 GETEILTE GESCHICHTE. EUROPÄISCHE VERSTÄNDIGUNG 294 ÜBER FLUCHT SPRECHEN: PUBLIKUMSBETEILIGUNG IM FORUM 317 DANKSAGUNG 318 WEITERFÜHRENDE LITERATUR 329 AUTOREN- UND AUTORINNENVERZEICHNIS 330 IMPRESSUM
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KRIEG UND GEWALT
50 51 der Menschen ein. Mithilfe moderner Waffentechnik und Logistik bekämpften die Kriegsparteien nicht mehr nur die gegnerische Armee, sondern nahmen feindliche Gesellschaften insgesamt ins Visier. Damit richtete sich die Gewalt in Kriegen stärker als je zuvor gegen die Zivilbevölkerung. Für die Verantwortlichen war es während und nach einem Krieg wesentlich einfacher, unliebsame Teile der Bevölkerung zu vertreiben. Ganze Gesellschaftsgruppen wurden aufgrund ihrer nationalen, religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit zum Feind erklärt. Menschen wurden weltweit zur Flucht gezwungen, vertrieben und deportiert. Sie wurden Opfer sexueller Gewalt oder systematisch ermordet. Nationalistische oder rassistische Vorstellungen von einer homogenen Gesellschaft bildeten dafür die Grundlage. Dabei wurden Medien immer wieder zu wirkungsvollen Instrumenten, um die Gewalt vorzubereiten und zu rechtfertigen. Im 20. Jahrhundert drang kriegerische Gewalt stärker als je zuvor in den Alltag < TEIL DER LEITINSTALLATION Die Objekte sind Zeugnisse von Kriegen und von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, ähnlich wie Beweisstücke in einer Asservatenkammer bei einem Gerichtsprozess.
Krieg und Gewalt BELGISCHER FLÜCHTLINGSTRECK Belgien, 1914 Flucht vor Krieg und Gewalt Kriege und politische Gewaltherrschaft sind die wichtigsten Auslöser dafür, dass Millionen Menschen fliehen müssen. Dabei können nach dem Krieg verschobene Grenzen, Jahrzehnte andauernde oder eingefrorene Konflikte eine zunächst als kurzzeitig gedachte Flucht zu einem langfristigen oder sogar dauerhaften Zustand werden lassen. Flucht ist eine universelle Erfahrung, die Menschen auf der ganzen Welt gemacht haben und immer noch machen. Eine der ersten großen Fluchtbewegungen im 20. Jahrhundert löste der Erste Weltkrieg 1914 bis 1918 aus. Allein nach dem deutschen Angriff auf Belgien flohen 1,4 Millionen Menschen in die Niederlande, nach Frankreich oder Großbritannien. Gleichzeitig flüchteten 1914 eine halbe Million Deutsche aus Ostpreußen Richtung Westen. In diesem Weltkrieg erreichte die Gewalt von Armeen gegen die Bevölkerung der gegnerischen Seite, aber auch das gewaltvolle Vorgehen staatlicher Organe gegen die eigene Bevölkerung eine neue Dimension. Im Zweiten Weltkrieg 1939 bis 1945 erfuhr der Terror gegen Zivilpersonen erneut eine brutale Steigerung. Nach den beiden verheerenden Weltkriegen lösten die Stellvertreterkriege des Kalten Kriegs massive Fluchtbewegungen aus. Neben dem Vietnamkrieg 1955 bis 1975 und dem Krieg in Afghanistan 1979 bis 1989 zählt der Koreakrieg 1950 bis 1953 zu den größten indirekt ausgetragenen bewaffneten Konflikten zwischen den verfeindeten Blöcken USA und Sowjetunion. Dieser Krieg richtete sich in hohem Maße gegen die Zivilbevölkerung und führte LUDMILA GELWICH
52 53 gen Fällen geplant. Doch das Echo in der Bevölkerung war so groß, dass das Programm 138 Tage lang ausgestrahlt wurde. Über 10 000 Menschen fanden über das Fernsehen ihre Angehörigen wieder. Die UNESCO erklärte die Dokumentensammlung und die Filmaufnahmen der TV-Sendung 2015 zum Weltdokumentenerbe. Oft überqueren Menschen auf ihrer Flucht keine Staatsgrenzen, sondern suchen zunächst Schutz und Sicherheit im eigenen Land. Sie hoffen, bald wieder nach Hause zurückkehren zu können. Weltweit gesehen stellen sie die größte Gruppe von Flüchtlingen überhaupt. Laut UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, waren Ende des Jahres 2022 mehr als 62 Millionen Menschen in 35 Ländern Binnenvertriebene. Neben Kolumbien und Syrien gehörte die Ukraine zu den Ländern mit den meisten innerhalb des Lands vertriebenen Personen. Russland annektierte bereits 2014 die Halbinsel Krim und unterstützte separatistische Gruppen im Osten der Ukraine, die gewaltsam die Unabhängigkeit der Regionen Donezk und Luhansk erreichen wollten. Diese Ereignisse zwangen Millionen von Menschen zur Flucht KARTEIKARTE ZUR SUCHE NACH VERMISSTEN ANGEHÖRIGEN Seoul/Südkorea, 1983 Während der Sendung hielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Karteikarten hoch. Die Nummer links oben kennzeichnete einen bestimmten Fall, darunter war eine Kontakttelefonnummer angegeben. AUSSCHNITTE AUS DER SENDUNG AUF DER SUCHE NACH DEN VER- MISSTEN FAMILIENANGEHÖRIGEN zu der bis heute anhaltenden Teilung des Landes in Nord- und Südkorea. Der Koreakrieg und die Teilung des Landes trennten mehrere Millionen Menschen gewaltsam von ihren Familien. Kontakt zu Angehörigen im jeweils anderen Teil der Halbinsel war enorm schwierig oder bestand überhaupt nicht. 30 Jahre nach dem Waffenstillstand zeigte 1983 die südkoreanische TV-Sendung Auf der Suche nach den vermissten Familienangehörigen, dass viele Menschen in Südkorea immer noch nach Verwandten suchten. Zuerst war nur eine zweistündige Sendung mit weniSCAN ME
Krieg und Gewalt Der russische Überfall auf die Ukraine 2022 wurde von Deportationen als Teil der Kriegsführung begleitet. Russische Truppen verschleppten systematisch Kinder und Jugendliche aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland. Dort wurden sie in Umerziehungslagern festgehalten. Wegen dieser Kriegsverbrechen hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag am 17. März 2023 Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen. Vertreibung und Deportation als Kriegsstrategie Vertreibungen und Deportationen sind oft ein Mittel der Kriegsführung, ein Druckmittel für spätere Friedensverhandlungen oder sogar das eigentliche Kriegsziel. Gerade in Kriegszeiten vertreiben oder deportieren Konfliktparteien systematisch vermeintlich feindliche Bevölkerungsgruppen – obwohl es nach internationalem Recht verboten ist. Militärische Notwendigkeit und die Sicherheit der eigenen Truppen erforderten dies, so begründen es MachthaIM KRIEG GESCHMOLZENES KELCHGLAS Ukraine, 2014 In der Ostukraine bargen Bewohnerinnen und Bewohner eines zerstörten Dorfes 2014 aus den Trümmern ihres Hauses die Reste eines geschmolzenen Glases. und machten sie zu Vertriebenen im eigenen Land. Am 24. Februar 2022 griff Russland mit rund 150 000 Soldaten die gesamte Ukraine von Norden, Osten und Süden an. In den besetzten Gebieten vertrieben russische Truppen die Bevölkerung, die sich nicht zu Russland bekannte, oder nötigten sie zur Flucht. Ende des Jahres befanden sich fast sechs Millionen Menschen innerhalb des Lands auf der Flucht. Darüber hinaus suchten mehr als fünf Millionen Schutz in europäischen Ländern wie Polen, der Slowakei, Ungarn, Österreich oder Deutschland.
