Leseprobe

MAREN RÖGER, MAŁGORZATA STOLARSKA-FRONIA Gezeigte Grenzen Erkundungen deutsch-polnisch-jüdischer Beziehungsbilder zwischen 1890 und 1920 23 Visuelle Geschichtskultur

Das zweite und das vierte Kapitel des Buchs wurden aus dem Polnischen übersetzt von Anne Mühlich. Alle sonstigen Übersetzungen im Buch wurden – sofern nicht anders gekennzeichnet – durch die Autor:innen vorgenommen. Schreibweisen in Zitaten, die – sei es in deutscher oder einer anderen Sprache – von der heutigen Rechtschreibung abweichen, wurden im Original belassen. Die Rechte für die Verwendung von Abbildungen wurden sorgfältig ermittelt. In Fällen, in denen dies trotz aller Bemühungen nicht möglich war, bitten wir um Mitteilung. Für möglicherweise nicht mehr bestehende Internet-Links kann keine Verantwortung übernommen werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2024, Sandstein Verlag, Goetheallee 6, 01309 Dresden Redaktion: Dorothee Riese und Moritz Venohr Umschlagabbildung: Brody. Granica – границя – Grenze. Brody: Władysław Kocyan, 1914. Einbandgestaltung: Sandstein Verlag Gestaltung, Satz, Repro: Sandstein Verlag Druck: FINIDR, s.r.o. www.sandstein-verlag.de ISBN 978-3-95498-837-2 Gefördert durch die Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung – Projekt »Die Kraft der Vervielfältigung. Bilder der deutsch-polnisch-­ jüdischen Beziehungen in den visuellen Massenmedien der 1890er bis 1930er« (Projektnummer 2021–04) Gedruckt mit Unterstützung des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) e.V. in Leipzig. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes. Der Titel ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.sandstein-verlag.de, DOI: 10.25621/sv-gwzo/VG-23 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Non Commercial 4.0 Lizenz (BY-NC). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für nicht kommerzielle Zwecke (Lizenztext: https://creativecommons.org/ licenses/by-nc/4.0/deed.de). Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z. B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

SANDSTEIN 23 Gezeigte Grenzen Erkundungen deutsch- polnisch-jüdischer Beziehungsbilder zwischen 1890 und 1920 MAREN RÖGER, MAŁGORZATA STOLARSKA-FRONIA UNTER MITARBEIT VON MARCIN WIELOCH, VINCENT HOYER UND RYSZARD KACZMAREK

Inhalt 8 Einleitung 8 Oberschlesien und Galizien: Beziehungsbilder aus besonderen »Borderlands« 10 Aufbau, Material und Grenzen MAŁGORZATA STOLARSKA-FRONIA 14 Begegnungen am Grenzort um 1900 Zwischen nationaler Meistererzählung und Sensationen der Mobilität 17 Unter dem Auge des Kaisers: Die visuelle »Meistererzählung« des Dreikaiserecks 19 Wer ist das »Etablissement«? Kennzeichnungen von Zugehörigkeit 21 Landschaft als visuelle Zähmung der Fremdheit 25 Zwischen Brody und Myslowitz: Grenzübergänge 31 »Hier ist’s wie in Babylon ...«: Ethnizität unter Kontrolle 33 Schmuggler mit Kosakengewehr im Anschlag 36 Die Macht des Stereotyps: Der »Ostjude« in Myslowitz 40 Antisemitische Schablonen an der Przemsa MAREN RÖGER 46 Von Lemberg über Myslowitz nach Wien (Über-)Regionale Inszenierung der Judenheiten 47 Jüdische Kultur im kleinen Bild: Grußkarten, Gemälde und das Geschäft 52 Judenheiten als Fremdkörper in der polnischen Nation 62 »Galizische Industrie«, auch in Myslowitz 67 »Directer Wagen Lemberg–Wien«: Migration von Menschen und Motiven

MARCIN WIELOCH 74 Neue nationale Bilderkämpfe Visuelle Medien während des deutsch-polnischen Propagandakampfes von 1919 bis 1921 75 Flugblätter und Plakate als Mittel der Agitation in der oberschlesischen Volksabstimmungskampagne 80 Kocynder und Pieron – visuelle Presseerzeugnisse in der Volksabstimmungskampagne 83 Die häufigsten Themen in der Ikonografie von Kocynder und Pieron 101 Am Schluss eines Streifzugs: Fazit 104 Bildnachweis

