Leseprobe

Der Zeichner 78 Wurde die jeweilige Zeichnung in einem Gemälde genutzt, so ist mithilfe des Zahlenverhältnisses die Luftperspektive zu entwerfen, die Abnahme an Farbigkeit und Genauigkeit in der Entfernung – Valenciennes schrieb ausführlich darüber.11 Die Horizontlinie steht in einem Verhältnis zur Grundlinie. Ist der Horizont relativ nah an der Grundlinie, sind die Gegenstände in Untersicht gesehen, ist er besonders hoch, entsprechend in Aufsicht. Nicht nur bei einem weiten Blick in die Landschaft oder auf das Meer findet sich die Horizontlinie in der Zeichnung vermerkt,12 sondern auch bei nahsichtigen Felsen, selbst bei Baumstudien, gehäuft im Osloer Skizzenbuch von 1807,13 und beim bloßen Wurzelwerk findet sich die Angabe.14 Auffällig in diesen Fällen ist auch das Faktum, dass sich die Horizontangabe sogar am unteren Teil eines Baumstamms befinden kann (Abb. 6). Wie ist das zu verstehen? Zum einen müssen wir uns Friedrich beim Zeichnen am Boden sitzend vorstellen. Zum anderen aber erweist es sich, dass Friedrich mit großer Konsequenz bei der Übernahme einer zeichnerischen Aufnahme ins Gemälde dies unter allen Bedingungen der Erfassung tat. Im Gemälde entspricht der Horizont dann dem in der Zeichnung vermerkten. Nicht selten markierte Friedrich auf der Zeichnung zudem nicht nur Zeitangaben, sondern auch den Lichteinfall und die Partien, die im Schatten liegen (Abb. 7–9).15 Sollte er einmal die Horizontlinie nicht angegeben haben, notierte er zumindest »unten« oder »von unten«, um deutlich zu machen, dass er den Gegenstand in Untersicht gesehen hatte (Abb. 10).16 Für die Horizontabhängigkeit, selbst bei bloßen Baumaufnahmen, lieferte Valenciennes eine zusätzliche Begründung in einem eigenen Paragrafen zu den Bäumen im achten Kapitel des ersten Bandes: »Die Blätterpartien können leicht in Perspektive gebracht werden, wenn man bedenkt, daß diejenigen, welche unter der Horizont=Linie stehen, an ihrem obern Theil gesehen werden, daß andere, die gerade auf dieser Linie stehen, weder den obern noch den untern Theil zeigen, und diejenigen, welche sich über der Horizont=Linie befinden, von unten her gesehen werden, daß sich ferner bey allen Bäumen, die sich in dem Wasser abspiegeln, der untere Theil der Blätter zeigt u.s.w.«17 Man mag diese absolute Naturverpflichtung für übertrieben halten, doch sollte man sich im Fall Friedrichs immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass eine Abweichung von Gottes Vorgabe für ihn ein Sakrileg gewesen wäre. Doch wie konnte er bei gänzlicher Naturtreue diese so transzendieren, dass die göttliche Herkunft anschaulich wurde? Nur auf ästhetischem Wege, indem dem Bild eine 6 7

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