Leseprobe

wo alles begann

wo alles begann Herausgegeben von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Holger Birkholz, Petra Kuhlmann-Hodick Stephanie Buck, Hilke Wagner

 104 Geschabt, geritzt und ausgedünnt Caspar David Friedrich und die Transparentmalerei Christiane Lukatis 110 Steiniger Strand mit Anker und Mondsichel Yuko Nakama 112 Mondaufgang am Meer Petra Kuhlmann-Hodick ORTE 118 Rügen Werner Busch 128 Eldena Petra Kuhlmann-Hodick 132 Unterwegs in Sachsen Anke Fröhlich-Schauseil 148 Natur und Industrie. Ansichten aus dem Plauenschen Grund Carolin Quermann 156 Das abwesende Dresden Florian Illies 160 Meißen und die Klosterruine Heilig Kreuz Petra Kuhlmann-Hodick 166 Landschaft mit Brücke Frank Richter 168 Die Wanderungen ins Riesengebirge und in den Harz Dirk Gedlich 174 Böhmische Landschaften Dirk Gedlich ALTE MEISTER 190 Caspar David Friedrich und die Alten Meister Holger Birkholz 208 »Sonnabend waren wir wie gewöhnlich auf der Gallerie« Die Dresdner Gemäldegalerie um 1800 Roland Enke 212 Landschaftsmalerei zwischen Dichtung und Wahrheit Caspar David Friedrich und Jacob van Ruisdael Johannes Grave FRIEDHÖFE 220 »Hier ruht in Gott Caspar David Friedrich« Friedhöfe und Monumente der Erinnerung Holger Birkholz RELIGION 230 Kreuz und Geschichtsphilosophie Caspar David Friedrichs »religiöse« Landschaften Christian Scholl 238 Ein vollendetes Kunstwerk: der Tetschener Altar Holger Birkholz POLITIK 248 »Solange wir Fürstenknechte bleiben« Caspar David Friedrichs politische Haltung Holger Birkholz DER MALER 22 »Äußerungen ...« Über Friedrichs Arbeiten auf Papier Petra Kuhlmann-Hodick EMPFINDEN 32 Friedrich um 1800 und das Kleine Mannheimer Skizzenbuch Von der »Empfindsamkeit« zur »Empfindung« Hans Dickel ERFASSEN 46 Beobachtungen zu Friedrichs Naturstudien und Entwurfs- zeichnungen Petra Kuhlmann-Hodick | Johanna Ziegler 70 Frauenhaube auf einem Ständer Liliane Wiblishauser 72 Wolken Werner Busch 74 Caspar David Friedrich und Pierre-Henri de Valenciennes Werner Busch ERKENNEN 90 Bildnisse Petra Kuhlmann-Hodick 94 Raum und Zeit im Bild Der Berliner Jahreszeitenzyklus von 1803 Anna Marie Pfäfflin 98 Die Weimarer Sepiablätter Christoph Orth DER ZEICHNER 9 Zum Geleit Marion Ackermann 10 Grußwort Ulrich Reuter 11 Grußwort Frank Brinkmann 13 Vorwort Stephanie Buck Hilke Wagner