WEGE UND LAGER EINFÜHRUNGSFILM SCAN ME
86 87 Nicht selten ist eine Rückkehr auch nach Jahren des Wartens nicht möglich. Dann ist das Zuhause endgültig verloren. Menschen fliehen einzeln oder in Gruppen. Sie werden systematisch vertrieben oder verlassen ihr Heim in größter Eile. Dabei werden oft Familien und andere Gemeinschaften auseinandergerissen. Unabhängig von Ort und Zeit eint alle Flüchtlinge und Vertriebenen die Suche nach Schutz und Sicherheit. Dafür nehmen sie lebensgefährliche Wege auf sich. Erreichen sie ihr Ziel, harren sie oft monate- oder jahrelang in provisorischen Unterkünften und Flüchtlingslagern aus. Bilder von Flüchtlingstrecks und behelfsmäßigen Lagern kehren seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder. Wer flieht oder vertrieben wird, verlässt seine Heimat auf unbestimmte Zeit. < BLICK IN DIE VITRINE Milchtopf der Familie Zimmermann (Flucht aus Pommern 1945), Spielzeugflugzeug von Anton Bender (Spätaussiedlung aus Kasachstan 1990) und ein auf einem Rettungsboot zurückgelassener Schuh (Mittelmeer 2016).
Wege und Lager NOTIZZETTEL VON RADMILA ERCEG Zvornik/Bosnien und Herzegowina, 1992 Aufbruch ins Ungewisse Jeder Aufbruch ist anders. Das Ereignis selbst ist wohl für die meisten einschneidend und hinterlässt tiefe Spuren. Was macht ihn aus, diesen bestimmten Moment, wenn Menschen gezwungen sind, ihr Zuhause zu verlassen? In der Regel gibt es nur wenige Zeugnisse davon. Es kann eine behördliche Anweisung sein, die Zwangsmigration anordnet oder koordiniert. Manche Menschen notieren hastig wichtige Dinge auf einer Liste, um sie nicht zu vergessen. Anderes steht wiederum für die Hoffnung auf eine Rückkehr, wie der Schlüssel zur Wohnung oder zum eigenen Haus. Manchmal gibt das Gepäck Auskunft über die Umstände des Aufbruchs. Blieb vor der Flucht oder Vertreibung genügend Zeit zum Packen? Ließ sich etwas vorausschicken? Fast immer schrumpft ein ganzer Hausstand auf wenige Gegenstände zusammen. Ist es wichtiger, Proviant und Kleidung einzupacken oder die Familienfotos? Menschen stehen dann vor der schmerzhaften Aufgabe, entscheiden zu müssen, was sie mitnehmen und was sie, wahrscheinlich für immer, zurücklassen. Radmila Erceg hatte vor ihrer Flucht keine Zeit zu packen. Sie konnte sich mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern gerade noch vor den bosnischserbischen Truppen in Sicherheit bringen. Als 1991 der Krieg in Jugoslawien ausbrach, lebte sie mit ihrer Familie in der Gemeinde Zvornik in Bosnien und Herzegowina. Ihr Mann hatte einen muslimischen und sie einen serbisch-orthodoxen Hintergrund. Vor dem Krieg gab es in Bosnien und Herzegowina kaum ethnisch homogene Gemeinden. Wie Radmila Erceg und ihr Mann waren viele Menschen über ethnische und religiöse Grenzen hinweg verwandtschaftlich miteinander verbunden. Im Frühjahr 1992 besetzten bosnisch-serbische Truppen das an der Grenze zu Serbien liegende Zvornik. Sie vertrieben, misshandelten oder ermordeten die muslimische Bevölkerung. Die Familie Erceg rettete sich zu Freunden ins 150 Kilometer entfernte Novi Sad. Kurze Zeit später kehrte Radmila Erceg unter Lebensgefahr noch einmal nach Hause zurück, um ihrer Schwiegermutter und ihrer Schwägerin bei der Flucht zu helfen. Außerdem wollte sie einige persönliche Gegenstände holen, die ihr Mann auf einem gelben Zettel aufgelistet hatte. LUDMILA GELWICH
88 89 Der gelbe Notizzettel führt wichtige Dokumente auf, wie Radmila Ercegs Diplomurkunde und den Eigentumsnachweis für ein Haus in Sarajevo. Auch praktische Dinge wie ein Radio und ein Batterieladegerät gehörten zu dem Wenigen, was sie mitnahm. Von größerer Bedeutung aber waren für sie die persönlichen Dinge, die sie an ihr Leben vor der Flucht erinnerten: Video- und Musikkassetten, Kinderschmuck, Filme und Fotos von der Familie sowie ein Tonband, auf dem die Stimme ihrer jüngsten Tochter zu hören ist. Gegenstände wie die, die Radmila Erceg mitgenommen hat, erinnern nicht nur an ein friedliches Leben. Sie stehen auch stellvertretend für den großen Verlust, den Flucht oder Vertreibung mit sich bringen. Nicht nur Hab und Gut gehen verloren, sondern auch Angehörige, Freunde, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, der soziale Status, ein ganzes Land, das Heimat gewesen war. Menschen auf der Flucht werden auf dem gefährlichen Weg, den sie gehen müssen, auf das bloße Überleben zurückgeworfen. Gefahrvolle Wege Welcher Weg ist auf der Flucht zu wählen, um das Ziel »Sicherheit« zu erreichen? Die Entscheidung für eine bestimmte Route ist folgenschwer, denn sie kann Gefahren und Unwägbarkeiten mit sich bringen. Auf ihrem riskanten Weg erleiden Betroffene häufig große Angst und sind der Willkür Anderer ausgesetzt. So unterschiedlich die Ursachen von Flucht und Vertreibung auch sind – die Probleme, vor denen Menschen fern ihrer Heimat stehen, ähneln sich über Zeit und Raum hinweg. Viele werden auf ihrem beschwerlichen Weg bedroht und erfahren Gewalt. Frauen auf der Flucht sind in hohem Maß von sexuellen Übergriffen betroffen. Kinder sind besonders verletzlich. Sie leiden vor allem darunter, plötzlich aus ihrer vertrauten Umgebung und ihrem gewohnten Alltag gerissen zu werden. Die erschütternden Erfahrungen, die der siebenjährige Eitel Koschorreck während des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht machte, gruben sich nachhaltig in sein Gedächtnis. Seine Familie lebte im ostpreußischen Masuchowken (1936–1945 Rodental). Im Januar 1945 hatte der sowjetische Vormarsch Ostpreußen vom Deutschen Reich abgeschnitten. Die einzige Möglichkeit, vor der Roten Armee zu fliehen, führte über einen der Ostseehäfen. Um dorthin zu gelangen, brachte Eitels Mutter ihn und seine Geschwister auf Schlitten der Pferdetrecks unter und ging selbst zu Fuß. Sie hüllte ihren Sohn in einen für ihn viel zu großen Fellmantel, um ihn vor der eisigen Kälte zu schützen. Wochenlang zogen sie im tiefsten Winter Richtung Ostsee, bis die Mutter im März 1945 starb. Eitel kam zusammen mit seinen beiden älteren Schwestern in ein Kinderheim in Neukloster bei Wismar in Mecklenburg- Vorpommern. Sein Vater kehrte 1946 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück und zog mit den Kindern nach Straußberg in Thüringen. Eitel kehrte zeitlebens nie an die Ostsee zurück. Er fürchtete die Erinnerung an Tod und Elend. Zu den vielen Hindernissen auf der Flucht gehören auch Grenzen zwischen Staaten. An diesen entscheiden in der Regel Andere, ob und wie der Weg weitergehen kann. Ab Februar 2015 etwa entdeckten Schutzsuchende aus Syrien oder Afghanistan die Möglichkeit, über die russischnorwegische Grenze nach Norwegen und damit in den Schengen-Raum zu gelangen. Sie nahmen Schnee und Eis auf dem Landweg in Kauf, um der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer zu entgehen. Nach russischen Vorschriften aber durfte der Grenzübergang nicht zu Fuß erfolgen. Deshalb kauften sich viele in Russland Fahrräder und warfen diese dann oft direkt nach dem Grenzübertritt weg.
