Leseprobe

329 genau auf den Punkt zu, wo aus Friedrichs Hand der Pinsel ragt. Das könnte noch Zufall sein, wenn nicht die untere Waagerechte des Goldenen Schnitts exakt durch diesen Punkt verliefe und weitergeführt direkt auf das kleine Büchlein verwiese. Wir dürfen in ihm eines von Friedrichs Material sammelnden Skizzenbüchern sehen. Die obere Waagerechte führt exakt durch die Nägel, an denen Dreieck und Maßstab befestigt sind, was wohl kaum dem Zufall geschuldet ist. Eine mögliche Lesart wäre demnach: Friedrich steht vor der Staffelei, wartet auf den Moment der Inspiration, helfen werden ihm bei der Ausführung die im Skizzenbuch erfassten Naturdetails. Vorab jedoch muss er die Bildordnung anlegen, in die die Partikel inseriert werden, denn die Anlage nach dem Goldenen Schnitt gibt dem Bild die tiefere Dimension, sie verweist auf die göttliche Ordnung. Nicht umsonst ist seit dem 16. Jahrhundert vom Goldenen Schnitt als der göttlichen Proportion die Rede.8 Die Komposition wird er mithilfe der an der Wand hängenden Maß- 1 Vgl. Schnell 1994, S. 24–32, 41–47, 156–158, Kat. A. 27, A 48, A 72. 2 Auf dieser Wanderung entstanden; vgl. den Beitrag von Gedlich S. 168–173. 3 Vgl. Schnell 1994, Kat. A 28. 4 Vgl. Bouvier 1828, S. 344. 5 Empfohlen etwa bei Van Mander 1604, Bl. 34. 6 Vgl. Schnell 1994, Kat. 149. 7 Goethe etwa erwarb die Nachzeichnungen der Köpfe des Abendmahl, die Giuseppe Bossi 1808 angefertigt hat; vgl. Ausst.-Kat. Frankfurt 1994, Kat. 30 –37, S. 73–76. 8 Vgl. Busch 2003, S. 101–122; Busch 2021, S. 32–42. 9 Vgl. Busch 2003, S. 11–21, 26–33. 10 Caspar David Friedrich, Morgen im Riesengebirge, 1810, Öl auf Leinwand, 108×170 cm, Neuer Pavillon, Schlosspark Charlottenburg, Berlin, Inv. GK I 6911. 11 BS/J 190. Dass Kersting die Figuren gemalt habe, behauptet der Rezensent des Bildes in Anonym 1811, S. 371–373. instrumente vorgeben. Kersting dürfte dieses friedrichsche Verfahren direkt an den sogenannten Fenstersepien von 1805/06 studiert haben.9 Dort werden Schlüssel und Schere, die an Nägeln an der Wand hängen, auf den Millimeter genau von den Linien des Goldenen Schnitts markiert. Bei der Leinwand auf der Staffelei schließlich dürfte es sich um Friedrichs 1811 entstandenen Morgen im Riesengebirge10 handeln, dem Resultat der gemeinsamen Riesengebirgswanderung, zumal man vermutet, Kersting habe die kleinen Gipfelfiguren in Friedrichs Bild gemalt.11 Die dritte, später entstandene Fassung von Kerstings Atelierbild mit Friedrich (Abb. 4) gleicht in großen Teilen der ersten Fassung, wobei deutliche Unterschiede in der Lichtstimmung und dem Bild auf der Staffelei zu sehen sind. Während im Werk von 1811 die Ausführung einer Wasserfalllandschaft unter Einfall von hellem Tageslicht zu sehen ist, zeigt das letzte der drei Atelierbilder im Blick durch das Fenster Zeichen der Abenddämmerung und eine noch gänzlich unausgefüllte Leinwand. Offen bleibt bislang, ob es einen Anlass für die Herstellung der Gemäldefassungen und ihrer Pendants gab: Hatte Kersting womöglich Auftraggeber oder sind sie nur als Charakterstudien seiner Malerkollegen und Ehrerbietungen an diese zu verstehen?

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