Einleitung Grenzen, so die zeitgenössische, in Schlesien geborene Schriftstellerin Olga Tokarczuk, dienten uns dazu, »ein trügerisches Gefühl von Ordnung und Kontrolle über die Realität aufzubauen. Vergangenheit – Zukunft, real – unwirklich, Frau – Mann, Mensch – Tier, Traum – Realität, ein Land – ein anderes Land, eine Sprache – eine andere Sprache. Durch die Polarität dieser Kategorien entsteht ein einfaches Raster, das es uns ermöglicht, uns sicher zu fühlen – wir haben den Eindruck, die Welt zu verstehen. Aber das Interessanteste, Lebendigste und Wahrste passiert immer irgendwo dazwischen, in den unendlich weiten Grenzräumen.«1 Wie Bilder der deutsch-polnisch-jüdischen Beziehungen in den Jahrzehnten um 1900 gestaltet wurden, ist das Thema dieses Buches. Deutsche, Pol:innen und Jüdinnen und Juden lebten damals in Europa an unterschiedlichen Orten in sich wandelnden Konstellationen zusammen, in den Metropolen ebenso wie an den Rändern der Imperien und Nationalstaaten. Um die Komplexität der Beziehungen im Alltag wissen wir ebenso wie um die Bedeutungszunahme der spaltenden Denksysteme von Nationalismus und Antisemitismus, die jenes von Tokarczuk beschriebene Raster aufbauten. Im Fokus stehen die Jahrzehnte zwischen 1890 und 1920. Wir orientieren uns weniger an politischen Zäsuren, obwohl es in diesen Jahrzehnten tiefgreifende gab: Die Imperien des östlichen Europa zerfielen in der Gewalteskalation des Ersten Weltkriegs, und Polen – zuvor zwischen dem Russländischen, dem Habsburger und dem Deutschen Kaiserreich aufgeteilt – konnte als eigenständiger Staat wiedergegründet werden. Unser Buch orientiert sich vielmehr an dem Aufstieg einer anderen Weltmacht: den technisch reproduzierbaren, ubiquitär verfügbaren visuellen Massenmedien. Der Siegeszug der Bildmedien für die Weltwahrnehmung kann unterschiedlich datiert werden. Historiker:innen der Moderne verorten ihn an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wohingegen die Spezialist:innen für frühere Epochen auf stete Bedeutung von Visualität und Medialität für die Aneignung von Welt verweisen. Die technologische Revolution des Buchdrucks nach Gutenberg ermöglichte massenhaftere Reproduktionen von Bildmaterial auf Flugblättern und Flugschriften, die in Öffentlichkeiten wirkten.2 Aber erst mit der Erfindung des Steindrucks, der Fotografie und dem Ausbau der Transportwege konnten Bilder überall sein. Es war insbesondere die Bildpostkarte, die all diese Qualitäten auf sich vereinte. Sie wird in zwei Kapiteln die wahre Protagonistin unseres Buches. In der Größe unscheinbar, durch den Weltpostverband auf 9 mal 14 Zentimeter normiert,3 trat sie nach ihrer Einführung den Siegeszug an. Die Produktionsstatistiken des Jahres 1899, wie Ado Kyrou sie angibt, sprechen Bände: Im Deutschen Kaiserreich seien allein in diesem Jahr 88 Millionen Postkarten produziert worden – bei einer Einwohnerzahl von 50 Millionen. England produzierte 14 Millionen Karten, Belgien 12 Millionen, Frankreich 8 Millionen.4 Leclerc spricht gar von 750 Millionen produzierten Exemplaren um die Jahrhundertwende,5 die sowohl für den heimischen Markt bestimmt waren als auch in andere Länder verkauft wurden. Laut Deutscher Verkehrszeitung gingen die Exporte der deutschen Postkartenfirmen hauptsächlich in die USA, Großbritannien und an dritter Stelle dann nach Österreich-Ungarn. Eva Tropper gibt 350 Millionen exportierte Postkarten im ersten Halbjahr 1908 an, womit sie die Größenordnungen bei Leclerc stützt.6 Im Russländischen Reich begann die Produktion der Karten später, doch handelte es sich klar um einen Wachstumsmarkt. Anna Larina gab an: »So wurden dort im Jahr 1900 58,7 Millionen Postkarten verschickt, darunter auch illustrierte; 1913 waren es bereits 318 Millionen.«7 Für die Gebiete, die im Fokus unseres Buches stehen, Oberschlesien und Galizien, liegen uns keine Produktionszahlen vor, aber Hinweise auf die breite Verwendung der kleinen Karten: So wurden in Lemberg/ Lwów (heute L’viv), Hauptstadt des Habsburger Kronlandes Galizien, im Jahr 1908 monatlich zwei Millionen Postkarten in den Briefkasten geworfen – und das bei einer Einwohnerzahl von damals 200 000 und einer immer noch hohen Analphabetismusquote in der Region. Sprich jede:r Bewohner:in versendete zehn Postkarten im Monat.8 In Oberschlesien ermöglichte das schnell wachsende Netz von Postämtern, von denen es zur Jahrhundertwende allein in der Region Oppeln (heute Opole) über 150 gab, das »Postkartenfieber«. Um nur einen Einblick zu geben: Allein im Jahr 1897 wurden an nur einem dieser Posten, in Peiskretscham bei Gleiwitz (heute Pyskowice, zu dem damals eine 5 000-Einwohner:innen-Stadt sowie 34 kleinere Orte gehörten), 36 114 Postkarten verschickt und 31 512 Postkarten erhalten.9 Die kleinen Karten prägten Bilder von der Welt. Der Großteil der damals produzierten Bildpostkarten in Europa und Übersee zeigte Städte und Dörfer. Naturansichten waren ebenfalls erhältlich. In jene topogra­

I 8 Einleitung fischen Ansichtskarten konnten zudem Vignetten mit Personendarstellungen eingearbeitet werden, die in tradierten oder im Zuge des Nationalismus wieder entdeckten oder gar erfundenen Trachten gekleidet waren. Zahlreiche Bildpostkarten stellten alleinig Personen und Personengruppen in den Fokus. Jenseits der Erotika, die uns in diesem Buch nicht interessieren, waren dies Darstellungen von ethnisch markierten Personen, sei es auf reproduzierten Gemälden oder Fotografien oder Karikaturen, die eng mit der Entwicklung der zeitgenössischen Presseillustration verbunden sind. Über die ethnisierende Darstellung von Personengruppen wurden so im imperialen Zeitalter auch Regionen markiert.10 Welche Bildergeschichten erzählten nun die kleinen Karten in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende? Wie zeigten sie Pol:innen, Jüdinnen:Juden und Deutsche – Gruppenbezeichnungen, hinter denen sich komplexe Identitätsverhandlungen verbargen, die je nach Staats- und Staatsbürgerrahmen unterschiedlich waren und auf die noch eingegangen wird –, wie den Grenzraum, in dem sich die Personen, aber auch die politischen Entitäten und Selbstkonzeptionen begegneten? In den ersten beiden Kapiteln liegt der Schwerpunkt auf dem ausgehenden 19. Jahrhundert, in dem die Bildpostkarte das dominante visuelle Medium war, um dann einen vertiefenden Blick in das erweiterte visuelle Medienset zum Höhepunkt der deutsch-polnischen Agitation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu werfen. Anschließend wird der Fokus auf die illustrierten Zeitschriften gerichtet, ein Medium, das seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer populärer wurde.11 Aus all den Begegnungsräumen von Deutschen, Pol:innen und Jüdinnen:Juden in den Jahrzehnten zwischen 1890 und 1920 haben wir zwei ausgewählt für unseren Streifzug, der nicht erschöpfend sein kann und will. Im Fokus stehen Oberschlesien und Galizien, Regionen, in denen sich die »Dimensionen des Dreiecks« je anders darstellten. In beiden Regionen begegneten sich die Personen, deren Zugehörigkeitsgefühl zu sprachlichen oder ethnisch-national kodierten Gruppen sich zumeist erst in der Interaktion miteinander entwickelte. In beiden Regionen entwarfen die Vorkämpfer:innen der Nation ihre Ideen in Abgrenzung zu einer der anderen Gruppen. Hier wurden die Grenzen nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch zwischen dem Eigenen und dem Fremden am deutlichsten gezogen. Dazu trugen die intensiven Migrationsbewegungen bei. Oberschlesien und Galizien: Beziehungsbilder aus besonderen »Borderlands« Oberschlesien (heute pl. Górny Śląsk, tsch. Horní Slezsko) ist eine Region, die sich in der Neuzeit als Teil des historischen Schlesiens im oberen Odereinzugsgebiet entwickelt hat.12 Die Bevölkerung zeichnete sich durch sprachliche, religiöse und kulturelle Heterogenität aus: Neben der deutsch-, polnisch- und tschechischsprachigen stellte auch die als schlesisch bezeichnete Bevölkerung (pl. Ślązacy:Ślązaczki, tsch. Slezáci:Slezačky, dt. Schlesier:innen) eine bedeutende Gruppe dar.13 Religion war ein weiterer Faktor, der zum Fortbestehen der ethnischen Vielfalt in Oberschlesien beitrug. Im preußischen Oberschlesien überwogen Katholik:innen (etwa 90 Prozent der Gesamtbevölkerung) sowohl unter der polnisch- und deutschsprachigen als auch unter der als schlesisch bezeichneten Bevölkerung. Im preußischen Westschlesien hingegen waren die Katholik:innen gegenüber den Anhänger:innen der Evangelischen Kirche in Preußen in der Minderheit. Protestant:innen machten im preußischen Oberschlesien nur einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung aus und sahen sich überwiegend als Deutsche. Im Teschener Schlesien (als Teil Österreichisch-Schlesiens), wo die Mehrheit ebenfalls katholisch war, hatte die evangelisch-augsburgische Kirche, deren Gläubige sich sowohl als Deutsche, Pol:innen als auch als Schlesier:innen bezeichneten, einen weitaus größeren Einfluss.14 Eine vergleichsweise kleine jüdische Minderheit machte in Oberschlesien nur wenige Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Jüdinnen:Juden dort identifizierten sich fast ausnahmslos als Deutsche, mit Ausnahme der Zugewanderten aus dem habsburgischen Galizien und dem Königreich Polen, das Teil des Russländischen Imperiums war. Dort wurden neben dem orthodoxen Judentum zunehmend zionistische Einflüsse stärker, sodass sich Jüdinnen:Juden dort vermehrt einer jüdischen Minderheit zugehörig erklärten. Die Politisierung durch nationalistische Akteur:innen wurde vor allem entlang der deutsch-polnischen Trennlinie aufgebaut. Ethnisch aufgeladene Spaltungen wurden in Oberschlesien auch durch das ungleiche Tempo der Industrialisierung und Urbanisierung bestimmt, die den Prozess der Akkulturation mit den Ti-

