Kinderporträts vom Barock bis zur Romantik
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› 3 ‹ Kinderporträts vom Barock bis zur Romantik Sandstein Verlag Herausgegeben von Ruben Rebmann
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Inhalt 7 Grußworte 10 K indsköpfe in Dessau Ruben Rebmann 22 D er kleine Prinz und seine Geschwister: Über das dynastische Kinderporträt Gerrit Walczak 45 Katal g 144 Künstlerbiografien 148 Literatur 156 Abbildungen 159 Dank 160 Impressum
› 10 ‹ Kindsköpfe in Dessau Zwei blonde Knaben, stolz ihr Pferd präsentierend, eröffnen und beschließen unsere Ausstellung (Abb. 1 und 2). Beide erscheinen in ganzer Figur, in ein langes Gewand gehüllt und sind zum Betrachter gedreht. Eine Hand umklammert die Reitpeitsche, die andere hält die Zügel oder ist auf dem Kopf des kleinen Reittiers abgelegt. So ähnlich sich die beiden Bilder in Inhalt und Komposition auch geben, zwischen ihnen liegen mehr als zwei Jahrhunderte. Jahrhunderte, die heute gern für einen einschneidenden Wandel in der Vorstellung von Kindheit verantwortlich gemacht werden, der mit dem unwiderstehlich griffigen Motto der »Entdeckung der Kindheit« bezeichnet wird. Erstmals habe man diese als eigenständige, gegenüber dem Erwachsenendasein abgegrenzte Lebensphase mit eigenen Ansprüchen erkannt und heranwachsende Kinder nicht mehr mit den Maßstäben der Erwachsenenwelt gemessen. Formuliert wurde das Schlagwort der entdeckten Kindheit durch eine Kapitelüberschrift in Philippe Ariès’ Buch L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime von 1960,1 welches alle historischen, volkskundlichen und kulturwissenschaftlichen Ruben Rebmann Abb. 1 Niederländisch (?) Bildnis eines unbekannten Jungen mit Pferd um 1615–1620 · Holz Anhaltische Gemäldegalerie Dessau ( 1) 1 Das Buch erschien in englischer Übersetzung erstmals 1962 als Centuries of Childhood. A Social History of Family Life und in deutscher Übersetzung erstmals 1975 als Geschichte der Kindheit, Ariès 1975.
› 11 ‹ Die Dessauer Ausstellung möchte sich bewusst der Versuchung entziehen, die historischen Porträts vor allem als Illustrationen eines kulturhistorischen Wandels oder als ungefilterten Ausdruck eines wie immer beschaffenen mentalitätsgeschichtlichen Prozesses zu lesen. Wohl ist die stets subjektiv eingefärbte Objektauswahl einer Ausstellung keine wissenschaftliche Versuchsanordnung und der Katalog kein Thesenpapier. Die zusammengetragenen Werke sollen aber dennoch ermuntern, neue Perspektiven auf eine im beobachteten Zeitraum, zwischen 1600 und 1830, tatsächlich dynamische und facettenreiche Entwicklung im Bereich des Kinderporträts zu suchen, und ein Verständnis dafür ausbilden, dass diese Entwicklung weniger linear verlief, als vielfach dargestellt wird. Abb. 2 Carl Christian Vogel von Vogelstein Knabenbildnis des Prinzen Albert von Sachsen mit Schaukelpferd 1833 · Leinwand · Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Albertinum ( 27) Forschungen zur Geschichte der Kindheit auf eine neue Grundlage stellte. In dem EntdeckungsKapitel analysiert der französische Historiker Werke der bildenden Kunst, um zu zeigen, dass Kinder vor dem postulierten Wandel regelmäßig als kleine Erwachsene gedacht und auch dargestellt worden seien. Es überrascht nicht, dass Ausstellungen zum Kinderbild und zum Kinderporträt bald regelmäßig auf die Thesen von Ariès’ Buch Bezug nahmen, sie kontrovers diskutierten und zumindest darin seiner Ansicht folgten, dass Kinderbildnisse in der Frühen Neuzeit einem allgemeinen Wandel von Idee und Vorstellung der Kindheit direkten Ausdruck verliehen.2 Auffällig ist aber, dass eine »Entdeckung der Kindheit« dabei immer mehr mit den pädagogischen Ideen der Aufklärungszeit, also des 18. Jahrhunderts, in Verbindung gebracht wurde und weniger mit den langfristigen mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungsprozessen, welche Ariès bereits früher, an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, verortete.3 2 Ausst.-Kat. Berkeley/Memphis/ Omaha 1995; Ausst.-Kat. Bonn 2003; Ausst.-Kat. Bath/Kendal 2005; Ausst.-Kat. Frankfurt 2007. 3 Insbesondere Ausst.-Kat. Frankfurt 2007, wo sich die »Entdeckung der Kindheit« auf das englische Kinderbildnis des 18. Jahrhunderts bezieht.
› 12 ‹ Abb. 3 Geldorp Gortzius Bildnis eines dreijährigen Mädchens 1593 · Holz · Anhaltische Gemäldegalerie Dessau Unsere beiden Knaben zeigen an, welche bildlichen Beharrungskräfte in jenen Jahrhunderten möglich waren, die eine neue Idee der Kindheit entwickelten. Stilistische Details wie die Wiedergabe der Stofflichkeit und die Modellierung der Inkarnate sind verschieden. Die Bildanlage und die Motivik der beiden Gemälde sind aber trotz der zwischen ihnen liegenden 200 Jahre erstaunlich ähnlich. Ob solche Konstanten nun gleichlautenden Repräsentationsstrategien der Auftraggeber entspringen oder aber auf selbstständige Entscheidungen der Maler zurückgehen, ist in jedem Fall neu zu klären. Porträtgemälde waren und sind keine beiläufigen Momentaufnahmen (auch wenn es Gelegenheiten gibt, in denen sie genau das suggerieren möchten). Auftraggeber – es müssen nicht die Eltern der dargestellten Kinder sein – hatten Vorstellungen vom Zweck und zukünftigen Kontext des Gemäldes. Malerinnen und Maler (in Abb. 2 der den Nazarenern nahestehende Carl Christian Vogel) blickten bewusst in die Geschichte der Kunst zurück, welche immer wieder Modelle und Anregungen zur Bewältigung neuartiger Bildaufgaben bereithielt. Es lässt sich schwerlich behaupten, der niederländische Maler des Unbekannten Jungen mit Pferd habe diesen weniger kindlich gemalt als Carl Christian Vogel seinen Prinzen Albert. Ein Blick auf Bilder wie das Medaillon des Ernst von Anhalt-Bernburg ( 4) mit seinen winzigen Händen und kindlich abgespreizten Fingern zeigt, dass auch Künstler um 1600 schon einen Sinn für die anrührende körperliche Zerbrechlichkeit kleiner Kinder hatten und sie nicht mehr als »erwachsene Menschen von kleinerem Wuchs«4 darstellten. Wie zu beobachten sein wird, hatten unterschiedliche Zeiten unterschiedliche bildliche Konzepte von Kindlichkeit. Die Idee des sich im Porträt lebhaft und spontan gebenden Kindes, des nach unseren heutigen Maßstäben sich »natürlich« verhaltenden Kindes, ist nur eine davon. 4 Ariès 1975, S. 93. Im Katalog sind die meist aus dem mittel- und norddeutschen Raum stammenden Bildnisse annähernd chronologisch geordnet. In den Ausstellungsräumen, wo eine dem Buch eigene streng lineare Anordnung nicht angebracht ist, werden vier Sektionen gebildet, die nach verallgemeinernden Aussagen zu unterschiedlichen Konzepten von Kindlichkeit im Bild suchen. Die erste Sektion mit dem Titel Das präsentierte Kind 1600–1670 dokumentiert den enormen quantitativen Aufschwung des deutschen