FELLMANTEL VON EITEL KOSCHORRECK Masuchowken (1936–1945 Rodental)/Deutsches Reich, vor 1945
90 91 SCAN ME VON DER GRENZPOLIZEI EINGESAMMELTE FAHRRÄDER AN DER RUSSISCH-NORWEGISCHEN GRENZE Storskog/Norwegen, 2015 FOTOSERIE GRENZÖFFNUNG ALS AUSSENPOLITISCHES DRUCKMITTEL Kurz darauf riegelte Norwegen seine Grenze zu Russland mit einem Zaun ab. Solche Grenzschließungen sind keine Seltenheit. Ende 2022 umgaben den EU-/Schengen-Raum 19 Grenzanlagen mit einer Gesamtlänge von über 2 000 Kilometern. Die zum Teil meterhohen Zäune und Mauern waren teilweise mit Kameras, Bewegungsmeldern und Stacheldraht ausgestattet. Grenzöffnungen hingegen können zum außenpolitischen Druckmittel werden. 2016 hatte sich die Türkei in einem Abkommen mit der Europäischen Union (EU) dazu verpflichtet, Menschen auf der Flucht aufzunehmen. Im Gegenzug unterstützte die EU das Land finanziell. Doch im Februar 2020 setzte die türkische Regierung das Abkommen aus und öffnete die Grenze für Flüchtlinge in Richtung Europäische Union. Die Aktion diente dazu, den außenpolitischen Druck auf die EU zu erhöhen. Die Türkei forderte Hilfe bei der Aufnahme der Millionen von Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg in das Nachbarland flohen.
Wege und Lager Nach der türkischen Grenzöffnung zogen Tausende zur griechischen Grenze. Doch Griechenland lehnte ihre Aufnahme ab. Griechische Sicherheitskräfte setzten Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Schutzsuchenden teils brutal am Grenzübertritt zu hindern. Die zurückgedrängten Menschen mussten im Winter ohne sanitäre Einrichtungen und Nahrung an der Grenze zu Griechenland ausharren. Diese sogenannten Pushbacks, bei denen Flüchtende gewaltsam an der Grenze zurückgeschickt werden, und zwar bevor sie die Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen, sind rechtswidrig. Sie verstoßen gegen geltendes Völkerrecht, das Menschen das Recht einräumt, Asyl zu beantragen. Neben Grenzen haben Kriegsverläufe einen großen Einfluss auf die Fluchtwege, da Schutzsuchende Gebiete möglichst meiden, in denen es Kampfhandlungen gibt. Natürliche Hindernisse wie Gebirge oder Gewässer stellen zusätzliche Gefahren dar. Besonders gefährlich ist zu allen Zeiten die Flucht über das Meer gewesen. Symbolische Bedeutung für die verzweifelte Notlage bei der Flucht über das Mittelmeer erlangte im September 2015 das Foto des kleinen Alan Kurdi. Das Bild zeigt den Jungen tot am Strand der türkischen Küste liegend. Alans Familie war auf der Flucht vor dem syrischen Bürgerkrieg und hatte versucht, in einem überfüllten Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Mit dem Foto tauchten ein Gesicht und ein Name aus der Menge der Ertrunkenen auf. Wie ein Weckruf ging es um die Welt. Neben den oft wenig seetauglichen Booten ist die komplizierte Orientierung auf dem Wasser die größte Gefahr. Allzu oft sind Menschen auf der Flucht dafür unzureichend ausgestattet. Das Schiff MS Aquarius der Hilfsorganisation SOS Méditerranée rettete von 2016 bis 2018 Schiffbrüchige im Mittelmeer. Im Sommer 2016 nahm das Schiff Menschen von einem Holzboot etwa 25 Meilen vor der libyschen Küste auf. Sie brachten einen analogen Kompass mit an Bord. Der Kapitän der Aquarius, Alexander Moroz, bewahrte das Instrument auf. Es handelt sich um ein einfaches Massenprodukt aus China mit einem Stromanschluss für die Beleuchtung. Eine Bestimmung des Kurses ist damit nicht möglich. Zusätzlich muss die eigene Position bekannt und eine Karte zur Orientierung vorhanden sein, was selten der Fall ist. Flüchtlingsboote kommen deshalb oft vom Kurs ab und treiben tagelang auf offener See. Für die Betroffenen ist die Hilfe durch Rettungsmissionen daher überlebenswichtig. ANALOGER KOMPASS China, um 2015
LAGER ZAATARI Zaatari/Jordanien, 2013
174 175 Damit setzte auch die millionenfache Zwangsmigration Deutscher ein, die in der deutschen Erinnerung mit dem Wortpaar Flucht und Vertreibung umschrieben wird. Wenn in diesem Zusammenhang von Deutschen die Rede ist, so sind Bürgerinnen und Bürger des Deutschen Reichs wie auch Angehörige der in Ostmittel- und Südosteuropa lebenden deutschsprachigen Minderheiten gemeint. 1943 begann der Rückzug deutscher Truppen an der Ostfront. Bis zum Kriegsende im Mai 1945 bedingte der Kriegsverlauf unterschiedliche Bevölkerungsbewegungen, die von der behördlich angeordneten Evakuierung bis zur selbstorganisierten Flucht reichten. Diese sicherlich dramatischste Phase von Flucht und Vertreibung kostete infolge von Gewalt, ungünstigen Witterungsverhältnissen, Entkräftung und schlechter Versorgung Hunderttausenden das Leben. < GROSSEXPONATE Bei der Evakuierung aus Erdevik/Jugoslawien im Oktober 1944 genutzter Wagen und Kiste der donauschwäbischen Familie Ferger.