306 Image Holger Birkholz 308 Bildmuster und deren Wandlungen in der Dresdner Landschaftsmalerei Anke Fröhlich-Schauseil 316 Das Hünengrab im Herbst als Aufnahmestück für die Dresdner Kunstakademie Katrin Bielmeier 320 »Die Freude, die wir an den Blumen haben, das ist noch ordentlich vom Paradiese her« Mareike Hennig 326 Georg Friedrich Kersting (1785–1847) Werner Busch 330 Carl Gustav Carus (1789–1869) Dirk Gedlich 334 Caroline Bardua (1781–1864) Linda Alpermann 338 Louise Seidler (1786–1866) Linda Alpermann 340 Therese aus dem Winckel (1779–1867) Linda Alpermann 342 August Heinrich (1794–1822) Petra Kuhlmann-Hodick 346 Caspar David Friedrich als Kritiker seiner Zeitgenossen Johannes Rößler 354 Werke von Caspar David Friedrich im Briefwechsel von Wassili Andrejewitsch Schukowski Neue Materialien Marina Schulz DIE NETZWERKE ANHANG 388 Biografie 392 Verzeichnis der ausgestellten Gemälde und Zeichnungen 410 Literaturverzeichnis 424 Personenregister 428 Dank 429 Bildnachweis 430 Editorische Notiz 431 Impressum 370 Wenig geschätzt oder ganz vergessen? Zur Rezeption von Caspar David Friedrichs Kunst zwischen 1840 und 1890 Christian Scholl 376 »Im geschlossenen Pferdewagen [...]« Zur Auslagerung und Rückführung der Bilder Caspar David Friedrichs aus der Dresdner Gemäldegalerie im Zweiten Weltkrieg Claudia Maria Müller 380 Kanonbildung bei Hans Joachim Neidhardt Forschung zur Malerei der Dresdner Romantik Klara von Lindern DIE REZEPTION BÄUME 258 Die Physiognomie der Bäume Nina Amstutz FARBE 266 Luftschaften Holger Birkholz 276 Abendhimmel Florian Illies KUNSTTECHNOLOGIE 280 »Kopf und Herz und Hand« Maltechnische Erkenntnisse an Gemälden Caspar David Friedrichs Maria Körber 296 Der Friedhof Das vollständige Fragment Kathleen Hohenstein 302 Eine maltechnische Studie zu Caspar David Friedrichs Gemälde Segelschiff von 1815 Juliane Busch

47 | Detail 8 | Detail »Versehen mit Bleistift und Papier / Es GummiElastikums nicht vergessend«, das erfährt man in zwei Zeilen eines längeren um 1802/03 verfassten »Briefes in Versen« darüber, wie Friedrich zum Zeichnen in der Natur aufbrach.1 Diese Minimalausstattung dürfte ihm auf den meisten seiner Streifzüge genügt haben.2 Das Papier hatte er in der Regel als Skizzenbuch gebunden dabei.3 Christina Grummt ordnet in ihrem Werkverzeichnis 404 der 1014 Caspar David Friedrich zugeschriebenen Blätter insgesamt 17 Skizzenbüchern zu.4 Viele der Blätter sind doppelseitig verwendet, sodass ungefähr die Hälfte von Friedrichs heute bekanntem zeichnerischen Werk mit Sicherheit aus Skizzenbüchern stammt. Nur sechs sind noch in gebundenem Zustand erhalten, die übrigen wurden aufgelöst.5 In sein erstes in der Dresdner Zeit entstandenes Skizzenbuch von 1799, das nicht mehr gebunden vorliegende, jedoch im Berliner Kupferstichkabinett bewahrte Berliner Skizzenbuch I, zeichnete er mit dem Bleistift das Laubwerk zweier Kiefern, in den Konturen mit kleinen Strichelchen und Häkchen offen eingefasst, wie man sie aus vielen seiner späteren Zeichnungen kennt. Die Bäume stehen »in der Ferne«, was er jeweils sorgfältig neben dem Stamm anmerkte (Abb. 1). So von Weitem gesehen, findet man den linken der Bäume 1807 wieder links am Rand in dem Gemälde Ausblick ins Elbtal (Abb. 24, S. 143). Neben den Bäumen als typischen Studienmotiven beobachtete Friedrich mit dem Zeichenstift gelegentlich auch einfache Alltagsgegenstände, hier drei auf einer Wäscheleine angeklammerte Tücher und darunter, nur mit dünnen Umrisslinien skizziert, ein zum Trocknen aufgehängtes Hemd. In lockeren, aber klar gesetzten Strichlagen notierte er den Faltenfall. Noch von seiner Schiffsüberfahrt aus Kopenhagen sind als Rudiment drei zwischen dem 5. und dem 7. Mai 1799 datierte Blätter des Kopenhagener Skizzenbuches erhalten, in denen er Mitreisende in verschiedenen Haltungen – stehend, liegend, sitzend – übungshalber und aus Petra Kuhlmann-Hodick | Johanna Ziegler BEOBACHTUNGEN ZU FRIEDRICHS NATURSTUDIEN UND ENTWURFSZEICHNUNGEN