Oberschlesien und Galizien: Beziehungsbilder aus besonderen »Borderlands« 9 I tularnationen beschleunigten. Die deutsche Bevölkerung überwog daher in der oberschlesischen Industrieregion, etwa in Kattowitz (heute Katowice), Königshütte (1922–1934 Królewska Huta, heute Chorzów), Gleiwitz (heute Gliwice) und Beuthen O. S. (heute Bytom) sowie in Städten wie Kreuzburg O. S. (heute Kluczbork), Ratibor (heute Racibórz), Hultschin (heute Hulčín) und Bielitz (heute Bielsko-Biała). In den Dörfern, in denen die soziale Mobilität gering war, überwog die polnischsprachige Bevölkerung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs deutlich. Vor dem Ersten Weltkrieg lag Oberschlesien an der Ostgrenze des Deutschen Reiches. Aus diesem Grund spielte die Gegend eine symbolisch wichtige Rolle als letzte preußische Bastion vor der Grenze – ihr südöstlicher Teil rund um den Ort Myslowitz (seit 1922 Myslowice)15 und den Fluss Przemsa traf sich in einem Dreiländereck mit dem Russländischen Reich und dem Habsburger Imperium und erhielt den Beinamen »Dreikaisereck«. Obwohl auf allen Seiten der Grenze polnischsprachige Menschen lebten und es bereits zu deutsch-polnischen und polnisch-tschechischen Nationalitätenkonflikten kam, hatte sich nur bei einigen Oberschlesier:innen ein Nationalbewusstsein herauskristallisiert. Die Mehrheit dürfte sich damals auf einer alltäglichen Ebene als Schlesier:innen identifiziert haben, also als eigenständige Gruppe. Da aber diese Kategorie bei Volkszählungen nicht verwendet wurde, ist sie nicht mit quantitativen Angaben zu unterlegen. Auf der Pariser Friedenskonferenz wurde die Möglichkeit, sich zur »schlesischen Nation« zu erklären oder den »Freistaat Oberschlesien« zu gründen, nicht berücksichtigt. Bei der Volksabstimmung in Oberschlesien 1921 konnte man lediglich entscheiden, ob man zu Polen oder Deutschland gehören wollte. Die Region Galizien gelangte im Zuge der Teilungen Polen-Litauens in das Herrschaftsgebiet der Habsburgermonarchie. Als Königreich Galizien und Lodomerien fungierte sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts als Kronland im zisleithanischen Teil der Monarchie, eines der flächenmäßig größten Kronländer auf 78 497 km2. Auf dem Territorium des Kronlandes Galizien lebten 1910 rund acht Millionen Menschen, die sich unterschiedlich identifizierten.16 Die Volkszählungen erfassten lediglich Religionszugehörigkeit und die hauptsächlich benutzte Umgangssprache, was der Komplexität der Situation nicht gerecht wurde. Denn unter anderem in Galizien pflegten viele Bewohner:innen mehrere Umgangssprachen. Zudem war die Sprachverwendung und deren Nennung an politisch-nationale (Neu-)Verortungen sowie auch Fragen sozialer Erwünschtheit gekoppelt. So ergab sich beispielsweise für Galizien zwischen 1900 und 1910 ein Rückgang derer, die in der früheren Volkszählung Deutsch als Umgangssprache angegeben hatten. Im Vergleich dazu nahm im selben Zeitraum die Anzahl jener, die Polnisch als Umgangssprache nannten, um 17,14 Prozent zu. Ruthenisch wurde um 4,35 Prozent häufiger genannt. 17 Unter den unterschiedlichen Gruppen war die jüdische Bevölkerung besonders zahlreich: 1890 lebten etwa 772 000 Personen israelitischen Glaubens im Kronland, etwa zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung,18 was zeitgenössisch im besten Fall als Kuriosum bzw. Faszinosum wahrgenommen wurde. Reiseführer wie der Baedeker wiesen gezielt auf die jüdische Bevölkerung hin. So vermerkte der Baedeker in den unterschiedlichen Ausgaben der 1890er Jahre, dass nirgendwo anders Jüdinnen:Juden so zahlreich seien wie in Galizien, wo sie den Handel kontrollierten, weshalb sie von den anderen Einwohner:innen zwar verachtet würden, jene sie aber auch zwingend brauchten.19 In beiden Regionen bedeutete »deutsch« unterschiedliche Dinge: Im Deutschen Kaiserreich war das Deutschsein über die Staatsangehörigkeit sowie zumeist zusätzlich über die Selbstverortung und Sprachverwendung bestimmt, in Österreich-Ungarn bezeichnete die Selbst- und Fremdbestimmung als »Deutsche« oftmals die Sprachverwendung im Alltag,20 wobei die Identifikation mit der übergeordneten monarchischen Idee und der kleinteiligen Herkunftsregion aus den deutschsprachigen Landen in zahlreichen Kronländern lange wichtiger war als eine ethnisch-nationalistische Identifikation mit dem Deutschtum.21 Nach 1918, nach dem Zerfall der Imperien und der Begründung der Nationalstaaten auf ihrem Territorium, setzten die Protagonist:innen des Nationalitätenkampfes das Verständnis des Deutschseins überwiegend synonym mit dem Nationalstaat. Für eine Untersuchung der deutsch-polnisch-jüdischen Bilder bieten sich beide Regionen also je anders an, weisen aber auch Gemeinsamkeiten auf: Sie gehören zu den multiethnischen, multilingualen und multireligiösen Borderlands, zu Grenzräumen, die in der Geschichte der Großregion Ostmitteleuropa so prägend