› 13 ‹ Kinderbildnisses im 17. Jahrhundert. Nachdem in der noch jungen Bildgattung des Porträts die Darstellungen von Kindern nur sehr selten zu beobachten waren, ist es im 16. Jahrhundert vor allem die Familie der Habsburger, welche ihre Kinder in größerer »Vollständigkeit« ins Bild setzen lässt.5 Eine visuelle Repräsentationsstrategie, die bald von den anderen deutschen Fürstenhäusern imitiert wird. Hier lässt sich das schon früher ausformulierte Interpretationsmuster anwenden, dass »traditionelle« Kinderbildnisse vor allem als Ausweis des familiären Fortbestands und dem Anknüpfen neuer dynastischer Verbindungen dienen sollten. Gut erfassbar und buchstäblich ruhig gestellt, werden die Kinder ganz unterschiedlichen Alters in auffällig kostbaren Kleidungsstücken präsentiert, die selbst in den fürstlichen Kinderstuben wohl nicht zwangsläufig zur täglichen Garderobe zählten. Spielzeuge wie Rasseln und Beißzähne kommen wie kostbare Schatzobjekte daher (vgl. 2, 4). Der in Köln tätige niederländische Maler Geldorp Gortzius zeigt ein dreijähriges Mädchen mit aufwendig gesteiftem Spitzenkragen, welches den Betrachtern seinen Taufpfennig demonstrativ vor Augen hält (Abb. 3). Dass in diesem uns heute so starr erscheinenden Bildschema dennoch die künstlerische Ergründung des kindlichen Wesens ihren Spielraum behaupten kann, wird an einem außerordentlichen Werk eines flämischen Malers für eine deutsch-niederländische Dynastie gezeigt: das Bildnis Wilhelms II. von Oranien-Nassau des Anthonis van Dyck ( 5) demonstriert, wie dieser Meister seine Eleganz und Ungezwungenheit ausstrahlende Porträtauffassung auch im Bereich des Kinderbildnisses zur Anwendung brachte und damit einen Anknüpfungspunkt für die Porträtkultur des späten 18. Jahrhunderts nicht nur in England, sondern auch in Deutschland schuf. Seinen zweiten Auftritt in der Ausstellung erhält der kleine Oranierprinz in einem Gruppenbild von Gerrit van Honthorst. Es zeigt, wie das bürgerlich konnotierte holländische Familienbildnis mit seinen lebhaften, im Spiel festgehaltenen Kindern seinen Widerhall in dynastischen Kinderporträts fand und dadurch auch nach Mitteleuropa wirkte ( 6). 5 Ausst.-Kat. Innsbruck 2007, hier besonders Schütz 2007. Abb. 4 Ádám Mányoki Prinz Friedrich Heinrich Eugen von Anhalt-Dessau mit einem alten Mann (Allegorie der Erziehung) um 1714 · Leinwand Anhaltische Gemäldegalerie Dessau Die zweite Sektion mit dem Titel Das höfische Kind 1670–1770 erzählt, wie in elegant-kultivierten Adelsporträts potenzielle Herrschertugenden und die Effekte einer erfolgreichen höfischen Erziehung visualisiert werden. Anhand eines Hamburger Beispiels von Balthasar Denner ( 8) erhebt sich die Frage, ob das großbürgerliche das adlige Bildnis imitiert und wieweit es vorstellbar ist, dass hier in der Freien und Hansestadt zeitparallel zum nachgewiesenen frühen Eindringen
› 14 ‹ Abb. 5 Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff Bildnis des Pagen von Münsterberg 1733 · Leinwand Anhaltische Gemäldegalerie Dessau 6 Overhoff/Schmitt 2007, S. 59, 63–67. 7 Buzási 2003, S. 131f., 335, WV B. 259. 8 Ausst.-Kat. Berlin 1999, S. 167, Kat.-Nr. I.2 (Gerd Bartoschek). 9 Einen guten Überblick gibt immer noch Ausst.-Kat. Berlin 1966. moderner pädagogischer Ideen aus England6 eine frühe »Verbürgerlichung« des Kinderbildnisses feststellbar ist. Ádám Mányokis Porträt des Friedrich Heinrich Eugen von Anhalt-Dessau versucht sich in einer ungewöhnlichen Allegorisierung der höfischen Erziehung (Abb. 4).7 Während der Prinz hier begründet durch seinen Unterricht bei einem altertümlichen Philosophen selbst auch à l’antique gekleidet ist, dient die Kostümierung der adligen Kinder sonst oft den Spielen der Erwachsenen. Ein Page von Münsterberg tritt in einem Gemälde des Kavalierarchitekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff als galanter Schäfer auf (Abb. 5), Kostüm und Haltung folgen wohl einem Stich nach Antoine Watteau.8 Dass diese Spiele sehr ernst und ernst machend sein konnten, zeigt der drei- bis vierjährige Sohn des Soldatenkönigs von der Hand Antoine Pesnes ( 9). Der aus Paris stammende preußische Hofmaler Pesne ist Kronzeuge für die Vorbildfunktion der französischen Malerei des Spätbarock und Rokoko für das deutsche Adelsporträt dieser Zeit. Eine Präferenz, die zur bevorzugten Anstellung französischer und französisch geschulter Meister an den großen deutschen Höfen führte.9 Dass auch kleinere Fürsten, deren Hofmaler Paris nie zu sehen bekamen, Wert auf französische Eleganz legten, demonstriert das faszinierende Prinzenporträt Christoph Friedrich Reinhold Lisiewskis ( 10). Beinahe scheint dessen eigentlicher Zweck der Nachweis zu sein, dass man in Dessau nicht nur über wohlerzogene Prinzen, sondern ebenso über kostbare Möbelbezüge und Silberstickereien verfügte. (Auch wenn an der Wohlerzogenheit des Prinzen Albert später ernsthafte Zweifel aufkamen.) Einen interessanten Neuansatz signalisiert daneben ein weniger als zehn Jahre später entstandenes, bisher unpubliziertes Bildnis des Erbprinzen Friedrich von Anhalt-Dessau ( 12). In dem 1772 datierten Gemälde versucht der Berliner Maler Johann Heinrich Christian Franke mit Mitteln des traditionellen höfischen Porträts, die bereits von direkten Erfahrungen englischer Pädagogik geprägte Kindheitsvorstellung des Dessauer Hofes in ein Bildnis umzusetzen.