Der Zeichner 48 Muße oder zur Erinnerung skizziert hat. Hier findet man in der Darstellung der Kleidung ähnliche Schraffursetzungen (Abb. 2). Im Skizzenbuch I wurden, zusammen mit einer Wolkenstudie, mehrere nur flüchtig ohne Binnenzeichnung ausgeführte kleine Figuren auf einem Blatt studiert (Abb. 3). Das Berliner Skizzenbuch II des folgenden Jahres dokumentiert erneut Friedrichs Interesse an Haltungsstudien, die er als 1 Caspar David Friedrich Zwei Baumstudien, aufgehängte Wäschestücke aufgelöstes Berliner Skizzenbuch I um 1799 | KAT 15 Vorlagen für Staffagefiguren aus niederländischen Gemälden der Dresdner Galerie abzeichnete (Abb. 1, 2, S. 191).6 Friedrichs dominierendes Thema in den Skizzenbüchern, außer im Kleinen Mannheimer Skizzenbuch,7 sind Pflanzen-, Baum-, Fels- und Landschaftsstudien. Am 20. April 1799 zeichnete er einen noch kahlen, an einem Abhang stehenden Baum (Abb. 4). Ein wenig wird die landschaftliche Umgebung angedeutet: eine kleine Brücke mit hölzernem Geländer und rechts davon ein hoch aufragendes Bäumchen. Bis in kleinste Verästelungen folgt Friedrichs Stift den Verzweigungen der Äste, die sich über den Hang neigen. Die astlose rechte Seite liegt im Schatten, wie Schlangenlinien entlang des Konturs andeuten. Entsprechend ging Friedrich schon zwei Jahre zuvor – noch in Kopenhagen weilend – in seiner Studie einer belaubten Eiche vor (Abb. 5), die sonst mit ihrem zackig umrissenen Laubwerk in ihrer mächtigen, mit groben Schraffuren zügig modellierten Erscheinung wenig mit dem eher grazilen und teils geradezu geschwungen wirkenden Geäst auf dem frühen Skizzenbuchblatt der Dresdner Zeit zu tun hat, jedoch, wie eigens vermerkt, »nach der Natur 1797« entstanden ist. Friedrich führte seine in der Natur aufgenommenen Bleistiftstudien – vermutlich überwiegend im Atelier – mit der Feder oder in Feder und Pinsel weiter aus, überzeichnete sie mit Rußtusche oder Eisengallustinte, lavierte mit verdünnter Tusche oder Tinte und brauntonigen Wasserfarben wie Ocker- und Bistermischungen. Die 1798 datierte Studie einer Kiefer, die die Konturierung quasi ausspart und über den Spuren einer Bleistiftvorzeichnung rein als Pinselzeichnung angelegt ist, wurde am Blattrand mit Farbproben versehen. Sie zeigen, wie Friedrich den nahezu sepiafarbenen graubraunen Ton aus verschiedenen Farben angemischt hat (Abb. 6). Auch hier notierte der Künstler »nach der Natur«. An Studienzeichnungen von 1799 aus dem Berliner Skizzenbuch I wie der Studie von Pflanzen am Fuße eines Baumstamms (Abb. 7) oder der ohne weitere Binnenmodellierung in Feder über Bleistift ausgeführten Darstellung eines mächtigen belaubten Baumes, an dessen Fuß ein Steinbrocken liegt (Abb. 8), wird noch der Einfluss zeitgenössischer Zeichenbücher wie Adrian Zinggs Anfangsgründe für Landschaftszeichner spürbar.8 Die rückseitige Schwärzung deutet darauf hin, dass die bisher nicht identifizierte, ebenfalls um 1799 entstandene Landschaft Bach mit Brücke als Radiervorlage gedacht war (Abb. 9).

