Leseprobe

383 Umstand erst dann wesentlich ändern. Mit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags zwischen BRD und DDR im Dezember 1972, mit der die DDR offiziell als zweiter deutscher Staat anerkannt wurde, und der anschließenden Aufnahme in die UNESCO sowie 1973 auch in die UNO setzte ein politischer Kurswechsel gegenüber der BRD ein, der unter dem Titel »Divergenztheorie« befolgt wurde.15 Insbesondere der auswärtigen Kulturpolitik der DDR war bis dahin eine zentrale Rolle im Aufbau diplomatischer Beziehungen zum kapitalistischen Ausland zugekommen. Konzerte, Gastspiele und nicht zuletzt Ausstellungen wurden als Form eines freundschaftlich erscheinenden Kulturexports gesehen,16 in dessen Rahmen nicht selten auch diplomatische Angelegenheiten verhandelt werden sollten.17 Vor diesem Hintergrund muss vor allem die Beteiligung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden mit Leihgaben an der Londoner Friedrich-Ausstellung betrachtet werden, wie sich auch an erhaltenen Archivdokumenten zeigt.18 Dabei gilt es stets zu beachten, dass Reisen im Rahmen solcher staatlich priorisierten Kooperationen den entsandten Personen (in diesem Fall Hans Joachim Neidhardt) jenseits offizieller Weisungen vor allem die Möglichkeit boten, sich in ansonsten kaum zugänglichen Kulturinstitutionen mit Werken intensiv auseinanderzusetzen und mittel- und langfristige Vernetzungen herzustellen, die sich unter anderem auch im Schriftwechsel niederschlugen.19 Gegenüber der BRD jedoch – deren Anerkennung der DDR als eigenständiger deutscher Staat im Übrigen vor dem Hintergrund der Neuen Ostpolitik Willy Brandts und der These vom »Wandel durch Annäherung«20 als in großen Teilen ideologisch motiviert beschrieben werden sollte – wurde nunmehr im Zeichen der erwähnten Divergenztheorie eine Außenpolitik stärkerer Abgrenzung mit der Auffassung verfolgt, »daß sich in der mehr als 40jährigen Nachkriegszeit zwei deutsche Nationalkulturen herausgebildet hätten und daß die Kultur damit keineswegs mehr als Klammer einer weiterhin existierenden deutschen Nation in Anspruch genommen werden [könne]«.21 Auf innenpolitischer Ebene wiederum resultierte dieser Kurswechsel in einer programmatischen Aufforderung zum Schaffen eines eigenen, sozialistischen Kulturerbes,22 rückblickend durchaus beschreibbar mit dem Begriff einer »erfundenen Tradition«,23 in deren Kontext insbesondere Universitäten, aber auch Kulturinstitutionen wie Museen mit der wichtigen Aufgabe betraut wurden, auch und gerade vormals untererforschte Personen und Werke für dieses sozialistische Kulturerbe zu erschließen und fruchtbar zu machen.24 Hier kann nun der Bogen zurück zu Hans Joachim Neidhardt und seiner Forschung zur Dresdner Romantik in Ausstellungen und Publikationen geschlagen werden. Nicht zufällig wurde die Friedrich-Retrospektive im Albertinum von 1974/75 im Verlauf der Vorbereitungen zur durch das Ministerium für Kultur der DDR offiziell beschlossenen, staatlichen Ehrung des Künstlers erklärt, obschon Friedrich (wie auch seinen romantischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen) im Vorfeld kaum Beachtung durch die Forschung zuteil geworden war. Der 1774 in Greifswald geborene und den größten Teil seiner künstlerischen Laufbahn in Dresden wirkende Künstler war aufgrund seiner Biografie, die sich wesentlich auf späteres DDR-Gebiet verorten lässt, geradezu paradigmatisch als Teil des sozialistischen Kulturerbes präsentabel. Auf inhaltlicher Ebene allerdings musste ein solcher Zusammenhang erst hergestellt werden. Die im begleitenden Katalog erschienenen Aufsätze von Peter H. Feist und Irma Emmrich konstruieren eine konzeptuelle und ideologische Verbindung von Friedrich und seinen Studien in der Natur zum sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelnden Realismus – und vollziehen sodann darüber in einem zweiten Schritt eine gewagt anmutende Verknüpfung mit dem Sozialistischen Realismus.25 Der erwähnte Aufsatz von Hans Joachim Neidhardt und vor allem auch die verräumlichte Ausstellung selbst explizieren diese Deutungen nicht. Denn gelang es dem Kurator, seine gewünschte Fassung erst in letzter Minute und nach dem Lektorat zur finalen Drucklegung hinzuzufügen,26 fanden sich in den Ausstellungsräumen selbst kaum Texte (Abb. 2–4). Eine individuelle Auseinandersetzung mit den gezeigten Werken lag damit beim Publikum selbst, etwaige ideologische Ausdeutungen hingegen wurden stärker in Vermittlungsformate (Katalog, Führungen, wissenschaftliches Begleitprogramm etc.) verlagert.27 Und obschon eine Verbindung mit der sich un3 Friedrich-Ausstellung im Albertinum 1974/75, Ausstellungsraum/Klingersaal 4 Friedrich-Ausstellung im Albertinum 1974/75, Ausstellungsraum/Mosaiksaal

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