Umsiedlungen, Evakuierungen und Flucht Allerdings war es die Siedlungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands, die schon ab 1939 für umfangreiche Bevölkerungsverschiebungen gesorgt hatte. Den Auftakt bildete die Aktion Heim ins Reich, die im Graubereich zwischen Freiwilligkeit und Zwang durchgeführt wurde. Diese Umsiedlungen leiteten bereits ab 1939 das Ende vieler deutschsprachiger Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa ein. Heim ins Reich: Nationalsozialistische Umsiedlungen Die vom NS-Staat unter dem Schlagwort Heim ins Reich durchgeführten Umsiedlungen hatten das vorrangige Ziel, die von Deutschland annektierten polnischen Gebiete zu germanisieren. Am 28. September 1939 vereinbarten Deutschland und die Sowjetunion in einem vertraulichen Protokoll zum DeutschSowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag die Umsiedlung deutscher Minderheiten aus den sowjetischen Interessensgebieten in den deutschen Einflussbereich. Für die Organisation und Durchführung der Um- und Ansiedlung waren die Volksdeutsche Mittelstelle (VoMi) und die Einwandererzentralstelle (EWZ) zuständig. Die Ansiedlung erfolgte zumeist im Warthegau, in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien. Den Anfang machte 1939 und 1940 die Umsiedlung von Deutschbaltinnen und Deutschbalten aus Estland und Lettland. 1940 kamen Deutsche aus dem sowjetisch besetzten Ostpolen (Galizien, Narewgebiet und Wolhynien) sowie aus der Nordbukowina und Bessarabien hinzu, die ebenfalls sowjetisch besetzt waren. Aufgrund eines Abkommens zwischen dem Deutschen Reich und Rumänien wurden zudem Deutsche aus der Südbukowina und der Dobrudscha umgesiedelt. Es folgten schließlich Anfang März 1941 Litauendeutsche und sogenannte Nachumsiedler aus Estland und Lettland. Insgesamt wurden bis Juni 1941 auf der Basis zwischenstaatlicher Verträge rund eine halbe Million Deutsche ins Reich und in die annektierten Gebiete umgesiedelt. Die Bereitschaft zur Umsiedlung war bei den betroffenen Bevölkerungsgruppen zumeist hoch, denn sie fürchteten sich vor politischen Repressionen und Enteignungen durch die Sowjetmacht. Doch auch ein stark idealisiertes Deutschlandbild trug mit dazu bei, dass viele die Umsiedlung als alternativlos ansahen. Die nationalsozialistische Propaganda inszenierte Heim ins Reich als epochales Großereignis und organisatorische Meisterleistung, obgleich die Aktion für die Betroffenen mit unzumutbaren Verzögerungen und Härten verbunden war. PROPAGANDA FÜR KINDER: TIPP UND TAPP Berlin/Deutsches Reich, 1941 Die mit der Umsiedlung beauftragte Volksdeutsche Mittelstelle wollte auch Kinder erreichen. Sie gab einen der ersten deutschen Comics in Auftrag. Er erzählt die Geschichte eines Jungen aus Wolhynien, der sich mit seinem Dackel auf den Weg »heim ins Reich« macht. ANDREA KAMP
Abstieg verbunden, da die Betroffenen dort der Einsatz als billige Arbeitskräfte erwartete. Zudem waren sie schneller für den Militärdienst verfügbar. Personen, die als fremdvölkisch oder rassisch unerwünscht eingestuft wurden, drohte die Rückführung in ihre Herkunftsländer oder die Deportation ins Generalgouvernement. Wurden vermeintlich erbliche Krankheiten beziehungsweise geistige oder körperliche Einschränkungen festgestellt, so gerieten die Betroffenen schnell in den Sog sogenannter erbgesundheitspolitischer Maßnahmen, die von der Hospitalisierung bis hin zum Patientenmord reichten. Der Ansiedlungsprozess war mit langen Wartezeiten im Lager, unzulänglicher Betreuung seitens der NS-Behörden und der Auflösung gewohnter sozialer Strukturen und Bindungen verbunden. Für viele standen zudem die versprochenen Hofstellen nicht zur Verfügung und sie mussten über Jahre im Provisorium eines Lagers ausharren. Nur etwa die Hälfte der Umgesiedelten bekam Haus und Hof zugeteilt und profitierte damit von der vorausgegangenen Vertreibung und entschädigungslosen Enteignung der polnischen und jüdischen Bevölkerung. »ERFASST UND IN KATEGORIEN EINGETEILT« Alfons Adam Kurator »DIE KONTROLLE ÜBER DAS EIGENE SCHICKSAL VERLIEREN« Horst Köhler Bundespräsident a.D., dessen Eltern aus Bessarabien stammen »DREI DIMENSIONEN DER UMSIEDLUNG« Isabel Heinemann Historikerin Nach der Aussiedlung aus ihren Herkunftsgebieten mussten die meisten Umsiedlerinnen und Umsiedler sich zunächst in Lagern der EWZ rassisch, medizinisch und politisch untersuchen lassen. Vom Untersuchungsergebnis hing ab, ob ihre Ansiedlung im Osten erfolgte, wo ihnen Land und Besitz in Aussicht gestellt wurde, oder ob sie ins Altreich kamen. Letzteres war in der Regel mit einem sozialen SCAN ME KENNKARTE FÜR DEUTSCHE UMSIEDLER Gura Humora (Gura Humorului)/Rumänien, 1940 Beim Transport trugen die Umzusiedelnden eine Kennkarte mit persönlicher Nummer und Stempeln über gesundheitliche Untersuchungen. Der Inhaber dieser Karte wurde aus der Südbukowina nach Oberschlesien umgesiedelt.
Umsiedlungen, Evakuierungen und Flucht Einbürgerungsformalitäten der Umsiedlerinnen und Umsiedler unterwegs erledigte. Über die ethnische Zugehörigkeit der Schillers waren sich die deutschen Beamten aber unsicher: Waren sie Deutsche oder Litauer? Sie erhielten nicht die deutsche Staatsbürgerschaft und kamen auch nicht in die annektierten polnischen Gebiete, sondern stattdessen in die Kleinstadt Bütow in Pommern. Familienvater Georg Schiller nahm dort eine Stelle bei der Reichsbahn an. Im Februar 1945 floh die Familie vor der heranrückenden Front zum Ostseehafen Gdingen (Gdynia, 1939–1945 Gotenhafen). Dort wurde sie getrennt. Während Anna Schiller mit dem jüngeren Sohn Hans per Schiff nach Dänemark gelangte, kam Georg Schiller mit Sohn Eduard nach Swinemünde. Erst im Oktober 1948 fand die Familie wieder zusammen. Deportationen, Flucht und Evakuierungen beim Rückzug an der Ostfront Nach der deutschen Niederlage in Stalingrad Anfang 1943 begann die Wehrmacht, sich an der Ostfront zurückzuziehen. Dieser Rückzug war von Zwangsrekrutierungen, Deportationen und Evakuierungen der Zivilbevölkerung begleitet. Ab Herbst 1943 evakuierten NS-Behörden parallel zum militärischen Rückzug Hunderttausende Deutsche hauptsächlich aus der Ukraine und dem Schwarzmeergebiet ins Altreich und in den Warthegau. Hier wurden sie Anfang 1945 von sowjetischen Truppen eingeholt. Diese deportierten sodann diejenigen Russlanddeutschen, denen die weitere Flucht nach Westen nicht gelang, zurück in die Sowjetunion, nach Sibirien und Kasachstan. Maria Kußmaul war im März 1944 mit ihren beiden Töchtern Ella und Alita und ihrer Schwiegermutter Elisabeth aus dem Gebiet Odessa in den Warthegau geflüchtet. Von dort verschleppten sie die sowjetiTrotz der unterschiedlichen Erfahrungen je nach Herkunft, Zeitpunkt und Umständen der Umsiedlung teilten diese Menschen bei Ende des Kriegs das Schicksal von Flucht, Vertreibung und erneuter Unterbringung in Lagern. Für viele entwickelte sich die von den NS-Behörden initiierte Umsiedlung zu einer jahrelangen Odyssee – etwa für die Familie Schiller aus Litauen. Im Sommer 1941 wurde sie in einem Sonderzug umgesiedelt. Neben dem Transport diente der Zug als fahrende Behörde, die die RUSSLANDDEUTSCHES GESANGBUCH Saratow/Russisches Kaiserreich, 1913 Für Maria Kußmaul aus dem Gebiet Odessa war das Gesangbuch ein wichtiges Andenken an ihren Vater. Er wurde 1929 als Großbauer (Kulak) von der sowjetischen Geheimpolizei nach Archangelsk deportiert und starb dort. Maria gelang es, trotz eigener Flucht und Deportation, das Gesangbuch zu retten. 1976 brachte sie es bei ihrer Aussiedlung aus der Sowjetunion mit nach Deutschland.