3 Caspar David Friedrich Figurenstudien und Wolkenstudie aufgelöstes Berliner Skizzenbuch I um 1799 | KAT 20 4 Caspar David Friedrich Baumstudien, steinerne Bogenbrücke aufgelöstes Berliner Skizzenbuch I 20. April 1799 | KAT 14 5 Caspar David Friedrich Eiche 1797 | KAT 3 6 Caspar David Friedrich Baumstudie September 1798 | KAT 9 7 Caspar David Friedrich Pflanzenstudien und Baumstamm aufgelöstes Berliner Skizzenbuch I um 1799 | KAT 13 8 Caspar David Friedrich Baumstudie, darunter Felsblock aufgelöstes Berliner Skizzenbuch I 27. Mai 1799 | KAT 18 2 Caspar David Friedrich Studie eines Jünglings mit übergeschlagenem Bein aufgelöstes Kopenhagener Skizzenbuch I 7. Mai 1798 | KAT 8 3 6 8 5 4 7

Der Zeichner 50 Mit ihrer nur teilweisen Lavierung im Bereich des bewölkten Himmels und der überwiegend konturbetonten, aber partiell unvollendeten Federzeichnung wirkt die eher konventionell angelegte Komposition inkonsistent. Sehr typisch für Friedrich sind die im Vordergrund im Wasser liegenden Gesteinsbrocken, die mit wenigen Linien klar konturiert sind. Ähnliche Steine finden sich später in Friedrichs Küstenlandschaften von Rügen (Abb. 18). In seinen Studien von Gesteinsformationen in der Sächsischen Schweiz arbeitete er ganz ähnlich mit kräftigen mit der Feder nachgezogenen Konturen und band dort die Schattenpartien und Elemente mit Lavierungen in die Landschaft ein (Abb. 10–13). Dabei verfolgte er jedoch nicht die Möglichkeiten von typischen oder pittoresken Arrangements, wie in dem oben erwähnten Blatt Bach mit Brücke, sondern zeigte ein ausgeprägtes Interesse an außergewöhnlichen, besonders markanten Konstellationen. Seine Felsstudien vom 20. Mai 1799 haben etwas fast Surreales (Abb. 10); die skurrilen Felsgebilde, die er am 17. August 1799 in seinem Skizzenbuch festhielt (Abb. 12), dienten ihm einige Jahre später als Vorlage für den Gipfel des Berges auf seiner Sepia Kreuz im Gebirge (Abb. 50). Erneut finden sie sich auf dem hieraus entwickelten Tetschener Altar (Abb. 1, S. 239), dessen Bergkegel dem Honigstein in der Sächsischen Schweiz nachgebildet ist. Offenkundig sichtete der Künstler seine Studien unabhängig von ihrer Entstehungszeit wiederholt und fand an verschiedenen Stellen die Motive, die er in seine Bildkompositionen einbezog. PAPIER Friedrich lebte in einer von Wandel geprägten Zeit – nicht nur in gesellschaftlicher und politischer, sondern auch in technologischer Hinsicht. Dies betraf auch Künstlermaterialien. Altbewährte Materialien und Werkzeuge wurden jahrzehntelang weiterverwendet, während gleichzeitig neue Methoden und technische Innovationen erprobt wurden. Entscheidende Faktoren waren neben der Experimentierfreude der Kunstschaffenden die Verfügbarkeit bestimmter Materialien. Heute lassen sich solche technologischen Veränderungen anhand historischer Quellen sowie durch die sich weiter entwickelnden naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden zunehmend besser nachvollziehen.9 Friedrich probierte Neuerungen im Zeichenmittelangebot ebenso wie technische Hilfsmittel aus und orientierte sich an aktuellen Anleitungen und Publikationen.10 10 Caspar David Friedrich Felsenstudien aufgelöstes Berliner Skizzenbuch I 20. Mai 1799 | KAT 17 11 Caspar David Friedrich Felshang aufgelöstes Berliner Skizzenbuch I 9. Juni 1799 | KAT 19 12 Caspar David Friedrich Felsblöcke, dazwischen Pflanzen aufgelöstes Berliner Skizzenbuch II 17. August 1799 | KAT 25 13 Caspar David Friedrich Gesteins- und Felsstudien / Felsstudie mit Treppe aufgelöstes Berliner Skizzenbuch II 2. Oktober 1799 | KAT 26 9 Caspar David Friedrich Bach mit Brücke um 1799 | KAT 32 10 12 11 13