I 10 Einleitung waren. In ihnen lassen sich nationalistische Agitation und Identifikation beobachten, die wesentlicher Teil der Gewaltspirale des 20. Jahrhunderts wurden, aber auch Indifferenz und Mehrfachzugehörigkeit. In Galizien lebten zahlreiche Judenheiten, und das Kronland wurde in besonderem Maße durch ein polnisch-jüdisch-ukrainisches Dreieck geprägt, wie John Himka das einmal nannte.22 Deutschsprachige Personen spielten eine untergeordnete Rolle.23 In Oberschlesien bestand andersherum ein gewisser deutsch-polnischer Antagonismus, während die dortigen Judenheiten sich vor allem an die Gruppe der deutschsprachigen Oberschicht anpassten. Die Regionen weisen aber nicht nur diese strukturelle Ähnlichkeit auf. Sie waren auch Teil eines europäischen Verkehrs- und Wirtschaftsraums, in dem Menschen und Medien migrierten. Zu beiden Regionen und den Beziehungen zwischen ethnischen und sprachlichen Gruppen im 19. und 20. Jahrhundert ist aufgrund der massiven politischen Erschütterungen bereits viel gearbeitet worden. Über politische Haltungen, nationalistische Agitation und wechselseitige Wahrnehmung haben wir in den letzten Jahrzehnten aus zahlreichen Büchern und Aufsätzen lernen können.24 Doch zu den tatsächlichen Bildern, den visuellen Codes dieser Nachbarschaftsimaginationen, wissen wir deutlich weniger. Ryszard Kaczmarek und Remigiusz Lis haben einen ersten Beitrag zur Darstellung der oberschlesischen Bevölkerung auf Bildpostkarten veröffentlicht, in dem sie zudem die Landschaft der Druckereien und Verlage vorstellten.25 Maren Röger hat zu Galizien im Vergleich zur Bukowina gearbeitet, und auf bereits bestehende Literatur zu Darstellungen der Judenheiten zurückgreifen können. Es existieren zudem reich bebilderte Publikationen, in denen Postkartensammlungen aus oberschlesischen Museen vorgestellt werden, doch eine Analyse des präsentierten Bildmaterials bleibt zumeist aus.26 Unser Buch ist keine flächendeckende Untersuchung der deutsch-polnisch-jüdischen Beziehungen in Oberschlesien und Galizien im benannten Zeitraum, sondern bietet Streifzüge an. Besonders anspruchsvoll ist beim Schreiben über ein Gebiet, das über lange Zeit Borderland war und blieb, die Wahl historischer Ortsbezeichnungen. Gerade die in Folge des Ersten Weltkriegs stattgefundenen Grenzverschiebungen in dieser Gegend erschweren die Wahl passender Ortsnamen, zumal neben den offiziellen Verwaltungssprachen des Deutschen Reiches, des Russländischen Reiches, Österreich-Ungarns und der 1918 entstandenen Zweiten Polnischen Republik mitunter weitere Ortsbezeichnungen in den örtlichen Dialekten wie z. B. Schlesisch oder Slonsakisch existierten. Um die Orientierung zu erleichtern, wurden in diesem Buch die damaligen offiziellen Verwaltungsbegriffe in den jeweiligen Amtssprachen genutzt, wenngleich in den Verwaltungssprachen die jeweiligen imperialen Überformungen und Sprachpolitiken nachhallen. Zusätzlich geben wir bei der ersten Nennung den heutigen Namen des Ortes an, um die Orientierung zu erleichtern.27 Aufbau, Material und Grenzen Unser Buch beginnt im ausgehenden 19. Jahrhundert, als sich visuelle ethnische Codes ausgestalteten. Wir blicken zweimal auf Grenzziehungen in imperialen Räumen. Es beginnt an einem Ort, an dem sich Deutsche, Pol:innen und Jüdinnen:Juden in spezifischen Konstellationen trafen und sich Selbstbilder der deutschen Kultur ausprägten. Małgorzata Stolarska-Fronia untersucht in einem ersten Kapitel Bildpostkarten aus dem Dreikaisereck, wo sich Alteingesessene, Neuankömmlinge und Durchreisende verschiedener ethnischer Gruppen und diverser staatlicher Zugehörigkeiten trafen. Das Deutsche Kaiserreich erzählte sich an seiner Grenze über den Vergleich mit den Anderen. In einem zweiten Kapitel stellen wir die polnischjüdischen Beziehungen in den Fokus. Maren Röger zeigt, was für ein ausgeprägtes Motiv die Judenheiten in der Bildmedienproduktion Galiziens darstellten. Oftmals dienten die kleinen Karten einer Abgrenzungserzählung, die sowohl spezifisch in den polnischen Nationsdiskurs einzuordnen war als auch Teil einer gesamteuropäischen antisemitischen Bilderzählung, in deren Repertoire galizische Jüdinnen:Juden eine besondere Rolle einnahmen. In Oberschlesien, am Dreikaisereck, reproduzierte man jene Bildwelten aus Galizien – hier scheint ein anderer transregionaler Aspekt der Beziehungsbilder auf. Nach diesen Untersuchungen der Grenzziehungen in unterschiedlichen imperialen Konstellationen, einmal mit Fokus auf Staatsgrenzen, einmal mit Fokus auf ethnische Gruppen innerhalb einer Region, nehmen wir im dritten und letzten Kapitel den besonderen Moment der offenen nationalistischen Konflikte nach dem Zerfall der Imperien in den Blick. Marcin Wieloch, unter-