› 15 ‹ Dieses leitet inhaltlich über zur dritten Sektion mit dem Titel Das »natürliche« Kind 1770–1800 – in eine Zeit, als in Deutschland gewissermaßen im Finale des »pädagogischen Jahrhunderts« Kinderbilder und Kinderporträts in Auseinandersetzung mit der englischen Kunst eine neue Erscheinung gewannen. Es wurden zwar auch andere Meister wie Wilhelm Böttner und Christian Leberecht Vogel in die Objektauswahl einbezogen, im Mittelpunkt stehen jedoch Werke Johann Friedrich August Tischbeins, der eine zentrale Rolle bei der Erneuerung des deutschen Kinderporträts spielte. Insbesondere im letzten Jahrfünft des Jahrhunderts, als Tischbein als Dessauer Hofmaler arbeitete, gelangen ihm auf dem Gebiet des Kinder- und Familienbildnisses Formulierungen, die auch heutige Betrachter mit ihrer ausgestellten kindlichen Spontaneität und familiären Ungezwungenheit noch in ihren Bann ziehen können. Sein großes Leipziger Familienbild, welches nicht Teil der Ausstellung ist, wirkt wie eine Summe seiner künstlerischen genauso gut wie privaten Dessauer Erfahrungen (Abb. 6). Das Postulat der »Natürlichkeit« in der Erziehung Abb. 6 Johann Friedrich August Tischbein Bildnis des Malers mit seiner Familie 1800 · Leinwand · Museum der bildenden Künste Leipzig
› 22 ‹ Man kenne die Kindheit nicht, behauptete Jean-Jacques Rousseau 1762 in Émile, ou De l’éducation. Immer habe man »den Erwachsenen im Kinde« gesucht, aber nie gefragt, »was es ist, ehe es ein Erwachsener wird«.1 Émile, der fiktive Zögling Rousseaus, ist das Kind reicher Eltern, doch bleibt offen, ob bürgerlichen oder adligen Standes. An Kinder speziell des Adels dachte Rousseau also nicht, auch wenn ein Fürst wie Leopold III. Franz Friedrich von Anhalt-Dessau, auf dessen Kunstbesitz ein Gutteil dieser Ausstellung zurückgeht, sehr wohl an Rousseau dachte, als er vor genau 250 Jahren eine eigene Erziehungsanstalt gründete, das zum fünften Geburtstag seines Sohnes eröffnete Philanthropin.2 In Paris suchte das Dessauer Fürstenpaar 1775 sogar den Autor des Émile, »arm und verlassen«, unter einem Vorwand in seiner Wohnung auf.3 Fürstin Louise Henriette versicherte Rousseau bei dieser Begegnung, der Erbprinz ( 12) würde am Philantropin »nach seinem Plane« erzogen.4 Allerdings stand das Erziehungsziel Rousseaus, ein Kind das »Leben als Mensch« zu lehren und es keinesfalls für eine bestimmte Funktion vorzubereiten, in gewissem Widerspruch zu dem der Erziehung eines Prinzen, dessen Bestimmung von Geburt an feststand.5 In Voltaires kurz nach Erscheinen des Émile an die Gothaer Herzogin Luise Dorothea geschickter Warnung davor, »jemals eins ihrer prinzlichen Kinder durch diesen Verrückten Jean Jacques Rousseau erziehen zu lassen«, lag deshalb mehr als nur Missgunst.6 Mehr als die Hälfte der Bilder in dieser Ausstellung sind Porträts von Prinzessinnen und Prinzen, von Söhnen und Töchtern großer und kleiner Herrscherhäuser und des nicht regierenden Adels. Und das, obwohl der adlige Bevölkerungsanteil verschwindend gering war: Im statistisch besser erfassten Frankreich betrug dieser Anteil zur Zeit Rousseaus kaum anderthalb Prozent, während die bourgeoisie im Sinne des Großbürgertums acht Prozent der Bevölkerung stellte, mehr als das Fünffache; zusammen mit dem, was wir heute als bürgerliche Mittelschicht bezeichnen würden, machte das Bürgertum im heutigen Verständnis sogar ein Drittel oder mehr der Einwohner zumindest in den größeren Städten aus.7 Für ein Kind von adligem Stand bestanden also viel größere Chancen, porträtiert zu werden, als für ein bürgerliches, auch wenn die Ausstellung zu ihrem Ende hin die zunehmende, spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu übersehene Umkehrung dieser Relation zugunsten der Kinder des Bürgertums spiegelt. 1 Rousseau 1963, S. 8. 2 Vgl. Hirsch 2008 (die Prägung durch Rousseau relativierend S. 42, 54). 3 Geyer-Kordesch 2007, S. 235 (16. Oktober 1775). 4 Ebd., S. 234 (16. Oktober 1775). 5 Rousseau 1963, S. 17. Vgl. Berger 2005, S. 212; Orrock 2019, bes. S. 24. 6 Voltaire an Luise Dorothea von Sachsen-Gotha-Altenburg, 2. August 1762, zitiert nach Raschke 1998, S. 215. 7 Vgl. Dufraisse 1989, bes. S. 293. Gerrit Walczak Der kleine Prinz und seine Geschwister: Über das dynastische Kinderporträt
› 23 ‹ Abhängig vom Rang der Familie, in die sie hineingeboren wurden, waren Adelskinder unter dynastischen und damit politischen Gesichtspunkten Landesfürsten und Familienoberhäupter im Wartestand oder in Reserve, Glieder einer Erbfolge und heiratspolitische Verfügungsmasse. Als ein im Kern »bürgerliches Phänomen« dagegen beschrieb Philippe Ariès in seiner breit rezipierten Geschichte der Kindheit eine Aufwertung der Kindheit im Laufe der Frühen Neuzeit, die einen grundsätzlichen Wandel des Kinderbildnisses nach sich gezogen habe.8 Darstellungen von Kindern als »erwachsene Menschen von kleinerem Wuchs« seien abgelöst worden durch das Abbilden des Kindes »um seinetwillen«, es wäre der auf die volljährige Zukunft eines Kindes gerichtete Blick ersetzt worden durch eine Sicht, in der es im Sinne Rousseaus bereits in seiner kindlichen Gegenwärtigkeit bildwürdig war.9 Dieser »Entdeckung der Kindheit«, wie Ariès sein Kapitel über Porträts von Kindern benannte, müsste das dynastische Kinderbildnis ein erhebliches Beharrungsvermögen entgegengesetzt haben zugunsten der älteren Repräsentationskultur, die im Porträt künftiger Fürsten gerade das vorführen sollte, was im dynastischen Zusammenhang wirklich zählte, nämlich Stand und Rang in der Welt der Erwachsenen, nicht kindliche Persönlichkeit.10 Legte nicht die Genealogie allein fest, welchen Rang und welche Rolle das Kind einer Herrscherfamilie als Erwachsener einnehmen würde, war deshalb nicht alles nur »bildlich antizipiert« in Vorwegnahme der erwachsenen Person?11 Abb. 1 Jens Juel Friedrich Emil August von Schleswig-Holstein- Sonderburg-Augustenburg um 1802 · Leinwand Kunsthalle zu Kiel Doch blieb im dynastischen Kinderbildnis neben allen unübersehbaren Hinweisen auf die zukünftige Stellung und sich daraus ergebender, vorauseilend erfüllter Verhaltensnormen immer ein Residuum an kindlicher Gegenwart, das es mit den Kinderporträts bürgerlicher Eliten teilte. Auch der Wert eines Adelssprosses bemaß sich nicht an seiner Zukunft allein, denn letztlich erfüllte schon das Kind, wie es war, innerhalb einer Erbfolge die beinahe gleiche Funktion wie der Erwachsene, der es einmal sein würde – der Anspruch auf einen Thron etwa hing von der Existenz eines Thronfolgers ab, nicht von dessen Alter. Erbprinz war der älteste Sohn eines Fürsten, ohne in diese Rolle erst hineinwachsen zu müssen, und selbst König konnte er werden, ohne volljährig zu sein. Tatsächlich herrschte bei höfischen Bestellern und solchen des Adels früh schon eine Aufgeschlossenheit für Darstellungen einer Kindlichkeit, die im politisch-dynastischen Zusammenhang streng genommen keinen Zweck erfüllte. Sie war ein Überschuss, der sich vielleicht gerade daraus ergab, dass das Kind im Koordinatensystem der Genealogie qua Geburt bereits einen Wert besaß: Die Kindheit kleiner Prinzen und ihrer Geschwister war mehr als bloße Anwartschaft auf das Erwachsensein. 8 Ariès 1975, S. 562. 9 Ebd., S. 93, 103. 10 Ebd., S. 92. 11 Bellin 2022, S. 33.