178 179 FAMILIE KOCUR Anna und Theodor Kocur lebten in einem Dorf bei Lemberg (polnisch Lwów, ukrainisch Lwiw) in Ostpolen und gehörten dort der ukrainischen Minderheit an. Seit 1920 besaßen sie einen großen Bauernhof, der mit der Besetzung der Region durch sowjetische Truppen 1939 beschlagnahmt wurde. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 kam die Region unter deutsche Herrschaft. DAS EHEPAAR ANNA UND THEODOR KOCUR Yonkers/USA, 1963 schen Behörden zurück in die Sowjetunion und brachten sie in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Komi. Als Sondersiedler wurden sie dort unter polizeiliche Aufsicht gestellt und mussten schwere Arbeit in der Waldwirtschaft leisten. Neben den Evakuierungen der deutschen Bevölkerung rekrutierten deutsche Dienststellen und die Wehrmacht weiterhin auch sowjetische Bürgerinnen und Bürger zur Zwangsarbeit und schafften sie nach Westen. Zugleich ließen sie arbeitsunfähige Alte und Kranke sowie Frauen mit Kleinkindern unversorgt zurück. In der Nähe des belarussischen Dorfes Osaritschi errichtete die Wehrmacht im März 1944 einen Komplex aus drei improvisierten Lagern, in denen unter freiem Himmel mehr als 40 000 Menschen eingepfercht wurden. In nur einer Woche kamen dort mindestens 9 000 von ihnen ums Leben. Displaced Persons nach Heimatverlust
Umsiedlungen, Evakuierungen und Flucht Die Familie Kocur kehrte auf ihren Hof zurück. Bei der sowjetischen Rückeroberung im Herbst 1944 flohen die Kocurs mit ihren vier Kindern nach Westen, da sie sowjetische Repressionen und eine erneute Enteignung fürchteten. Unterwegs wurden sie von deutschen Behörden aufgegriffen und zur Zwangsarbeit ins österreichische Linz deportiert. Anfang 1945 überführte man sie nach Berlin ins Zwangsarbeiterlager in Schöneweide. Während die Eltern und der älteste Sohn hier in der Batteriefabrik Pertrix arbeiten mussten, blieben die beiden jüngeren Kinder im Lager sich selbst überlassen. Bei einem Luftangriff am 22. Februar 1945 konnten die Kocurs fliehen. Es gelang ihnen, sich nach Bayern durchzuschlagen, wo sie im April 1945 von US-amerikanischen Truppen befreit wurden. Eine Rückkehr in die Heimat, die mittlerweile Teil der Sowjetunion war, kam für die Kocurs nicht in Frage, sie sahen ihre Zukunft vielmehr in den USA. DISPLACED PERSON-REGISTRIERUNG VON SOFIE KOCUR Forchheim/Amerikanische Besatzungszone Deutschlands, 12.12.1945 Um nach Kriegsende in die USA auswandern zu können, benötigte die Familie Kocur die Anerkennung als Displaced Persons (DPs). Ihnen gelang die Anerkennung als Displaced Persons (DPs), also als Personen, die während des Kriegs aus ihrem Heimatland verschleppt worden waren und sich bei Kriegsende in Deutschland aufhielten. Die Familie verbrachte vier Jahre in verschiedenen DP-Lagern, ehe sie 1949 in die USA ausreisen durfte.1 1 Https://www.dz-ns-zwangsarbeit.de/zeitzeugenarchiv/ /video/kocur-maria-und-theodor/, Zugriff: 19. 6. 2023.
216 217 44 000 Menschen wurden nach Sibirien, in den Ural oder in den hohen Norden der Sowjetunion gebracht, wo sie in Bergwerken oder im Eisenbahnbau arbeiten mussten. Ab 1946 wurden viele von ihnen gesundheitsbedingt in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands (SBZ) entlassen, die letzten kehrten Anfang der 1950er-Jahre zurück. Im Herbst 1945 lebten noch etwa 140 000 Deutsche im nördlichen Teil Ostpreußens. Ihr Leben war fortan von strenger Arbeitspflicht, Aus- und Umquartierungen, eingeschränkter Bewegungsfreiheit und häufig auch Gewalt geprägt. Der Hunger war allgegenwärtig. Besonders im Winter 1946/47 starben überproportional viele einheimische Deutsche an Entkräftung, aber auch Epidemien wie Typhus und Malaria. Ein eindrucksvolles und zugleich bedrückendes Dokument dieser Zeit ist das Tagebuch von Charlotte Schmolei. In einem einfachen Rechnungsbuch notierte die junge Frau aus dem Samland von April 1945 bis November 1947, was sie erlebte und bewegte. Der tägliche Hunger, die schwere körperliche Arbeit in einer Militärsowchose, Krankheit und Sterben sind die bestimmenden Themen. Sie schreibt auch über Plünderungen, Vergewaltigungen, ihre Angst und die Sehnsucht nach Sicherheit. Viele ihrer Gedanken kreisen um das nackte Überleben: »9. Februar 1947 – Jutta Podack ist nun auch gestorben. Willi Linda ist gestern auf der Straße liegen geblieben. Auch schon ohnmächtig vor Hunger. Der Dei ist auch vor Hunger gestorben. [...] Mama ist nach Heiligenkreutz gegangen. Vielleicht bekommt sie noch ein paar Rüben. Wenn wir nur erst alle unter der Erde wären, dann hätten wir doch Ruhe. Es sieht doch so aus, als wenn es gar nicht mehr anders werden will. Ich merke auch mit jedem Tag, dass meine Kräfte schwinden. Papa sieht auch schon so elend aus. 3. März 1947 – Gestorben sind die Frau Stange, das Kind von Holz, das Kind von Zander, der Mazewski, der Junge von Karell. Alle vor Hunger und Kälte. 8. März 1947 – Es hat noch wieder so geschneit. Ich bin auch ganz am Verzagen. Es wird gesagt, wir sollen rauskommen. Wenn es nur erst so weit wäre. 16. März 1947 – Sonntag. Wir essen unser letztes Süppchen. Ich denke, jetzt ist alles zu Ende. [...] Eben ist die Frau Kuschinski auch vor Hunger gestorben. Jetzt friert es wieder. Es will nicht Frühling werden. [...] Der Dewinske ist auch vor drei Tagen gestorben. Frau Wittke hat ihren Hund geschlachtet. [...] Papa ist noch immer krank. 29. März 1947 – Mama holt Lindenknospen zum Suppekochen. [...] Mir war morgens so schlecht, wenn es nur etwas zu essen gäbe.« Das nördliche Ostpreußen unter sowjetischer Herrschaft Infolge des Potsdamer Abkommens wurde Ostpreußen zwischen der Sowjetunion und Polen aufgeteilt. Der nördliche Teil wurde 1946 als Kaliningrader Gebiet der Russischen Sowjetrepublik (RSFSR) angegliedert und das Memelland der Litauischen Sowjetrepublik zugeschlagen. Der größere südliche Teil kam unter polnische Verwaltung. Anders als für die Deutschen in Polen trafen die Alliierten in Bezug auf die deutsche Bevölkerung des sowjetischen Teils keinerlei Vereinbarungen. Da die Sowjetunion kein Interesse daran hatte, ein menschenleeres Gebiet zu übernehmen, forderte das sowjetische Militär jene Flüchtlinge, die im Winter und Frühjahr 1944 bis 1945 von der Roten Armee überrollt worden waren, zur Rückkehr in ihre Heimatorte auf. Viele kehrten nach Ende der Kampfhandlungen auch auf eigene Initiative zurück. Bereits im Februar 1945 begann die Rote Armee, auch aus Ostpreußen arbeitsfähige Erwachsene ins Innere der Sowjetunion zu verschleppen. Als Rechtsgrundlage diente ein auf der Konferenz von Jalta gefasster Beschluss, deutsche Arbeitskräfte für Reparationsleistungen einzusetzen. Schätzungsweise