Aufbau, Material und Grenzen 11 I stützt durch Ryszard Kaczmarek, führt uns wiederum nach Oberschlesien, in die heiße Phase des deutsch-polnischen Propagandakampfes während des Plebiszits. Er gibt uns Einblick in die Vielfalt der visuellen Medien, die damals eingesetzt wurden. Im Fokus stehen zwei illustrierte Zeitschriften, in denen Karikaturen eine besondere Rolle spielen, hinzu kommen Flugblätter und Propagandaplakate. Das Kapitel trägt der Tatsache Rechnung, dass sich nach dem Ende des »goldenen Zeitalters der Postkarten« mediale Schwerpunkte verschoben.28 Bilden die beiden Regionen den Ausgangspunkt der Betrachtungen in den Kapiteln,29 scheinen doch deutlich transregionale Aspekte auf. Produzierte Bilder wandern von Galizien nach Oberschlesien, das Thema der Migration bewegt, und Genres und Ausdrucksformen sind nur transregional zu begreifen. Im abschließenden Fazit laden wir ein, über den Mehrwert einer visuellen Geschichte von Deutschen, Pol:innen und Jüdinnen:Juden nachzudenken und weitere Forschungsfragen zu diesem bisher weniger untersuchten Thema zu entwickeln. Forschungen zur Visualität können neue Diskussionsfelder über die polnisch-deutsch-jüdischen Beziehungen eröffnen. Unser Projekt basiert auf mehreren Sammlungen, die in privaten Archiven und auch öffentlichen Sammlungen aufbewahrt werden. Da immer mehr Sammlungen in den letzten Jahren digitalisiert wurden, konnten wir bei der Durchführung des Projekts auch diese Bestände nutzen, die vielfältiges Material zum Analysieren, Vergleichen und Interpretieren bieten. Zu ihnen gehören die Śląska Biblioteka Cyfrowa (Schlesische Digitale Bibliothek), Biblioteka Cyfrowa Polona (Digitale Bibliothek Polona), Centralna Baza Judaików (Zentrale Datenbank der Judaika), Zbiory Federacji Polskich Bibliotek Cyfrowych (Bestände der Polnischen Digitalen Bibliotheken) sowie das Bildarchiv des Herder-Instituts, Blavatnik Archive und United States Holocaust Memorial Museum (Kat-Ehrenthal Collection). Detaillierte Untersuchungen wurden ebenso in den Stadtmuseen von Mysłowice, Gliwice, Sosnowiec und Warschau sowie in Privatsammlungen durchgeführt. Die ikonografischen Abfragen wurden durch die Arbeit mit Quellen aus polnischen und deutschen Bibliotheken ergänzt. Gezeigte Grenzen entstand über manche Grenzen hinweg, an anderen blieb es stehen. So konnte sich immer wieder ein intensiver Dialog zwischen der Kunstgeschichte, vertreten im Projektteam durch Małgorzata Stolarska-Fronia, und der Geschichtswissenschaft unterschiedlicher methodischer Prägung, vertreten durch Maren Röger, damals beide am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO), Ryszard Kaczmarek und Marcin Wieloch, beide an der Universität Katowice, entwickeln. Die hier untersuchten Gebrauchsmedien waren bislang kaum im Fokus der Kunstgeschichte, während Historiker:innen diese Bildquellen zwar nutzten, aber deren Spezifik mitunter dennoch übergingen. Den je anderen Blick haben wir in diesem Projekt aber nicht abgelegt, was sich in den Kapiteln widerspiegelt, die unterschiedlich kontextualisieren und einordnen. Auch kommen in Projektteams wie dem unseren verschiedene Erwartungshorizonte, Erfahrungswerte und Einstellungen zusammen, was etwa Überarbeitungen oder Überschriften betrifft und was in der Projektlaufzeit nicht homogenisiert werden konnte. Denn Grenzen setzte auch der Projektrahmen. Unsere Förderung der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung, über die wir uns sehr freuen, sah eine zweijährige Bearbeitungszeit vor. Unsere Entscheidungen für die Streifzüge in die Regionen Oberschlesien und Galizien mussten also auf vorhandenen Expertisen aufbauen. Unsere Projektpartner in Katowice waren Ryszard Kaczmarek und der bei ihm promovierende und über das Projekt finanzierte Marcin Wieloch, der den Text zu Oberschlesien in diesem Band inhaltlich verantwortet. Das Material in diesem und im letzten Teil des Buchs basiert auf den Sammlungen der Schlesischen Digitalen Bibliothek, deren Direktor Remigiusz Lis ist und der zu unserem Netzwerk gehörte. Die Bearbeiterin in der Postdoc-Position, Małgorzata Stolarska-Fronia, konnte die Zeit aufgrund eines für sie wichtigen Folgeangebots nicht voll ausschöpfen, so dass wir 9 × 14 Zentimeter untersuchten, und das in ihrem Fall wahrscheinlich auf 18 × 12 (Monate mal täglichen Arbeitsstunden). Entsprechend gilt ihr der größte Dank. Unterstützt hat uns mit so vielen klugen Kommentaren und umfangreichen Recherchen Vincent Hoyer zu den Kapiteln 2 und 3, den wir deshalb ebenso unter Mitarbeit führen wie die Katowicer Kollegen, die Kapitel 4 beisteuerten. Weiter geholfen haben mit der Übersetzung des 2. und 4. Kapitels Anne Mühlich, bei Recherchen, Korrekturen und Formalia Wanja Bode, Antonia Zerbe und Leopold L. Herter. Die Gesamtredaktion übernahmen Dorothee Riese und Moritz Venohr, für deren Einsatz auch mehrere Sätze des Dankes nicht ausreichen würden.

Begegnungen am Grenzort um 1900 Zwischen nationaler Meistererzählung und Sensationen der Mobilität MAŁGORZATA STOLARSKA-FRONIA

»Drei Kaiser-Reich-Ecke bei Myslowitz O.S. Ist der einzige Ort a. d. Erde an d. 3 Kaiserreiche aneinander grenzen. Fremde die n. Oberschles. kommen versäumen nicht d. bedeutenden Ort zu besuchen.« Mit dieser Beschreibung bewirbt eine Postkarte aus dem Verlag Hermann Lukowski in Breslau (heute Wrocław) die südöstliche Region Oberschlesiens (Abb. 1). Diese Karte wurde im September 1913 nach Berlin versendet und ist eine von vielen verschiedenen Postkartenvariationen, welche über die Besonderheit dieses Ortes informieren, der zu den Punkten auf der Auswanderungsroute von Tausenden von Menschen aus Galizien gehörte, die durch Preußen nach Amerika emigrierten.1 Eisenbahnlinien und Fährverbindungen von Myslowitz/Mysłowice2 aus ermöglichten Reisen sowohl innerhalb der Region, z. B. nach Breslau, als auch zu geografisch viel weiter entfernten Orten, vor allem über Krakau/Kraków bis nach Galizien hinein, nach Lemberg/Lwów, Drohobycz (heute ukr. Drohobyč) oder Brody (heute ukr. Brody). Aus der Gegend um das Dreikaisereck reisten die Menschen auch nach Bremen und Hamburg, von wo aus Scharen von Auswandernden (wenn sie überhaupt bis dahin kamen) mit dem Schiff nach Argentinien und in die USA übersetzten.3 Von Myslowitz aus verschickte Postkarten hatten ähnliche Bestimmungsorte, daher rührte auch ihr reichhaltiges und vielfältiges ikonografisches Programm – dieses sollte aus dem Ort ein wichtiges touristisches Zentrum erschaffen, aber auch ein Zentrum für den Waren- und Personentransfer insbesondere von Ost nach West. Die visuelle Geschichte von Myslowitz besteht aus Bilderzählungen, die die provinzielle Atmosphäre der Belle Epoque und das idyllische Leben der Myslowitzer Bourgeoisie, Ansichten der Landschaft der aneinandergrenzenden Länder sowie des Wirtschaftslebens und der dynamischen Beziehungen zwischen den Menschen, die den Ort besuchten, einschließlich der Händler:innen und Schmuggler:innen zeigten. Die visuelle Erzählung der mehr als 300 von uns untersuchten Postkarten wird jedoch von einer Meistererzählung dominiert, die auf den meisten Karten entweder als Hauptbestandteil oder als Komponente einer mehrteiligen visuellen Geschichte erscheint. Die Postkarten aus dem Dreikaisereck wurden mehrheitlich von lokalen Herstellern produziert, deren Perspektive Auswirkungen auf die gewählte Meistererzählung hatte. Daher dominieren auf den Postkarten Ansichten von preußischer Seite, wodurch sich die Sichtweise sowohl der preußischen Behörden als auch der ethnisch deutschen Bevölkerung aufzwingt. Diese Perspektive beeinflusst automatisch auch die Darstellung der Nachbar:innen aus den beiden anderen Kaiserreichen sowie der zahlreichen Zugereisten, d. h. von Angehörigen anderer Nationen und Ethnien. Die Meistererzählung besteht daher aus drei Schlüsselelementen vorwiegend deutscher Provenienz: Abbildungen der Kaiser, Ansichten der Landschaft der Przemsa (pl. Przemsza) von der preußischen Seite und des Bismarckturms aus. Die germanophile Perspektive der Postkarten wird auch durch die Textebene bestätigt – die meisten Bildunterschriften sind ausschließlich in deutscher Sprache. Von den einigen hundert Postkarten, die wir untersucht haben (hauptsächlich aus polnischen Sammlungen), sind nur wenige ausschließlich auf Polnisch oder sowohl auf Polnisch als auch auf Russisch beschriftet. Dies ist vor allem bei Werbepostkarten der Fall, welche die durch das Russländische Reich besetzten Teilungsgebiete vermarkteten. Eine Karte aus der Sammlung der Nationalbibliothek in Warschau zeigt eine Ansicht des Flusses Przemsa von der preußischen Seite aus, ist aber mit »Sosnowiec. Pogranicze 3 królestw« [Sosnowiec. Grenzgebiet der 3 Kaiserreiche]4 betitelt. Auch die Namen der Länder sind hier auf Polnisch angegeben. Die zweite Postkarte,5 die wegen der darauf abgebildeten Figuren sehr aufschlussreich ist (die ausführliche Beschreibung folgt im weiteren Verlauf), zeigt den Szczakowa-Übergang, die Grenzbrücke über die Przemsa und den Bahnhof in Myslowitz. Sie wurde im Auftrag des Wechselstubenbesitzers Władysław Hertz hergestellt, alle Bildunterschriften sind auf Polnisch, allerdings wurden das Wort »Granica« sowie der Name des Ausstellungsortes der Postkarte ebenfalls auf Russisch angegeben.