› 24 ‹ Entdeckung Entstammen Holzpferd, Trommel und Gerte einer etablierten Ikonografie prinzlichen Nachwuchses (Abb. 3; 1, 18), der mit gewisser Wahrscheinlichkeit tatsächlich Zeit beim Militär vor sich hatte, so findet sich Spielzeug dieser Art um 1800 längst auch in den Bildnissen von Bürgersöhnen, deren Eltern sich zivilere Karrieren für ihre Kinder wünschten und solche zumeist auch erlebten.15 Auffällig ist vielmehr, dass in Juels Porträt einzig das Monogramm auf der Trommel auf die Zugehörigkeit zur Herrscherfamilie verweist, auch wenn zur Entstehungszeit nicht abzusehen war, dass dieser Königsenkel später (vergebens) Anspruch auf den dänischen Thron erheben würde. Ist diese ikonografische Zurückhaltung nur eines der Ergebnisse des Wandels hin zur (von Erwachsenen, nicht von Kindern definierten) »Natürlichkeit«, der sich für Kinderporträts ganz allgemein feststellen lässt, so steht Juels Porträt des Augustenburger Prinzen für den Abschluss einer Entwicklung, die seit ihrer Beschreibung als einer »Entdeckung der Kindheit« durch Ariès bereits das Thema mehrerer Ausstellungen gewesen ist. Allerdings beschrieben die jeweiligen Kuratoren und der französische Historiker nicht den gleichen Wandel, sprachen nicht von der gleichen Entdeckung und streng genommen nicht einmal von der gleichen Kindheit. Der Erfolg der Geschichte der Kindheit steht in bemerkenswertem, doch nicht immer bemerkten Missverhältnis zur Plausibilität selbst ihrer Hauptthesen. Für Ariès bedurfte dieser Wandel der Überwindung jener angeblich mittelalterlichen, von Mediävisten indessen vehement bestrittenen »Indifferenz gegenüber dem Kind«, als die er das jahrhundertelange Fehlen autonomer Bildnisse von Kindern interpretierte – dass bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts auch keine solchen von Erwachsenen bekannt sind, reflektierte er dagegen nicht.16 Zweifel an den Kriterien, nach denen Ariès Texte wie Bilder beurteilte, musste auch die chronologische Großzügigkeit wecken, mit der er die »moderne Familie« irgendwann zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert diesen Wandel ins Werk setzen ließ, da sie sich um ihre Kinder herum arrangiert, emotionales Kapital in sie investiert und sie entsprechend habe malen lassen.17 Wenn die erst zu entdeckende Kindheit bei Ariès zugleich als etwas begegnet, das es doch immer gegeben hatte, nur anders und kürzer, nämlich abgeschlossen »mit etwa sieben Jahren«, dann griff er selektiv auf die Einteilung der frühen Lebensalter zurück, die im Mittelalter aus der spätantiken Überlieferung bekannt war.18 Kindheit setzte Ariès gleich mit der infantia, dem Säuglings- und Kleinkindalter als der nur ersten von drei frühen Lebensphasen. Ob dieser bereits der Übergang in die Welt der Erwachsenen folgte, wie Ariès ihn postulierte, ist jedoch eine Frage der Interpretation: Immerhin folgten in diesem Schema die sieben Knaben- und Mädchenjahre der pueritia, die günstigstenfalls auch Schuljahre 12 Siehe Poulsen 1991, Bd. 1, S. 231, Kat.-Nr. 878; Ausst.-Kat. Oldenburg 2013, S. 68, Kat.-Nr. 21 (Julia Ettinghaus). 13 Rückseitig bez. »Karoline Amalie f 28 Juni 1796 d. 1861«; siehe Poulsen 1991, Bd. 1, S. 230f., Kat.-Nr. 877, Bd. 2, S. 545, Abb. 14 Rousseau 1963, S. 46. 15 Man vergleiche etwa Francesco de Goyas um 1810 gemaltes Bildnis des Arztsohnes José Costa y Bonells vor seiner Trommel und einem zum »Reiten« geeigneten Holzpferd auf Rollen (The Metropolitan Museum, New York, Inv.-Nr. 61.259); siehe Liedtke 1989, S. 320, Kat.- Nr. 208, Abb. 16 Ariès 1975, S. 51. Für eine detaillierte, doch längst nicht erschöpfende Kritik der Thesen von Ariès siehe Pollock 1983, S. 1–67. 17 Ariès 1975, S. 51, 534. 18 Ebd., S. 559. Wie sehr die positive Wahrnehmung der Kindheit am Ausgang des Jahrhunderts Rousseaus auch solche Kinderbildnisse prägte, die Familien der bedeutenden und weniger bedeutenden Herrscherhäuser Europas in Auftrag gaben, vermag Jens Juels Porträt des etwa zweijährigen Friedrich Emil August von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (Abb. 1) zu veranschaulichen.12 Das blonde, auf einem kostbaren Teppich sitzende Kleinkind, das sein Spiel unterbricht, um den Blick des Betrachters zu suchen und ihm eine ungelenke Hand entgegenzurecken, ist ein Enkel König Christians VII. von Dänemark. Das Kind trägt die leichte, klassizistische Form eines in den ersten Lebensjahren für Mädchen wie für Jungen üblichen Kinderkleides, dazu weiße Strümpfe und grüne Schuhe. Bezeichnenderweise galt Juels dazugehörige Studie nur des geneigten Kopfes des kleinen Prinzen lange Zeit als ein Porträt seiner Schwester, immerhin einer zukünftigen dänischen Königsgattin, doch die Trommel, die Reitgerte und das umgekippte Holzpferd auf Rädern sprechen deutlich genug für einen Jungen.13 Der durchdachten Komposition zum Trotz, in welcher der Körper des schräg hingelagerten Kindes eine Diagonale bildet, die sich mit den parallelen Diagonalen seiner Arme und der auf der Trommel aufliegenden Reitgerte überkreuzt, wirkt nichts im Bild gestellt – vielmehr dient schon die Wahl des ungewöhnlichen Querformats der Suggestion kindlicher Ungezwungenheit. Statt den Betrachter auf das sitzende Kind herunterblicken zu lassen, weist Juel ihm einen Platz auf Augenhöhe zu, als würde man selbst auf dem Teppich hocken. Die unbeholfen ausgestreckte Hand schließlich findet sich in einer Passage Rousseaus in ihrem gestischen Doppelcharakter beschrieben: Eine solche Geste wirke, bezogen auf einen Gegenstand außer Reichweite, als wollte das Kind »dem Gegenstand befehlen, näher zu kommen, oder als ob es uns auffordere, ihn heranzubringen«.14 Nach dem gleichen Prinzip gelten Befehl und Aufforderung im Bildnis des Enkels des dänischen Königs zweifellos dem Betrachter. der Kindheit
› 25 ‹ Abb. 2 Abraham Bosse La Joye de la France (Allegorie auf die Geburt Ludwigs XIV.) 1638 · Radierung und Kupferstich The Metropolitan Museum, New York, The Elisha Whittelsey Collection, The Elisha Whittelsey Fund, 1951, New York 19 Vgl. Arnold 1980, S. 18–20; Fabian 2016, S. 200. 20 Siehe Bellin 2022, S. 32. Angesichts der fundamentalen Bedeutung, die Ariès diesem Wechsel der Kleidung vom geschlechtsneutralen Kinderkleid gegen Hosen und Röcke als der geschlechtsspezifischen Kleidung der Erwachsenen beimaß, drängt sich der Eindruck auf, dass er sich in seiner These, Kinder seien lange Zeit wie »kleine Erwachsene« dargestellt worden, weil sie nur noch als solche wahrgenommen und behandelt wurden, sogar von bildlichen Darstellungen hatte leiten lassen. Dabei ist gar gerade im dynastischen Bereich nicht besonders klar, was genau die Unkindlichkeit solcher »kleiner Erwachsener« ausmacht bzw. wie viel historische Lebenswirklichkeit in Bildern überhaupt enthalten ist. Am offensichtlichsten, nämlich anhand eines Säuglings mit Krone, wird dies in der Zuspitzung der La Joye de la France betitelten Allegorie auf die Geburt des künftigen Ludwig XIV. (Abb. 2) von Abraham Bosse,20 dessen Kupferstiche Ariès wiederholt heranzog: Dies ist schon deshalb kein Porträt, weil das königliche Privileg, das die bei der Erteilung als vollendet anzunehmende Druckplatte vor Raubdrucken schützte, auf den 9. September 1638 datiert ist, den Tag der Geburt des Thronfolgers. Das Neugeborene, dessen ganzer Körper eng gewickelt ist in einen Stoff mit dem Lilienmuster der Bourbonen und das darüber die Miniaturausgabe eines hermelinbesetzten Krönungsornats trägt, dazu die in Wirklichkeit natürlich zu große Dauphinskrone über einem Spitzenhäubchen, wird von seiner Mutter Anna von Österreich stehend dem Hofstaat und damit den Betrachtern des Kupferstichs präsentiert. Ist dies ein gekrönter Säugling oder ein gewickelter Erwachsener miniaturhaften Formats? Nichts an dieser Darstellung ist wörtlich zu nehmen, und natürlich ist genau dies das Wesen einer Allegorie, doch kann man bei dynastischen Bildnissen nicht zwingend vom Gegenteil ausgehen. waren und an die sich noch einmal sieben Jahre der adolescentia anschlossen, wie wir sie als die Teenagerjahre bis heute kennen.19 Nur die erste Lebensphase indessen endete mit einer an Kinderbildnissen sofort ablesbaren äußerlichen Veränderung, dem Ablegen des einer Soutane ähnelnden, bis ins 18. Jahrhundert hinein von Mädchen und Jungen die ersten fünf bis sieben Jahre lang in beinahe identischer Form getragenen Kinderkleides.