51 So spiegelt sein Werk auch die Umbrüche im Bereich der Entwicklung von Papier und Zeichenmitteln am Übergang zum 19. Jahrhundert wider, wie sich an seinen Papieren beispielhaft erläutern lässt. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein gab es in Europa ausschließlich Büttenpapier, erkennbar an seiner gerippten Struktur, die durch das Schöpfen mit einem aus Metalldrähten angefertigten Sieb entsteht. Sämtliche Arbeiten Friedrichs bis in seine frühe Dresdner Zeit hinein sind ebenso wie die in Kopenhagen entstandenen Aquarelle von 1797 (Abb. 2–4, S. 35–37) und die Zeichnungen in den beiden frühen Berliner Skizzenbüchern I und II von 1799/1800 auf Büttenpapier ausgeführt. Dessen plastische Oberflächenstruktur prägt den optischen Eindruck der jeweiligen Arbeit nachdrücklich. Dies zeigt sich etwa in Baumstudien des Berliner Skizzenbuches II (Abb. 14). Durch das Büttenpapier wird der Zeichnung eine eigene rasterhafte Struktur unterlegt, die in der nahsichtigen Betrachtung mitspricht. Mehr noch scheint auf den Linien der gezeichneten Zweige und Äste die Siebstruktur des Papiers durch und prägt das Strichbild selbst. Schon in der Generation vor Friedrich wurden diese Papiereigenschaften zunehmend als Einschränkung empfunden. Der hieraus resultierenden Nachfrage nach einem völlig glatten, feinen Papier kam schließlich der englische Papiermacher James Whatman nach, dessen neuartiges sogenanntes Velinpapier sich ab den 1780er Jahren schnell in ganz Europa verbreitete.11 Die Papiere mit den charakteristischen WhatmanWasserzeichen finden sich bei zahlreichen Werken des 19. Jahrhunderts, so auch in großer Zahl bei Friedrich.12 In seinem Œuvre taucht Velinpapier bei den Zeichnungen etwa seit 1799 auf. Für Friedrichs Bildnisse war durch die Art der Verwendung schwarzer Kreide mit kräftigen Schraffuren und sehr feiner Modellierung des Gesichts besonders glattes Papier erforderlich.13 Die frühesten von Grummt genannten Landschaftszeichnungen auf Velin sind Felskuppe mit bewaldeter Anhöhe (Abb. 7, S. 172) und die Zeichnungen im Großen Mannheimer Skizzenbuch von 1799, dem frühesten Skizzenbuch aus Velinpapier. Dieses enthält zahlreiche Veduten und genauestens erfasste Architekturdarstellungen aus der weiteren Umgebung Dresdens und der Sächsischen Schweiz, darunter aber auch eine Darstellung der (heute nicht mehr bestehenden) Schlossruine von Wolgast bei Usedom im damaligen Schwedisch-Pommern (Abb. 15).14 Neben mehreren Kürzeln, die auf die Zuordnung zu einer Legende, zum Beispiel für Farbangaben, schließen lassen, und der Angabe der beeindruckenden Mauerstärke des zerstörten Pulverturms »11 Fuß dick oben« ist hier erstmals am Brückenaufgang vorne das Größenmaß für einen Menschen angegeben und daneben »Mann« notiert.15 Für eine spätere Übertragung, etwa in eine Radierung, hat der Zeichner ein Bildfeld abgegrenzt und die Zeichnung partiell rückseitig geschwärzt. Angesichts der weiteren Entwicklung von Friedrichs Zeichenstil hin zu einer feinlinigen, akkuraten Darstellungsweise verwundert es nicht, dass er ab etwa 1800 fast vollständig auf Velin umstellte. Es lässt sich beobachten, dass er die neuen Möglichkeiten dieser Papiere intensiv nutzte und seine Arbeitsweise darauf einstellte, was seinen künstlerischen Intentionen offenbar entgegenkam. Im Unterschied zu den Zeichnungen scheint Friedrich sein Schreibpapier weniger gezielt ausgewählt zu haben, da es sicherlich geringeren ästhetischen Ansprüchen genügen musste. So kommen bei den Briefen und Schriften noch um 1830 Büttenpapiere vor, vielfach mit Wasserzeichen, die bei keiner der Zeichnungen anzutreffen sind. Beispiele hierfür sind die Wasserzeichen mit sächsischen Wappen bei den Äußerungen oder mit gekreuzten Schwertern beim Brief an Louise Seidler (Abb. 1, S. 339).16 Für Zeichnungen verwendete Friedrich Büttenpapier später nur noch vereinzelt, so etwa punktuell bei Architekturentwürfen.17 14 Caspar David Friedrich Baumstudien (verso) aufgelöstes Berliner Skizzenbuch II 7. April 1800 | KAT 28 15 Caspar David Friedrich Ruine an einem Deich (Pulverturm der Schlossruine von Wolgast) aufgelöstes Großes Rügener Skizzenbuch um Oktober 1801 | KAT 59