I 16 Begegnungen am Grenzort um 1900 Abb. 1 Die visuelle Meistererzählung des Dreikaiserecks – Drei Kaiser-Reich-Ecke. Breslau: H. Lukowski, o. J. [vermutlich 1913]. Abb. 2 Das Dreikaisereck zwischen den Mächten – Gruss von der Drei-Kaiserreichs-Ecke. Myslowitz: Carl Hauck, 1897.

Unter dem Auge des Kaisers: Die visuelle »Meistererzählung« des Dreikaiserecks 17 I Unter dem Auge des Kaisers: Die visuelle »Meistererzählung« des Dreikaiserecks Die Postkarten aus dem Dreikaisereck bilden eine regionale Version der Meisterzählung, die aus zwei – auf der oben erwähnten Postkarte von 1913 (Abb. 1) sichtbaren – wichtigen ikonografischen Motiven besteht: der Flusslandschaft der Przemsa sowie den Bildern von Kaiser Wilhelm II. von Preußen, Zar Nikolaus II. von Russland und Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn, die in verschiedenen Formen dargestellt sind. Ihre repräsentativen Porträtaufnahmen befinden sich in ovalen Rundbildern: Das Bild des Kaisers von Preußen überragt die Bilder der anderen Herrscher, die darunter und nebeneinander dargestellt sind. Zwischen den Rundbildern schlängeln sich Zweige einer Eiche, die sowohl als Symbol für die Macht und Beständigkeit der kaiserlichen Herrschaft als auch, der Mythologie zufolge, als axis mundi, als Achse des Universums und damit als Ort, an dem die Welt beginnt, sowie als Symbol für Deutschland gedeutet werden kann.6 Diese präzise komponierte Symbolik, die das Wesen des Dreikaiserecks und seine Rolle in der deutschen Politik zum Ausdruck bringt, ist jedoch nicht ohne Makel. Der Breslauer Verlag hat – ob absichtlich oder nicht – die Flaggen der angrenzenden Länder nicht sehr sorgfältig wiedergegeben: Die Flagge Russlands hat ein umgekehrtes Farbschema. Die Flagge von Kaiser Franz Joseph ist eine Kombination aus den Farben Österreichisch-Schlesiens (Schwarz und Gelb) und den Farben der Habsburger Dynastie. Bemerkenswert ist, dass die Postkarte, die 1897 von Carl Hauck,7 dem Hersteller der ersten Myslowitz-Postkarten, herausgegeben wurde, die richtige Anordnung der Farben aufweist (Abb. 2). Diese ungleiche Verteilung zwischen den Kaisern unterstreicht das zweitbeliebteste ikonografische Element der aus dem Dreikaisereck verschickten Postkarten: die Ansicht der Schwarzen Przemsa – des Flusses, der die drei Mächte trennt. Die Landschaft bildet auf den ersten Blick alle drei Gebiete ab: Am linken Ufer, wo die Flüsse Schwarze und Weiße Przemsa zusammenfließen und die Grenze Abb. 3 Kommunikationsmittel für die Reisenden – Gruss von der Dreikaiserreichsecke. b. Myslowitz O. S. Breslau: Bruno Schulz, o. J. [vermutlich 1907].

I 18 Begegnungen am Grenzort um 1900 zu Österreich-Ungarn bilden, ist ein kaum sichtbares Fragment Österreichs zu sehen, während der Blick auf die Grenze zum russländischen Teilungsgebiet des Königreichs Polen8 durch den Fluss Przemsa mit einem Panorama des Dorfes Niwka angedeutet wird. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass der:die Betrachter:in diese Landschaft eindeutig von der großen Promenade auf deutscher Seite aus sieht. So wird eben jene Landschaft auch zu einem wichtigen Mittel der visuellen Kommunikation der preußischen Herrschaft über die Region. Dennoch waren diese Postkarten die von Besu- cher:innen der Region am häufigsten gewählten Ansichtskarten – auch von nicht-deutschsprachigen. Sie dienten u. a. dazu, Informationen über den Verlauf der Reise und das eigene Befinden zu vermitteln. Eine von ihnen, die auf der Vorder- und Rückseite mit Bleistift beschriftet und dann nach Berlin geschickt wurde, informiert in einer Mischung aus Deutsch und Polnisch, dass die schreibende Person die Grenze überquert hatte und für einen gewissen Herrn Pakuła ohne Verpflegung arbeitete, was in Königshütte/Nowa Huta jedoch nicht auf Begeisterung gestoßen sei (Abb. 3). Ein drittes Motiv, welches das Dreikaisereck eindeutig als einen durch die deutsche Kultur dominierten Raum kennzeichnet, ist der Bismarckturm. Das 1907 am rechten Ufer der Przemsa errichtete Bauwerk zierte z. B. die Postkarten des in Myslowitz ansässigen Verlegers Max Rölle, der in Breslau tätigen Verleger H. Lukowski und R. Błaszczyk sowie des Kattowitzer Verlegers Max Steckel. Dieser Turm war nicht nur ein Symbol für die Macht des preußischen Staates, sondern wurde zum Wahrzeichen des Dreikaiserecks, das neben seiner politischen auch eine wirtschaftliche und touristische Bedeutung hatte. Er besaß zudem einen imposanten repräsentativen Charakter – wie bei anderen Bauwerken dieser Art, die nach dem ersten Reichskanzler benannt sind,9 wurde anlässlich von Bismarcks Geburtstag, dem 1. April, auf der Spitze des Turms ein Feuer entzündet, dessen Schein Tag und Nacht hindurch leuchtete und die Grenzen des Reiches erhellte. Letztendlich wurde in der Nähe des Turms auch der Grenzverkehr mit der illegalen Ein- und Ausfuhr von Waren abgewickelt.10 Gleichzeitig war er ein Zielpunkt für Spaziergänge entlang der Promenade am Fluss Przemsa. Abb. 4 Preußisch-russländische Gegensätze im Dreikaisereck – Bismarkturm. Drei-Kaiser-Reichs-Ecke. Blick v. Bismarkturm auf das russische Dorf Niwka. Breslau: H. Lukowski. Gelaufen 20. 5. 1912.