› 26 ‹ Der französische Thronfolger im Kupferstich Bosses trägt mit Hermelinmantel und Krone Accessoires, die auch solche gekrönter Erwachsener waren, und doch ist das Kleinkind seinem Alter entsprechend gewickelt. Diese allegorische Kombinatorik versucht keinesfalls glauben zu machen, dass das königliche Wickelkind seine ersten Monate mit Krone und Hermelinmantel verbrachte, doch der im eigentlichen Kinderporträt so anschauliche Wechsel der Kleider legt eine wörtlichere Lesart im Gegenteil nahe. Ob solcher Bildevidenz zu trauen ist, scheint eine andere Frage, denn der reale Kleidertausch ist ein rite de passage gewesen, der die Kindheit bestenfalls in den Augen der Kinder selbst beendete – und auch das nur bis zum Beweis des Gegenteils. Unglücklich darüber, »daß ich immer noch als Kind galt«, konnte die späterer eigener Darstellung nach zehnjährige Wilhelmine von Preußen, die ältere Schwester Friedrichs des Großen, bei ihrem Vater Friedrich Wilhelm I. zwar endlich durchsetzen, »mich nunmehr wie eine Erwachsene zu behandeln und mir die Kinderkleider ablegen zu lassen«, doch wurde sie sehr schnell belehrt, dass zwischen beidem kein allzu enger Zusammenhang bestand.21 Wilhelmines Bayreuther Erinnerungen, denen die Begebenheit entnommen ist, legen ein Datum um 1720 nahe. Tatsächlich aber malte Antoine Pesne schon 1714 die damals fünfjährige Prinzessin in einer goldbesetzten robe de cour aus silbrigem Atlas (Abb. 3).22 Ein Kinderkleid, auf dem allerdings schon der gestickte Stern und die orangefarbene Schärpe des Schwarzen Adlerordens prangen, trägt im gleichen, um die Assistenzfigur eines farbigen Bedienten ergänzten Doppelporträt nur ihr kleiner Bruder, der zukünftige Friedrich II. von Preußen, der als etwa Zweijähriger mit umgehängter Trommel nach seinem KriegsAbb. 3 Antoine Pesne Friedrich von Preußen und seine Schwester Wilhelmine, spätere Markgräfin von Bayreuth 1714 · Leinwand Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Schloss Charlottenburg 21 Weber-Kellermann 1981, S. 62. 22 Vgl. Berckenhagen et al. 1958, S. 128, Kat.-Nr. 115a (datierbar anhand eines Briefes der Königin über ihre Bestellung beim Künstler).
› 27 ‹ 23 Ariès 1975, S. 98. 24 Weber-Kellermann 1981, S. 56. Wilhelmine behielt ihre Erzieherin zu ihrem Leidwesen bis ins zwölfte Lebensjahr. 25 Ariès 1990, S. 111. 26 Siehe Unger 1979, S. 65–74; Ausst.-Kat. Berkeley/Memphis/ Omaha 1995, S. 81f.; Bedaux 2000, S. 11–12; Postle 2005, S. 8f.; Neumeister 2007, S. 14; Klaasen 2013, S. 16; Fabian 2016, S. 199f. 27 Aries 1975, S. 102. Vgl. Kemperdick 2006, S. 19. 28 Ariès 1975, S. 103. 29 Siehe Ausst.-Kat. Berkeley/ Memphis/Omaha 1995, S. 20; Neumeister 2007, S. 13; Klaasen 2013, S. 16. Speziell zur bis ins Dessauer Philantropin reichenden Rezeption Lockes siehe Overhoff/Schmitt 2007. 30 Ariès 1975, S. 562. Zum politischen Hintergrund siehe z. B. Ariès 1990, S. 110. spielzeug gestikuliert und von der Schwester mit der Hand auf der seinen beschwichtigt wird (vergebens, wie man weiß). Vielleicht trogen Wilhelmine ihre Erinnerungen, was den späten Zeitpunkt ihres Kleiderwechsels angeht, doch ist ihr Bildnis im Hofkleid wie jedes Porträt eine Inszenierung und keine Momentaufnahme. Während Ariès in der Geschichte der Kindheit dazu neigte, Kinderbildnisse für Fenster in eine unverzerrte historische Realität dahinter zu halten, scheint genau dies ausgeschlossen. Drückt sich die Wertschätzung für die Kindheit nach Ariès aus im »Porträt eines realen Kindes, wie es in einem bestimmten Augenblick seines Lebens gewesen ist«, so wäre daran zu erinnern, dass ein Gemälde kein Spiegel ist und nicht einfach etwas wiedergibt, sondern dass es seine Entstehung lauter künstlerischen Entscheidungen verdankt – getroffen auf Anweisung oder zumindest mit Zustimmung des jeweiligen Bestellers, zumeist der Eltern, und sich, ob affirmativ oder nicht, gegenüber künstlerischen Mustern und Konventionen verhaltend.23 Dass die kleine Wilhelmine von Preußen, um bei diesen Beispiel zu bleiben, zeitweise tatsächlich mit dem Hermelinmantel vor dem Maler stand, den sie im Doppelporträt von Pesne um ihre Schultern gelegt hat, ist zumindest denkbar; wahrscheinlicher ist, dass das Accessoire ihm gesondert überstellt wurde und er es in Abwesenheit der Porträtierten malte. Ausgeschlossen aber ist, dass die preußische Prinzessin ihre Kindheit mit diesem Hermelinmantel angetan verbrachte, womöglich noch im Sommer, den im Doppelbildnis der vom Bedienten gehaltene Sonnenschirm ebenso evoziert wie ihr Korb mit Blumen. Ähnliches gilt für Ordensstern und Schärpe ihres kleinen Bruders, enthielt doch jedes Ordensreglement Vorschriften, was zu welchen Gelegenheiten anzulegen war – und der höfische Alltag gehörte nicht dazu. Kindlichkeit Die von Ariès konstatierte Seltenheit autonomer Porträts von Kindern bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts immerhin ist real.27 Während er aber nicht nur deren bald anschwellende Zahl registrierte, die auch die Ausstellung spiegelt, und sie als die »große Neuerung des 17. Jahrhunderts« hervorhob, sah Ariès den Wandel zur neuen Wertschätzung der Kindheit mit diesem Anstieg bereits vollzogen.28 Die Kunstgeschichte hingegen datiert diese Veränderung üblicherweise erst ins 18. Jahrhundert und deutet sie wahlweise als Ergebnis der rationalistischen Pädagogik John Lockes, dessen Thoughts Concerning Education von 1693 in den nächsten Jahrzehnten europaweit rezipiert wurden, als Folge des eine ganz andere Richtung einschlagenden Émile Rousseaus von 1762 oder der dazwischen liegenden Aufklärung ganz allgemein.29 Alles dies spielt bei Ariès keine Rolle, und nicht immer ist die Pointe bemerkt worden, dass der erklärte Antimodernist aus der royalistischen Rechten Frankreichs die Anerkennung der Kindheit auch gar nicht für eine Errungenschaft hielt. Für Ariès war sie vielmehr das bedauerliche Ergebnis des Rückzugs eines egoistischen Bürgertums aus der vermeintlichen Idylle standesübergreifenden Austauschs, als die er die französische Monarchie vor 1789 verklärte.30 und Herrschaft Um die prinzipielle Inszeniertheit von Bildnissen zu verstehen, muss man keinem Hofmaler des 18. Jahrhunderts gesessen haben. Wer Kinderfotos von sich besitzt, die im Studio eines professionellen Fotografen aufgenommenen wurden, der weiß sehr gut, wie viel oder wenig solche Porträts über das Dasein eines Kindes verraten: Gegen solche Bildevidenz wurde die Kindheit keinesfalls in Lackschuhen und dem besten Kleid oder mit Jackett, Fliege und einem so akkurat nie wieder gesehenen Seitenscheitel verbracht. Was die kleine Wilhelmine von Preußen betrifft, so bildete der vermutlich graduelle, ostentativ mit dem Sonntagsstaat beginnende Wechsel der Kleider ohnehin nur den Abschluss der ersten Lebensphase, der nun die Knaben- und Mädchenjahre folgten, nicht das Erwachsensein. Jungen, die bei Hof aufwuchsen, würden im gleichen Zug aus dem weiblich geprägten Haushalt der Mutter in den des Vaters wechseln und männliche »Gouverneure« (Erzieher) ganz so an die Seite gestellt bekommen, wie Wilhelmine es für ihren Bruder Friedrich beschrieb, als dieser »in sein siebtes Jahr getreten war«.24 Doch ließen sich solche Weichenstellungen in Porträts schlechter veranschaulichen als ein Wechsel der Kleidung. So kam trotz oder wegen der Gutgläubigkeit, mit der Ariès ohne Bedenken von Medium, Kontext, Konventionen und Adressaten in Bildnissen nur das »ikonographische Dokument« sah,25 bis heute keine Ausstellung von Kinderbildnissen umhin, sich zur Geschichte der Kindheit und ihren Thesen zu positionieren – ob in Form ausführlicher Widerlegung, mit Spott, durch vorsichtige Zustimmung oder Distanzierung.26