Neuordnung durch Vertreibungen Die widrigen Lebensumstände und die Perspektivlosigkeit verstärkten den Wunsch der deutschen Bevölkerung, das Gebiet endgültig zu verlassen. Für Charlotte Schmolei endete das schwere Dasein in Ostpreußen mit ihrer Aussiedlung in die SBZ im November 1947. Sie kam zuerst in ein Lager nach Brandenburg, später nach Berlin. Ins Samland reiste sie nur noch einmal, fast 50 Jahre später, zusammen mit ihrem Mann Emil. Erstmals durften im Frühjahr 1947 Deutsche aus Königsberg (Kaliningrad) in die SBZ ausreisen. Mehrere Transporte folgten im Oktober und November. Anfang 1948 fasste der Ministerrat der UdSSR den Beschluss, noch im selben Jahr alle verbliebenen Deutschen umzusiedeln. Insgesamt kamen 1947 bis 1948 rund 100 000 Personen in der SBZ an. Viele Menschen hatten jedoch von den Transporten nach Deutschland keine Kenntnis, da sie vor dem Hunger nach Litauen geflohen waren. Dies betraf auch einige Hundert elternlose Kinder und Jugendliche (sogenannte Wolfskinder), die in litauischen Pflege- oder Adoptivfamilien untergekommen oder aber ganz auf sich allein gestellt waren. Einige konnten später in organisierten Ausreiseaktionen nach Deutschland ausreisen, anderen gelang dies nicht. Manche zogen es vor, in der Sowjetunion zu bleiben, und beantragten die sowjetische Staatsbürgerschaft. TAGEBUCH VON CHARLOTTE SCHMOLEI Königsberger Gebiet (Oblast Kaliningrad)/Sowjetunion, 1945–1947
Verners Starasts wurde 1935 in Insterburg in Ostpreußen als Werner Kascherus geboren. Der Vater kam als Soldat im Krieg um. Seine Mutter arbeitete als Krankenschwester in einem Lazarett, das bei Kriegsende nach Westen evakuiert wurde. Verners blieb bei seiner Großmutter und ihren beiden Schwestern. Gemeinsam flohen sie vor der heranrückenden Front nach Westen, kehrten aber im Mai 1945 nach Insterburg zurück, das inzwischen unter sowjetischer Militärverwaltung stand. Der zehnjährige Werner und die drei Frauen mussten immer wieder ihre Unterkunft wechseln, ein festes Zuhause fanden sie nicht mehr. Sie lebten in großer Unsicherheit und waren Übergriffen durch sowjetische Soldaten schutzlos ausgeliefert. Am schlimmsten aber war der Hunger: Nacheinander verhungerten die Großmutter und die beiden Großtanten. Die zuletzt Verstorbene musste Werner eigenhändig im Garten begraben. Der Junge war nun ganz auf sich allein gestellt. Zusammen mit anderen Kindern schlug er sich zwei Jahre lang irgendwie durch, immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Die Kinder waren stark unterernährt, geschwächt und krank, manche starben. SCHREIBEN DES ZENTRALEN SUCHDIENSTES DES INTERNATIONALEN ROTEN KREUZES AN VERNERS STARASTS Genf/Schweiz, 6. 10. 1972 Als Wolfskind nach Lettland VERNERS STARASTS 218 219
Familie Schäfer aus dem kleinen Ort Skrodeln (litauisch Skrodliai) im Memelgebiet wurde im März 1949 – Sohn Gerd-Helmut war gerade ein knappes Jahr alt – nach Sibirien verschleppt. Etwa 90 000 Menschen aus Estland, Lettland und Litauen widerfuhr dieses Schicksal. Sie wurden als Feinde der Sowjetunion verhaftet und mit der Eisenbahn in entlegene Gebiete gebracht. Unter den Deportierten waren auch Deutsche wie die Schäfers. Den Schäfers blieb kaum Zeit, die notwendigsten Sachen zusammenzupacken. Nach vierzehntägiger Zugfahrt kamen sie im Gebiet Irkutsk an und wurden dort in einer sogenannten Sondersiedlung untergebracht. Die Familie wurde einer Kolchose zugeteilt, in der die Eltern in der Holzwirtschaft arbeiten mussten. Da die Verbannung auf unbestimmte Zeit galt, lebten sie fast ein Jahrzehnt in der Ungewissheit, ob sie Sibirien jemals würden verlassen dürfen. Wie alle Deportierten wurde die Familie der Kommandantur unterstellt, durfte den Wohnort nicht wechseln und musste sich regelmäßig polizeilich melden. Das Leben in Sibirien war sehr hart und entbehrungsreich. Dennoch gelang es den Eltern, wie GerdHelmut Schäfer sich später erinnerte, ihrem Sohn eine einigermaßen unbeschwerte Kindheit zu bieten. Mit sechs Jahren kam der Junge in die Schule, konnte bald besser Russisch als die Eltern und unterstütze sie etwa beim Schreiben russischer Briefe. VERNERS STARASTS MIT SEINEM HUND TOBI Medze/Lettische SSR, 1949 1948 wurde Werner in Insterburg mit anderen Jungen zusammengetrieben und in einen Güterzug gesetzt, der nach Lettland fuhr. Vermutlich wollte man sich der elternlosen Kinder entledigen. Werner kam bei einer Bäuerin unter, der er auf dem Hof half. Da es in Lettland illegal war, Deutsche zu beherbergen, sorgte sie dafür, dass der Junge eine neue, eine lettische Identität bekam: Aus Werner Kascherus wurde Verners Starasts. In den 1970er-Jahren fand Verners Starasts mithilfe des Roten Kreuzes seine Mutter wieder, die in der Bundesrepublik lebte. 1974 trafen sie sich in Moskau, dreißig Jahre, nachdem sie voneinander getrennt worden waren. Er versuchte mehrmals, zu seiner Familie in die Bundesrepublik auszureisen, hatte jedoch Schwierigkeiten, gegenüber den Bundesbehörden seine deutsche Herkunft nachzuweisen. Er blieb daher in Liepāja (Libau) in Lettland.