Wer ist das »Etablissement«? Kennzeichnung von Zugehörigkeit 19 I Eine der vielen vom Verlag Lukowski herausgegebenen Postkarten (Abb. 4) enthält alle drei Motive: eine Farbfotografie des Bismarckturms, die ein Drittel der Kartenfläche einnimmt, ein Panorama des Flusses Przemsa mit Blick auf das russländische Dorf Niwka und eingearbeitete Motive von Flaggen und Adlern, welche die drei Mächte symbolisieren, wobei die Embleme und Farben Preußens dominieren. Eine solche Kombination von Bildern und Symbolen setzt einen starken Akzent, der den Kontrast zwischen dem monumentalen Gebäude sowie der Promenadenlandschaft auf der deutschen Seite und dem im Hintergrund gezeigten russländischen Dorf mit seinen kleinen Gebäuden sowie der spärlich bebauten Landschaft hervorhebt und somit den Diskurs der übergeordneten Erzählung verstärkt. Alle oben beschriebenen Motive erscheinen auf Postkarten in verschiedenen Formen und Konstellationen, die oft eine komplexe Botschaft mit sozialem und politischem Inhalt vermitteln. Vor allem bei MehrbildPostkarten ist das der Fall. Dies ist eine Besonderheit der regionalen Postkarten des oberschlesischen Grenzgebiets. Die Hersteller der Myslowitzer Postkarten arbeiteten bei der Schaffung einer visuellen Identität des Ortes außerordentlich sorgfältig, insbesondere an den Orten, die in der Zeit vor der Einführung der Postkarte, d. h. vor der Schaffung des Verkehrsknotenpunktes im Grenzgebiet der drei Mächte, keine sehr reiche ikonografische Tradition aufwies. Man kann argumentieren, dass die Postkarten aus dem Dreikaisereck, die ab Ende des 19. Jahrhunderts in großer Zahl herausgegeben wurden, wegweisend für die Ikonografie dieser Region sind. Die auf ihnen dargestellte Geschichte ist entscheidend für die Deutung ihrer Besonderheit, die auf dem Aufeinandertreffen gegensätzlicher Landschaften und Kulturen beruhte. Von dem Moment an, in dem die Ansichtskarten in die Welt gesetzt werden, schaffen sie Bilder des Vertrauten und des Fremden, des Feindlichen und des Exotischen. Die Verwendung der Naturlandschaft und ihre visuelle »Politisierung« durch die Verwendung einer bestimmten Perspektive und die Einbeziehung nationaler Symbole schaffen ein Bild der Machtverhältnisse in der Region, der nachbarschaftlichen und internationalen Beziehungen und vor allem ein Selbstbild der Grenzgemeinschaft. Wer ist das »Etablissement«? Kennzeichnungen von Zugehörigkeit Myslowitz erlebte als Stadt einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, der durch die Errichtung der Grenze zwischen der Habsburgermonarchie, Preußen und Russland im Jahr 1846 am Zusammenfluss der Weißen und Schwarzen Przemsa11 sowie durch die Anbindung der Stadt an die Eisenbahnlinie Oppeln–Gleiwitz–Zabrze– Kattowitz–Myslowitz und die anschließende Verbindung nach Breslau und Krakau ausgelöst wurde. Dadurch erhielt die Stadt 1858 die Stadtrechte zurück, die sie im 18. und 19. Jahrhundert verloren hatte.12 Dieser wiedergewonnene Status beeinflusste die Art und Weise, wie die Stadt in den visuellen Medien dargestellt wurde. Auf Ansichtskarten wurden repräsentative öffentliche Gebäude, die prächtigen Villen der Zechenbesitzer sowie grenznahe Restaurants und Hotels abgebildet. Das häufigste Motiv war jedoch eine Promenade entlang des Flusses Przemsa, die sich zwischen einer Reihe junger Bäume erstreckte und den eleganten Herren und Damen, die dort vorbeischlenderten, nicht nur einen Blick auf die andere Seite des Flusses bot, sondern auch die Möglichkeit, sich auf einer Flusswiese zu entspannen oder sich in den Grenzlokalen zu erfrischen. Die Atmosphäre der Belle Epoque vermittelt eine Postkarte, die vom Verlag H. C. B. herausgegeben und 1907 in Umlauf gebracht wurde (Abb. 5). Die in vier Felder unterteilte Postkarte zeigt im oberen Teil die wichtigsten Attribute des Dreikaiserecks: Bilder der Kaiser und eine Ansicht des Flusses Przemsa und der Promenade, die zum 1907 fertiggestellten Bismarckturm führte; im unteren Teil präsentiert sich eine elegante Gesellschaft – Damen mit schicken Hüten und Herren in ihrer besten Kleidung – vor dem Hintergrund der Restaurants und Weinstuben, darunter die Beschriftung »Etablissement ›Dreikaiserecke‹«. Ein solches Bild des Grenzgebietes von Myslowitz war sicherlich eine gute touristische Werbung für die Region und vermittelte das Bild einer sogenannten anständigen Provinz mit angemessenen Verpflegungs- und Dienstleistungseinrichtungen und einer Landschaft, die Erholungsmöglichkeiten an der frischen Luft bot. Dieses Angebot, das vor allem auf Werbepostkarten präsentiert wurde, richtete sich vermutlich nicht nur an Besucher:innen aus der Ferne, welche die neuen, günstigen Bahnverbindungen z. B. nach Breslau nutzten,13 sondern vor allem an Gäste und Nachbar:innen von

Von Lemberg über Myslowitz nach Wien (Über-)Regionale Inszenierung der Judenheiten MAREN RÖGER