› 58 ‹ Wilhelm II. von Oranien-Nassau (1626–1650) ist fünf oder sechs Jahre alt in diesem ersten Bildnis, das Anthonis van Dyck vermutlich im Winter 1631/32 in Den Haag von ihm malte. In einem zweiten, das 1641 in London entstand, posierte Wilhelm als 15-jähriger Bräutigam zusammen mit seiner noch jüngeren Kindsbraut, der nur neun Jahre alten Prinzessin Maria von England.1 Der kleine Prinz, erstgeborener Sohn des niederländischen Statthalters Friedrich Heinrich von Oranien-Nassau und Amalias zu Solms-Braunfels, trägt ein fußlanges, orangenes Samtkleid mit geschlitzten Ärmeln, breitem Spitzenkragen und Schleppe, dazu ein schwarzes Samtbarett mit Federn. Die Kinderkleider legte Wilhelm erst 1633 ab, als er sieben Jahre alt war.2 Wie das schlanke Windspiel an seiner Seite blickt Wilhelm aufmerksam, doch unaufgeregt aus der gegenläufigen Bewegung nach rechts, in die auch seine Rechte vorausweist, auf etwas, das links außerhalb des Bildraumes liegt. Gravitas und Kindlichkeit, natürliche Neugier und angelernte Affektkontrolle gehen jene Verbindung ein, für die Van Dyck gerade als Porträtist von Kindern so geschätzt und berühmt war. Der Prinz wird von einem kannelierten Säulenschaft hinterfangen, der als Hinweis auf die Herrschertugend der fortitudo (Stärke) zu lesen ist, und einer Tapisserie, auf der das Wappen und der Löwe des Hauses Oranien-Nassau prangen. Wie das Orangenbäumchen am linken Bildrand und selbst die orangene Farbe des Kinderkleids dienen diese Elemente dazu, den einzigen Sohn Friedrich Heinrichs als dessen Nachfolger im Amt des Statthalters der Vereinigten Niederlande zu präsentieren. Nichts im Bild weist auf die Republik oder deren parlamentarische Vertretung, die Generalstände, die seit der Geburt Wilhelms als dessen Patenkollektiv firmierten.3 Anders als die Würde eines Prinzen von Oranien und Grafen von Nassau war die Statthalterschaft der gesamten Niederlande kein erbliches Amt, auch wenn seit Beginn der Republik alle Stadhouder aus dem Haus Oranien-Nassau stammten.4 Ursprünglich ausgeübt in Vertretung des habsburgischen Monarchen in den Niederlanden, blieb das Amt des Statthalters in der Republik als politische und militärische Führungsposition erhalten, deren quasi-monarchische Züge immer wieder zu Konflikten mit den Generalständen führten. Wilhelms ehrgeizigem Vater, der das Amt seit 1625 hielt, war in der Acte van Survivance vom April 1631 durch fünf der sieben nordniederländischen Provinzen sogar dessen künftige Weitergabe an seinen Sohn verbrieft worden, doch eben nicht durch alle. Die kurze Statthalterschaft Wilhelms II. ab 1647 war geprägt durch die Gegnerschaft besonders der mächtigen Provinz Holland, deren Widerstand er am Ende durch einen Marsch auf Amsterdam militärisch zu brechen versuchte. 1 Wilhelm II., Prinz von OranienNassau, und seine Braut Maria, Prinzessin von England, 1641, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv.- Nr. SK-A-102; siehe Ausst.-Kat. Antwerpen/London 1999, S. 338, Kat.-Nr. 105, Abb. (Judy Egerton). 2 Siehe Huygens 1884, S. 24 (4.7.1633). Das Jahr wird bisweilen falsch als 1631 angegeben, so in Baudouin 2003, S. 157. 3 Siehe Lademacher 1999, S. 51. 4 Zur Statthalterschaft siehe ebd., bes. S. 43f. Anthonis van Dyck Prinz Wilhelm II. von Oranien-Nassau Um 1631/32 Leinwand · 119 × 105 cm Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, Schloss Mosigkau Inv.-Nr. Mos-13 Provenienz: Gemalt im Auftrag Friedrich Heinrichs von OranienNassau; bis 1675 im Besitz seiner Witwe Amalia von Solms, Den Haag; 1675 Albertine Agnes von Nassau-Dietz, Oranjewoud; 1696 Henriette Catharina von Anhalt-Dessau; 1708 Herzog Heinrich von Sachsen-Weißenfels-Barby (?); 1728 (?) Marie Eleonore von Radziwiłł, Dessau; 1756 erworben durch Anna Wilhelmine Prinzessin von Anhalt-Dessau, Schloss Mosigkau; 1780 Hochadeliges Fräuleinstift zu Mosigkau; 1951 Staatliches Museum Schloss Mosigkau; 1997 Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, Schloss Mosigkau Literatur: Ausst.-Kat. Krefeld/Oranienburg/Apeldoorn 1999, S. 117f., Kat.-Nr. 5.10 (Wolfgang Savelsberg); Barnes et al. 2004, S. 339–341, Kat.-Nr. III.114 5
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› 60 ‹ Das Kinderbildnis Wilhelms II. entstand mindestens ein halbes Jahr nach Verabschiedung der Acte van Survivance und brachte die dynastischen Aspirationen seiner Eltern zum Vortrag, die sich ebenfalls von Van Dyck porträtieren ließen.5 Dennoch (oder vielmehr deswegen) blieb die Position des Statthalters nach dem frühem Tod Wilhelms II. an den Blattern 1650 für mehr als zwei Jahrzehnte unbesetzt. Mehr noch, die Provinz Holland schloss in einer geheimen Klausel der Acte van Seclusie vom April 1654 ausdrücklich alle Mitglieder des Hauses Oranien-Nassau vom Statthalteramt aus.6 Indem die Witwe Friedrich Heinrichs, Amalia zu Solms-Braunfels, ihren nun vierjährigen Enkel, den kurz nach dessen Tod zur Welt gekommenen Sohn Wilhelms II., im gleichen Jahr durch Adriaen Hannemann nach dem Muster porträtieren ließ, das Van Dyck vorgegeben hatte, hielt sie den Anspruch der Oranier auf die Statthalterwürde dennoch aufrecht: Im Bildnis Hannemanns (Abb. 1) greift der vor einem Orangenbäumchen stehende Prinz eine Frucht, während die stachelige Distel zu seinen Füßen als Verweis auf die exilierte englische Königsfamilie der Stuarts zu lesen ist, der er mütterlicherseits angehörte.7 Etwas jünger als sein Vater im Bildnis Van Dycks, trägt Wilhelm III. unter dem schwarzen Barett mit Federschmuck noch eine Haube, und über dem Kinderkleid eine Schürze. Erst die Katastrophe des französischen Angriffs 1672 brachte dem Sohn Wilhelms II. die Ernennung zum Statthalter, bevor er nach der »Glorious Revolution« von 1688 als König William III. nach England wechselte. Eine der Werkstatt Van Dycks zugeschriebene Wiederholung des Bildnisses Wilhelms II. befindet sich im Kunstmuseum Rigaer Börse.8 Im Verlag der Dessauer Chalcographischen Gesellschaft erschien 1797 ein Nachstich des Kupferstechers Franz Xaver Michelis ( 14), der andeutet, welche Wertschätzung Van Dyck und seinen Kinderporträts gerade im Übergang von Aufklärung, Revolution und Romantik entgegengebracht wurde. • GW 5 Für die beiden als Pendants angelegten Kniestücke siehe Walsh 1994, S. 224f., Abb. 2, 3. 