220 221 Mithilfe einer befreundeten russischen Familie gelang es den Schäfers Ende der 1950er-Jahre, bei den sowjetischen Behörden einen Ausreiseantrag zu stellen. 1958 durften sie endlich in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen. Die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei Das Ziel, einen ethnisch homogenen Staat für die tschechische und slowakische Bevölkerung zu schaffen, setzte die Abschiebung der deutschen wie auch der ungarischen Minderheit voraus. Die rechtlichen Grundlagen hierfür stellte die tschechoslowakische Exilregierung zu einem großen Teil bereits während des Kriegs her. In den Jahren 1940 bis 1945 erließ Staatspräsident Edvard Beneš auf der Grundlage eines Verfassungsdekrets insgesamt 143 Verordnungen, die das öffentliche Leben in der wiedererrichteten Tschechoslowakei regelten. Die sogenannten Beneš-Dekrete wurden im März 1946 durch die Provisorische Nationalversammlung rückwirkend bestätigt. Einige der Dekrete bezogen sich konkret auf die deutsche wie auch die ungarische Minderheit im Land und legten den Entzug ihrer StaatsFAMILIE SCHÄFER VOR IHREM SELBSTGEBAUTEN BLOCKHAUS Gebiet Irkutsk/Sowjetunion, 1954 bürgerschaft und Eigentumsrechte fest. Betroffen waren alle Personen, die nicht nachweisen konnten, dass sie während Krieg und Besatzung aktiv gegen den Nationalsozialismus gekämpft hatten. Die repressive Politik gegenüber beiden Minderheiten wurde mit dem Vorwurf illoyalen Verhaltens gerechtfertigt. Unmittelbar nach Ende des Kriegs setzte die tschechoslowakische Regierung eine Reihe von Maßnahmen gegen die deutsche Minderheit in Gang. Die Stimmung in der tschechischen Bevölkerung war grundsätzlich antideutsch. Es herrschte die Überzeugung, dass alle Deut-
Neuordnung durch Vertreibungen PRÄSIDENT EDVARD BENEŠ BEIM UNTERZEICHNEN VON DEKRETEN Prag (Praha)/Tschechoslowakei, 2. 8. 1945 schen für die Zerschlagung der Tschechoslowakei 1938 sowie den Terror und die Unterdrückung in der Besatzungszeit verantwortlich gewesen seien. Jahrelange Angst und Ohnmacht wandelte sich vielerorts in Hass gegen alles Deutsche. Zur Steigerung dieser Emotionen trugen Reden der führenden Politiker wie Präsident Beneš, aber auch die Enthüllung von NS-Verbrechen in den Massenmedien bei. Ein sichtbarer Ausdruck der Entrechtung war die Pflicht zum öffentlichen Tragen einer Armbinde oder eines Abzeichens mit einem N für Němec (»Deutscher«).
222 223 Die wilden Vertreibungen waren vielfach von massiver Gewalt begleitet. Auch Erschöpfung, unzureichende Versorgung und Krankheiten führten zu vielen Todesfällen. Die Deutsch- Tschechische Historikerkommission kam 1996 überein, dass die Vertreibungsverluste mit mindestens 16 000, höchstens aber 30 000 Todesopfern anzusetzen seien. Situativ kam es zu regelrechten Exzessen mit einer hohen Zahl an Opfern, so etwa beim sogenannten Brünner Marsch, der in deutschen Quellen und Publikationen auch als Brünner Todesmarsch bezeichnet wird. Rund 20 000 Deutsche, vor allem Frauen, Kinder, arbeitsunfähige Personen sowie Männer über 60 Jahre, wurden Ende Mai 1945 aus Brünn (Brno) und Umgebung zu Fuß Richtung Österreich getrieben. Nur ein Teil der zum Marsch gezwungenen Personen überschritt tatsächlich die österreichische Grenze. Der Großteil blieb in Südmähren zurück und wurde in einem improvisierten Lager in Pohrlitz (Pohořelice) sowie in Nachbargemeinden untergebracht. Bis Mitte Juli starben auf tschechoslowakischem Gebiet rund 700 Menschen – hauptsächlich an den Folgen einer Ruhrepidemie. Auf österreichischem Territorium kamen mutmaßlich etwa 1 000 Personen durch Entkräftung und Krankheiten ums Leben. Die Gesamtzahl der Opfer ist nicht bekannt. Die Kennzeichnung machte viele Deutsche zur Zielscheibe für Demütigungen, Misshandlungen und im Extremfall sogar Mord. Die tschechoslowakische Exilregierung hatte bereits 1942 und 1943 von den Alliierten die grundsätzliche Zustimmung zur Zwangsaussiedlung der Deutschen erhalten. Nun setzten sich alle politischen Kräfte im Land für eine schnelle Abschiebung einer möglichst großen Anzahl ein. Die Westmächte sollten damit noch vor dem geplanten Treffen in Potsdam vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Die Sowjetunion unterstützte diese Vertreibungspläne. Von Frühjahr bis Herbst 1945 wurden schätzungsweise 700 000 Deutsche von der tschechoslowakischen Armee sowie verschiedenen paramilitärischen Einheiten in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands und nach Österreich vertrieben. Ihr Eigentum wurde vorher konfisziert. »VIELFACH NOCH IN FAMILIENBESITZ« Andrea Kamp Kuratorin »ABER ICH TRUG DAS N NICHT.« Christine Rösch Musste als 16-Jährige das Zeichen N tragen »INSTRUMENT UND SYMBOL« Volker Zimmermann Historiker ARMBINDE VON HERMINE SPRINZ Senftenberg (Žamberk)/Tschechoslowakei, 1945 Hermine Sprinz musste diese Armbinde bis zu ihrer Zwangsausweisung im Sommer 1946 tragen. SCAN ME
Neuordnung durch Vertreibungen Aloisia Parsch lebte 1945 mit ihren Kindern Ernst und Christine in Neutitschein (Nový Jičín) in Mähren. Ihr Mann Benno war ein Jahr zuvor als Soldat umgekommen. Am 4. Juli wurde Aloisia Parsch völlig überraschend auf dem Heimweg von tschechischen Männern aufgegriffen und in ein Lager gebracht. Die 42-jährige Frau wusste nicht, was mit ihr geschehen würde, und machte sich große Sorgen um ihre Kinder. In der Nacht musste sie mit Tausenden anderen Deutschen in die fast zehn Kilometer entfernte Stadt Zauchtel laufen. Dort wurden alle in einen Güterzug gesetzt und Richtung Deutschland transportiert. An der Grenze angekommen, ging es zu Fuß weiter nach Sachsen. Aloisia Parsch gelangte so nach Pirna, wo sie im völlig überfüllten Aufnahmelager Sonnenstein unterkam. Nachts musste sie im Sitzen auf einem Stuhl schlafen. ALOISIA PARSCH (MITTE) MIT IHREN KINDERN ERNST UND CHRISTINE Neutitschein (Nový Jičín)/Tschechoslowakei, April 1945 Ein Jahr von den Kindern getrennt ALOISIA PARSCH Im Herbst zog sie weiter nach Thüringen, ohne Nachricht von ihren Kindern zu haben. Ernst und Christine waren noch immer in Neutitschein. Erst im Februar 1946 traf ein Brief von ihrer Mutter ein, in dem sie die Kinder aufforderte, nach Deutschland zu kommen. Im März trafen die Geschwister mit einem Vertriebenentransport in Bayern ein. Doch erst im Juli, ein Jahr nach der Trennung, sahen sie ihre Mutter wieder.