Führte uns das vorangegangene Kapitel in den Grenzraum zwischen den drei Kaiserreichen, wo über die kleinen Karten Geschichten der Selbst- und Fremdwahrnehmung erzählt wurden, setzen wir unseren Streifzug nun in Galizien fort. Herausgeschält aus einem früheren Kernland der polnisch-litauischen Adelsrepublik, entwickelte sich das Habsburger Kronland Galizien-Lodomerien seit Ende des 19. Jahrhunderts zum »polnischen Piemont«.1 Dort konnte sich die polnische Nationalbewegung nach der Gewährung der Autonomie erfolgreich etablieren. Identitätsformation fand, so John-Paul Himka prominent, in einem polnisch-ukrainisch-jüdischen Dreieck statt, denn auch die ukrainische Nationalbewegung sah in Galizien ihr Piemont.2 Bei den lokalen Judenheiten, insgesamt zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahr 1890,3 ließen sich Phänomene der Akkulturation vor allem an den polnischsprachigen Eliten,4 aber auch der Versuch, eigene Nationskonzepte vorzulegen (Diasporanationalismus, Jiddischismus, Zionismus), sowie alternative Gemeinschaftskonzeptionen (Sozialismus) zu entwickeln, beobachten.5 Der Glaube an die Habsburger Idee war in Galizien, ebenso wie im benachbarten Kronland Bukowina, unter den Judenheiten weit verbreitet, da die Hoffnung auf Gleichstellung an das Herrscherhaus geknüpft war.6 Unter vielen bürgerlichen Jüdinnen:Juden der Habsburger Monarchie herrschte eine Dreifachidentität: »im religiös-ethnischen Sinne jüdisch, im kulturellen Sinne polnisch, tschechisch, deutsch, ungarisch oder kroatisch, während ihre politische Loyalität dem übernationalen Vielvölkerstaat galt«.7 Über all diese politischen Ideen, ihre Vorkämpfer: innen und ihre Verbreitung (und deren Grenzen) und auch die Auseinandersetzung zwischen den sich formierenden Gruppen der Ukrainer:innen, Pol:innen und Jüdinnen:Juden sind zahlreiche Bücher erschienen, die nicht nur Regale, sondern Bibliotheken füllen.8 Unser Blick richtet sich nun auf die visuellen Erzählungen der Judenheiten auf Bildpostkarten: Auf Selbsterzählungen durch Verleger:innen, von deren jüdischem Hintergrund und/oder Positionierung wir wissen, und auf Fremdbildern durch nicht-jüdische editorische Institutionen aus der Region selbst, aber auch den überregionalen Zentren der Druckindustrie wie Wien, Berlin und Leipzig. In einem ersten Schritt fächern wir das Spektrum der Produktion auf und gehen auf die Vielfalt der Darstellung von Judenheiten ein, indem insbesondere die zeitgenössischen Darstellungen jüdischer Kultur benannt werden. In einem zweiten und dritten Teilkapitel fokussieren wir Antisemitika, zuerst diejenigen, die als spezifische Narrative Galiziens gedeutet werden müssen, dann diejenigen, die überregionale, oft gesamteuropäische Topoi der Ablehnung von Judenheiten bildeten. Schließlich zeigen wir an ausgewählten Beispielen, wie in Galizien entworfene Bilder von Judenheiten in Oberschlesien – die Region, in die uns der Streifzug im ersten Kapitel führte und wohin wir im dritten zurückkehren werden – aufgegriffen und angeeignet wurden. Jüdische Kultur im kleinen Bild: Grußkarten, Gemälde und das Geschäft9 Galizien etablierte sich, gemeinsam mit der benachbarten Bukowina, als eine Region, in der zahlreiche Bildpostkarten produziert wurden, die die Judenheiten zum Thema hatten. Dies waren erstens Grußkarten zu jüdischen Festen, die ein einträgliches Geschäft wurden. »Git Jontef« (dt. Frohes Fest) oder »Git Schabes« (dt. Frohen Schabbat) wünschten jene Karten,10 zudem sind hebräisch und jiddisch beschriftete Karten der galizischen Verleger:innen mit Neujahrgrüßen oder Wünschen zum Laubhüttenfest überliefert.11 Als Zielgruppe dieser Karten ist in erster Linie die jüdische Bevölkerung anzunehmen, die Grüße verschickte, denn im Zuge des Postkartenfiebers veränderten sich die Bräuche der Bevölkerung.12 In zweiter Linie richteten sie sich auch an die sich auf Reisen befindende nicht-jüdische Bevölkerung, die jüdische Kultur per Postkarte an Familienmitglieder und Freund:innen kommunizieren wollte.13 Denn Verleger:innen aus Galizien publizierten Judaika, die meines Erachtens als Erklärungen jüdischen Lebens verstanden werden müssen. Zahlreiche Karten mit Fotografien zeigen traditionell gekleidete Jüdinnen:Juden, wobei einige in vollem religiösen Ornat sind, sprich Tallit und Tefillin tragen. Weiter fällt auf, dass viele Bildunterschriften den Ansichtskartenkäufer:innen die Personen in Verbindung mit religiösen Praktiken erläutern: »Betender Jude/Modlący się żyd«14 oder »Morgengebet«15 lesen wir, auf anderen Karten werden die abgebildeten Personen über ihr religiöses Studium des Talmuds oder an der Jeschiwa eingeführt. Wieder andere, oftmals gezeichnete, simplere Karten erläutern Praktiken am Vorabend des Schabbats (Abb. 1 und 2) oder Neujahrswünsche der Kinder (Abb. 3). Andere editorische Institutionen, etwa der Verlag N.E.St., dessen Abkürzung durch die Recherchen leider nicht aufzulösen war, publizierte Reproduktionen naiv wirkender Zeichnungen, die freundliche Sittenbilder jüdischen Lebens darstellten. So etwa die 1902 urheberrechtlich geschützte Karte, die eine Begrüßungsszene abbildet (Abb. 4). Eine mehrköpfige, adrett gekleidete, jüdische Familie empfängt in den freundlich

I 48 Von Lemberg über Myslowitz nach Wien

Jüdische Kultur im kleinen Bild 49 I Abb. 1–3 Erklärbilder der Tradition – Lichtzünden, Freitag Abends. Tarnów: Wydawnictwo Pocztówki, 1902; Licht zünden. Kraków: Salon Malarzy Polskich [im Folgenden SMP], 1902; Neujahrswunsch der Kinder. Tarnów: Wydawnictwo Pochtówki, o. J. wirkenden Räumlichkeiten einen älteren Mann, vermutlich den Großvater der Kinder, die auf ihn zugelaufen kommen. Die Verleger:innen zeigten auf den Karten die Rituale des Schabbats, die Ankunft des Rabbiners im Dorf, das Osterfest sowie wichtige Übergangsriten. Vom Salon Malarzy Polskich (dt.: Salon der polnischen Maler, im Folgenden SMP), einer der wichtigsten Verlage für Judaika und Antisemitika, existiert eine ganze Serie, die die Schritte von der Verlobung bis zu einzelnen Abläufen einer traditionellen jüdischen Hochzeit einzeln auf Bildpostkarten vorstellte (Verlobung, Bedecken der Braut, Besingen der Braut usw.) über das Wochenbett, die Beschneidung bis zur Ehescheidung vor dem Rabbiner. SMP verlegte dies als urheberrechtlich geschützte Serie. Andere Verlage wie der Postkartenverlag von A. Stolarski, wie anzunehmen ist Wydawnictwo kart pocztówek A. Stolarskiego Kraków (im Folgenden W.k.p.A.S.), und die editorische Institution N.E.St. hatten ähnliche Motive im Angebot, doch offenbar von anderen Zeichnern (Abb. 5 und 6). Religiöse und kulturelle Praktiken waren zudem Inhalte von auf Postkarten reproduzierten Gemälden. Ethnische Gruppen waren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der polnischen Malerei ein eigenständiges Thema. Inszenierungen der sogenannten Volkstypen, darunter vor allem Bewohner:innen von Dörfern in der Nähe von Krakau/ Kraków, Huzul:innen sowie Goral:innen aus der Tatra, sind ein häufiges Motiv in der Kunst junger polnischer Künstler, die vor allem aus der Akademie der bildenden Künste in Krakau stammen, darunter Teodor Axentowicz, Stanisław Wyspiański und Kazimierz Sichulski.16 Auch Künstler – Frauen waren kaum darunter, da ihre Ausbildung nicht vorgesehen war – anderer polnischer Universitäten stellten gerne polnische Dörfer, Volksbräuche und religiöse Riten dar.17 Das Interesse an ethnischen Typen wird einerseits als modernistischer Rückzug aus der bürgerlichen Kultur gesehen und gleichzeitig als Wunsch, die Authentizität und Beständigkeit der polnischen Tradition angesichts der Realität der Teilungen hervorzuheben und zu betonen. Gleichzeitig erscheinen mit dem Auftreten von Künstlern jüdischer Herkunft immer häufiger Vertreter:innen der jüdischen Minderheit auf den Gemälden. Ihre Präsenz in der polnischen Malerei der Jahrhundert-

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