6 Lademacher 1999, S. 58. 7 Vgl. Ausst.-Kat. Haarlem/Amsterdam 2000, S. 233f., Kat.- Nr. 62. Hannemann hatte sich bereits vor Van Dyck in London niedergelassen und brachte 1640 eine ganz an dessen Erfolgen orientierte Bildnismalerei nach Den Haag zurück (vgl. Sluijter 2003, S. 18). 8 Riga, Arzemju mákslas muzejs, Inv.-Nr. GL-162; Ausst.-Kat. Krefeld/Oranienburg/Apeldoorn 1999, S. 119, Kat.-Nr. 5.11 (Wies Erkelenz). Abb. 1 Adriaen Hannemann Prinz Wilhelm III. von Oranien-Nassau 1654 · Leinwand Rijksmuseum, Amsterdam
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› 70 ‹ Balthasar Denner, Jacob van Schuppen, Franz de Paula Ferg und Franz Werner Tamm Barthold Heinrich, Anna Ilsabe und Johann Bernhard Brockes Um 1720–1725 Leinwand · 110 × 92 cm Rückseitig alte Beschriftung B. H. Brockes hat die Originalia / Denner die Portraits / van Schuppen die Figuren / von Tham die Bluhmen / Ferg die Landschaft / gemacht. Hamburger Kunsthalle Inv.-Nr. HK-36 Provenienz: Erbgang in der Familie; Geschenk der Erben Hermann Maneckes, 1858 Literatur: Gerkens 1971, S. 105 –108; Kat. Hamburg 2007, S. 110f. (Gerrit Walczak) In einem Garten oder Park sind die drei ältesten Kinder des Hamburger Juristen, Ratsherrn und Naturlyrikers Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) arrangiert. Auf einer steinernen Balustrade sitzt in der Mitte die drei oder vier Jahre alte, nach ihrer Mutter benannte Anna Ilsabe (geboren 1717) in einem blauen Kleid mit Schürze. Links von ihr steht der mit fünf oder sechs Jahren Älteste, der 1715 zur Welt gekommene Barthold Heinrich, der die Rechte um ihre Schulter gelegt hat; rechts Johann Bernhard, 1716 geboren, mit einem Korb, dem seine Schwester einen Pfirsich und die von ihr emporgehaltene Rose entnommen hat. Die beiden Jungen in ihren kragenlosen, goldbetressten Justeaucorps geben sich der Schwester gegenüber als vorbildliche kleine Kavaliere. 1 Grundlegend für die folgenden Ausführungen ist Gerkens 1969, S. 107 f. 2 Dazu malte Denner ein nur im Kupferstich überliefertes Halbporträt Brockes’ und zwei Bildnisminiaturen, auch besaß dieser einen der hyperrealistischen Studienköpfe Denners und ein Blumenstillleben. Siehe das Faksimile des Katalogs in Klemper/Ketelsen/Zelle 1998, Bd. 2, S. 309–315, hier S. 310f., Nr. 25, 62. 3 Siehe Kat. Hamburg 2007, S. 111f. (Gerrit Walczak); Gerkens 1971, bes. S. 108. 4 Siehe Kat. Hamburg 2007, S. 109f. (Gerrit Walczak); Gerkens 1969, bes. S. 108. Ungewöhnlich ist zunächst die Entstehung des Gemäldes, denn außer dem laut rückseitiger Beschriftung für die »Originalia« zuständigen Brockes waren nicht weniger als vier Maler beteiligt.1 In Hamburg malte Balthasar Denner vor Mai 1721, als er über Amsterdam für einige Jahre nach London wechselte, die Köpfe der Kinder als die eigentlichen »Portraits«. Brockes selbst reiste im gleichen Monat im Auftrag des Hamburger Rates an den Wiener Hof und muss die Leinwand mitgenommen haben, da Jacob van Schuppen nur dort die »Figuren« gemalt haben kann, worunter man vor allem die Gewandpartien und Hände verstehen darf. Franz Werner Tamm dürfte ebenfalls in Wien die Früchte und »Bluhmen« ergänzt haben. Der Landschaftsmaler Franz de Paula Ferg schließlich ist 1720 in Braunschweig tätig gewesen und wechselte wohl noch im gleichen Jahr nach London – er dürfte über Hamburg gereist sein und steuerte bei dieser Gelegenheit möglicherweise die Landschaft bei, doch ist durchaus auch denkbar, dass Brockes die Leinwand nach London spedierte. Brockes, den Denner 1710 das erste Mal porträtiert hatte, gab nach der Rückkehr des Malers aus London zwei Gruppenbildnisse weiterer sechs seiner Kinder bei diesem allein in Auftrag, die 1728/29 als Pendants entstanden.2 Als erstes malte Denner das schon recht erwachsen wirkende Porträt (Abb. 1) des zehnjährigen Erich Nicolaus, der Maria Anna, neun Jahre alt, und der siebenjährigen Catharina Margareta.3 Das Gegenstück (Abb. 2) arrangierte Joachim Wilhelm, sechs Jahre alt, den vierjährigen Julius Herman und, im Kinderkleid mit gepolsterter Fallhaube, den zwei Jahre alten Garlieb Joachim.4 Die ursprünglich etwas kleinere Leinwand des ersten Bildnisses von Kindern Brockes’ wurde nachträglich und mutmaßlich durch Denner selbst auf das Maß der beiden späteren erweitert. 8 Dass Brockes drei Gruppenbildnisse von immerhin neun seiner zwölf Kinder – nur sieben von ihnen erreichten das Alter von Erwachsenen – von Denner bzw. unter dessen maßgeblicher Beteiligung malen ließ, ist ungewöhnlich, denn man würde als Dreiviertelporträts angelegte Gruppenbildnisse von Kindern eher in der höfischen Sphäre verorten. Doch arbeitete Denner nicht nur für die norddeutschen Höfe, sondern auch für bürgerliche Oberschichten, deren Repräsentations- und
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› 72 ‹ Konsumbedürfnisse sich ebenso aus der Adelskultur bedienten wie sie in diese zurückwirkten – nicht von ungefähr ist mit Blick auf Denners Bildnisse von einer »Durchdringung der höfischen und der bürgerlichen Sphäre« gesprochen worden.5 Weil es diese auch in den vermeintlich bürgerlichen Niederlanden gab, Hamburgs damals wichtigstem Handelspartner, verfügt Denners vergleichbares, um 1738 in Amsterdam entstandenes Bildnis der drei Kinder des Kaufmanns Balthasar Nolthenius sogar über eine schwere, direkt dem barocken Standesporträt entnommene Draperie mit Kordeln vor einer Säule.6 Denners Auftraggeber ließ in seiner Autobiografie ebenfalls keinen Zweifel daran, wie eng sich Bürger wie er, die es sich finanziell leisten konnten, und »Graffen und Baronen« besonders an den Universitäten, auf Bildungsreisen und in literarischen Zirkeln vermengten.7 Brockes war wirtschaftlich unabhängig, sammelte Kunst, besaß ein Landhaus mit großem Garten vor der Stadt und wurde schließlich 1730 zum kaiserlichen Pfalzgrafen erhoben – eine Abgrenzung zur Adelskultur würde letztlich überraschen. 5 Ausst.-Kat. Hamburg 1969, S. 7 (Gehrhard Gerkens). Vgl. Leppien 2001, S. 180f. 6 Willem Hendrik, Cornelia und Catharina Hester Nolthenius, um 1738, Privatbesitz; siehe Niemeijer 1970, S. 207f., Abb. 9. 7 Siehe Brockes 2012, S. 7–15, 20–22 (Zitat S. 8). Abb. 1 Balthasar Denner Anna Maria, Erich Nicolaus und Catharina Margaretha Brockes um 1728 · Leinwand Hamburger Kunsthalle