264 265 Sie ist präsent in Denkmälern und Straßennamen, in Ausstellungen, in der Literatur und in der medialen Verbreitung durch Film oder Fotografie. Einen zentralen öffentlichen Ort der Erinnerung an Flucht und Vertreibung zu errichten, war in Deutschland lange Zeit ein geschichtspolitisch umstrittenes Unternehmen. Es fand seinen Abschluss im Juni 2021 mit der Eröffnung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Ein Teil der Ständigen Ausstellung setzt sich mit der Erinnerung an Flucht und Vertreibung auseinander und zeigt, wie offizielles Gedenken praktiziert wird, wie die Erinnerungspraxis innerhalb von Gruppen funktioniert und wie persönliche Geschichten und Erfahrungen in den Familien weitergegeben werden. Die Erinnerung an die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg gehört zum kulturellen Gedächtnis der Deutschen. < BLICK IN DIE VITRINE Historische Alltagsobjekte aus der aufgelösten Altvater-Heimatstube (Sudetenland, heute Tschechien) in Gärtringen, Baden-Württemberg.
Erinnern und Gedenken Flucht und Vertreibung kritischer und stärker im Kontext der deutschen Schuld am Angriffs- und Vernichtungskrieg. Dies mag zwar in erster Linie für die Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren gelten, denn in der DDR galt das Postulat des Antifaschismus, das den Menschen die moralische Mitverantwortung für den Nationalsozialismus und die davon ausgehende Gewaltherrschaft nahm. Ein gesamtdeutsches Phänomen besteht seit den 1990er-Jahren darin, dass die Enkelgeneration das Schicksal Der feststehende Doppelbegriff Flucht und Vertreibung, der sich in seiner Bedeutung einer Übersetzung in eine andere Sprache weitgehend entzieht, benennt in Deutschland die Zwangsmigration von rund 14 Millionen Deutschen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs (Flucht) sowie in der Zeit danach, ob als unmittelbare Vertreibung oder als erzwungene Aussiedlung auch Jahre später. Darüber hinaus, und das ist das Besondere, hat sich Flucht und Vertreibung als ein Erinnerungskomplex manifestiert. Damit ist die Gesamtheit offizieller wie privater Formen der Erinnerung gemeint. Mit wachsendem Abstand zum historischen Ereignis läuft dieser – kritisch gesehen – Gefahr, durch ständige Wiederholung den Zustand einer stagnierenden Vergangenheitserzählung anzunehmen. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die gesellschaftliche Erinnerungskulturen seit vielen Jahren erforscht, warnt, dass eine solche Stagnation des Erinnerns sich dem Wissen, das aus lebendigen Erfahrungen bestehe, entgegenstelle. Der Erinnerungskomplex Flucht und Vertreibung gab auch Anlass zur Kritik aufgrund seiner langjährigen engen Verbindung zur Politik. Im Konflikt der Generationen über die Erinnerung an den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Frage nach der deutschen Schuld spielte die Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen eine zentrale Rolle. ihrer Großeltern wieder neu entdeckte. Seither wächst das Interesse sowohl für die Kulturen der Herkunftsregionen der deutschen Vertriebenen als auch für ihre Erlebniswelt und Traumata. Die ersten Bundesregierungen in den 1950er-Jahren waren darauf bedacht, einer gesellschaftlichen Gruppe mit der bedeutsamen Größe von etwa acht Millionen nicht nur auf der Ebene der wirtschaftlichen Eingliederung in der Gegenwart ein überzeugendes Angebot zu machen, sondern Ersatzheimaten Zweifellos haben die Erfahrungen von Heimat- und Besitzverlust und die damit oft verbundene Gewalt viele Familien in Deutschland nachhaltig geprägt. Von der Erinnerung an Flucht und Vertreibung sind drei Generationen betroffen, die jeweils andere Perspektiven auf das Thema entwickelten und teilweise kontrovers aufeinanderstießen. Während sich die erste Generation der unmittelbar Betroffenen weitgehend kollektiv als Opfer betrachtete, sahen viele Angehörige der Nachfolgegeneration ANDREA MOLL
266 267 welle, in den 1980er-Jahren eingeweiht. Sie erhielten verschiedene Formen und Gestaltungen, als Kreuze, Skulpturen, behauene oder naturbelassene Steine. Ein Beispiel für ein frühes Denkmal befindet sich auf dem TheodorHeuss-Platz in Berlin, wo 1955 eine Ewige Flamme entzündet wurde. Der Platz wurde seither zu einem wichtigen Versammlungsort der Vertriebenenverbände für das jährliche Gedenken an Flucht und Vertreibung, auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990. ERINNERUNG AN DIE OPFER DER VERTREIBUNG UND MAHNMAL GEGEN DEN KRIEG IN DER KIRCHE ST. MARIEN Lübeck/Deutschland, 2021 Das 1951/52 gestaltete große Fenster in der Gedächtniskapelle im Südturm der Kirche St. Marien zu Lübeck zeigt Wappen und Namen von Städten, Ländern und Provinzen aus den Herkunftsgebieten der deutschen Vertriebenen hinter zerborstenen Glocken der 1942 zerstörten Kirche. SCAN ME FOTOSERIE ZU VERTRIEBENENDENKMÄLERN IN DEUTSCHLAND auch ihrer Vergangenheit zu gedenken. Die Anerkennung der Herkunft der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen war von Anfang an ein wichtiges Element der bundesrepublikanischen Integrationspolitik zur Förderung eines neuen Miteinander und zur Pflege einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Das Bundesvertriebenengesetz von 1953 griff mit seinem sogenannten Kulturparagrafen (§ 96) diesen Ansatz auf. Seinen Verfassern ging es darum, das Kulturgut aus den Herkunftsgebieten im Bewusstsein der Vertriebenen, aller Deutschen und sogar im Ausland wach zu halten. Diese Funktion erfüllt es bis heute. Die Erinnerungspflege setzte bereits sehr früh nach der Gründung der Bundesrepublik ein. Bis heute zeigen sich an vielen Orten im Gebiet der alten Bundesrepublik öffentliche Hinweise an Flucht und Vertreibung. In nahezu jeder größeren Gemeinde wurden Straßen nach Städten und Regionen benannt, aus denen Vertriebene stammten. Mehr als 500 Denkmäler erinnern an den Heimatverlust in Dörfern und Städten, auf öffentlichen Plätzen und Friedhöfen und in der Landschaft. Die meisten Denkmäler wurden im Zeichen der frühen bundesdeutschen Erinnerungspolitik in den 1950er- und, im Zuge einer weiteren Erinnerungs-
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