› 73 ‹ Alle drei Bildnisse der Brockes-Kinder zeichnen sich durch deren Verknüpfung in Gesten und Blicken aus, durch Arrangements, die trotz ihrer Künstlichkeit schlüssig wirken, und dadurch, dass für jedes einzelne ein geschlechts- und alterstypisches Verhalten angedeutet scheint. Es waren dies Mittel, die von Anbeginn auch Denners Gruppenbildnisse ganzer Herrscherfamilien in der Art englischer Konversationsstücke (conversation pieces) vor allzu großer Steifheit bewahrten. Doch die Kinder sind näher an den Betrachter herangerückt als in solchen Bildnissen mit ihrer größeren Personenzahl, weshalb die Rolle von Blumen und Früchten in ihren Händen, für die Denner keinesfalls auf einen Spezialisten wie Tamm angewiesen war, umso mehr ins Auge fällt. Sie geht auf die Physikotheologie Brockes’ zurück, der als Naturlyriker des ab 1721 veröffentlichten Irdischen Vergnügens in Gott zu den wichtigsten Autoren der Hamburger Frühaufklärung zählte. Sinnliche Wahrnehmung und Studium der Natur sind in der Reimschmiede des Vaters der Kinder durchweg Anlass zu religiösem Empfinden, weil Gott sich in allen ihren Formen offenbart. So harrt die Rose, die Anna Ilsabe emporhält, der Aufmerksamkeit des erwartungsvoll von ihr angeblickten Johann Bernhard, denn »Augen, die deine Vortrefflichkeit sehen, / Müssen, vor Anmuth erstaunet, gestehen, / Daß dich ein Göttlicher Finger gemacht«.8 Auch die gerade unbeachtete Pflaume in ihrer Linken lohnt der Betrachtung, die kindliche Welt- und Gotteserfahrung gleichermaßen birgt: »Ferner kann von Gottes Güte / Auch die Pflaume Zeuge seyn«, weiß der letzte, posthum veröffentlichte Band des Irdischen Vergnügens.9 • GW 8 Brockes 1721–1748, Bd. 1, S. 12 (von Georg Friedrich Händel in der letzten seiner Neun deutschen Arien vertont). 9 Ebd., Bd. 9, S. 162. Abb. 2 Balthasar Denner Julius Hermann, Joachim Wilhelm und Garlieb Joachim Brockes um 1729 · Leinwand Hamburger Kunsthalle
› 100 ‹ Das ungewöhnlich schmale Hochformat zeigt zwei Mädchen, die sich einander zugewandt in der freien Landschaft niedergelassen haben. Das rechts im Vordergrund kniende Mädchen im sandfarbenen Kleid balanciert einen Korb mit Blumen auf seinem linken Bein und überreicht ihrer Begleiterin eine üppig blühende Rose. Diese nimmt die Blume in gezierter Handhaltung entgegen, wendet ihren Blick aber nicht auf das empfangene Geschenk, sondern in freundlicher Vertrautheit aus dem Bild heraus zum Betrachter. Der Ort des Geschehens ist eindeutig zu bestimmen. Im Hintergrund wird über der Dessauer Muldbrücke ein Abschnitt der Fassade des von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699–1753) entworfenen Ostflügels des Residenzschlosses mit seinen charakteristischen großflächigen Schiebefenstern sichtbar. Dort im Schloss ist das Gemälde auch erstmals 1923 mit dem Titel Zwei Prinzessinnen von Anhalt nachweisbar.1 Bereits 1927 befand es sich in der Dauerausstellung der Anhaltischen Gemäldegalerie, versehen mit dem inzwischen präziseren Titel Prinzessin Amalie Auguste (1793–1854) und Luise Friederike (1798–1858) von Anhalt-Dessau als Kinder mit Blumen.2 Diese Benennung der beiden dargestellten Mädchen lässt sich jedoch nicht mit der links unten auf der Bildfläche lesbaren Bezeichnung F. Tischbein 1797 vereinbaren, welche in ihrer Form ganz mit den sonst von Tischbein angebrachten Signaturen und Datierungen übereinstimmt. Denn 1797 wäre die jüngere der beiden Prinzessinnen noch nicht einmal geboren. Die ältere der beiden, Amalia Augusta, kennen wir aus anderen Porträts Tischbeins sehr gut ( 13, 18), welche mit keinem der beiden Mädchen Ähnlichkeit zeigen. Da damals kein Überfluss an Prinzessinnen von Anhalt-Dessau existierte3, erscheint der Vorschlag Martin Frankes überzeugender, die Identifizierung der dargestellten Mädchen mit den anhaltischen Prinzessinnen aufzugeben und in ihnen die Töchter des Malers zu erkennen. Insbesondere in dem vorderen Mädchen ließe sich gut die damals etwa zehnjährige Elisabeth (Betty) Tischbein vermuten (1787–1867), die ihr Vater 1804 in sehr ähnlicher Profilansicht festgehalten hat.4 Auch in einem 1796 für Prinz Johann Georg von Anhalt-Dessau (1748–1811) angefertigten Familienbild des Künstlers erscheinen beide Töchter (Abb. 1).5 Caroline (1783–1842), die ältere der beiden, wirkt hier jedoch entwickelter als das hintere Mädchen auf dem ein Jahr später entstandenen Dessauer Porträt, weshalb diese Identifizierung zu hinterfragen wäre. Ungewöhnlich erscheint es aber nicht, dass Tischbein in dieser Zeit Angehörige seiner eigenen Familie ins Bild setzte, entstanden doch seine beiden großen Familienbilder jeweils am Anfang und am Ende seiner Zeit in Dessau: das schon erwähnte Bild für Prinz Johann Georg wurde 1796 fertigstellt; das sich heute im Leipziger Museum befindliche Familienbild, welches den 1797 geborenen Sohn Carl Wilhelm einschloss, wurde 1800 vollendet, als die Familie inzwischen nach Leipzig gezogen war (Abb. 6 auf S. 15). »Ein behagliches Stilleben genossen wir gerade besonders während der Jahre, die wir in Dessau zubrachten«, erinnert sich Jahrzehnte später Caroline, »unvergesslich sind mir diese freundlichen Abende geblieben. Die Eltern gingen nur selten in 1 Stoll 1923, S. 183. Die angegebenen Maße (70 × 110 cm) sind widersprüchlich, aber die herzogliche Inv.-Nr. 2363 identifiziert das Gemälde eindeutig. 2 Kat. Dessau 1927, S. 57, Gal.- Nr. 220, mit der Maßangabe 120 × 71 cm und der alten herzoglichen Inv.-Nr. 2363. 3 Der Fürst besaß nur einen legitimen Sohn, seine Brüder keine legitimen Kinder. Kleine Prinzessinnen von Anhalt-Dessau waren damals also nur Amalia Augusta und Luise Friederike, die Töchter des Erbprinzen. 4 Die Künstler Töchter als Personifikationen von Schauspiel und Musik, Kunsthistorisches Museum Wien. 5 Porträt des Künstlers und seiner Familie, Franke 1993, Bd. 2, S. 474, WV 463. Das Bild befand sich lange im Museum der bildenden Künste Leipzig und ist seit 2014 im Eigentum des Fürsten von und zu Liechtenstein (Inv.-Nr. GE 2505). Johann Friedrich August Tischbein Zwei Mädchen an der Dessauer Muldbrücke (die Töchter des Malers?) 1797 Leinwand · 122 × 72,5 cm Bez. F. Tischbein 1797 (links unten) Rückseite bez. 75 restau. Normann Anhaltische Gemäldegalerie Dessau Gal.-Nr. 220 Provenienz: 1875 in herzoglichem Besitz; 1923 Residenzschloss Dessau, 3. Stock, Zimmer 114, Inv.-Nr. 2363; 1927 Anhaltische Gemäldegalerie Dessau, Palais Reina Literatur: Stoll 1923, S. 183; Kat. Dessau 1927, S. 57, Gal.-Nr. 220; Franke 1987, S. 95; Franke 1992, Bd. 1, S. 111, Bd. 2, S. 476f., WZ 464 16
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