75 14 | Detail Werner Busch CASPAR DAVID FRIEDRICH UND PIERRE-HENRI DE VALENCIENNES Pierre-Henri de Valenciennes, Maler und Theoretiker mit einem großen Schülerkreis, war für Friedrich offensichtlich die wichtigste Quelle für seine Form der Naturaufnahme. Dieser Einfluss soll hier im Detail dargestellt werden. Valenciennes’ riesiges Traktat Élémens de perspective pratique ist im Jahr VIII nach dem Revolutionskalender (1799/1800) erschienen und schon 1803 und in einer durchaus weit verbreiteten und vom Übersetzer kommentierten deutschen Ausgabe in zwei Bänden herausgegeben worden.1 Zweibändig deshalb, weil Valenciennes in seinem Traktat zwei Dinge verbunden hat, die auf den ersten Blick nicht zwingend zusammengehören. Der erste, gut 400 Seiten umfassende Teil ist der Perspektive gewidmet, der zweite, 200 Seiten lange Teil stellt eine praktische Anleitung zur Landschaftsmalerei dar. Die kunsthistorische Forschung hat sich fast ausschließlich auf diesen zweiten Teil gestürzt. Verständlicherweise, denn in diesem Teil berichtete Valenciennes in innovativer Form und in einigem Detail über den Sinn und die Praxis der Ölskizzenmalerei. Von Valenciennes’ Hand ist eine große Zahl zumeist im Louvre aufbewahrter Ölskizzen überliefert, die aus heutiger Sicht autonomen Wert beanspruchen. Für Valenciennes allerdings waren sie bloßes Studienmaterial – er blieb in seiner offiziellen Landschaftskunst klassisch-akademischer Norm und Thematik verpflichtet. Seine vor der Natur aufgrund der sich ändernden Witterungsbedingungen ausgesprochen zügig gemalten Ölskizzen haben breite Nachfolge gefunden, über seine Schüler Bertin und Michallon bis zu Corot. Auf der Basis von Valenciennes’ Theorie und Praxis ist ein ganzer Forschungszweig zur Ölskizzenmalerei entstanden.2 Durch diese Form der Rezeption hat sich die Forschung allerdings der Möglichkeit begeben, die im Perspektivteil von Valenciennes’ Traktat an vielen Stellen entwickelten Bemerkungen zu einer neuartigen Form der Naturaneignung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Im Folgenden sei versucht, den verblüffend breiten

Der Zeichner 76 1 Pierre-Henri de Valenciennes Der Rathgeber für Zeichner und Mahler, besonders in dem Fache der Landschaftmahlerey: Nebst einer ausführlichen Anleitung zur Künstlerperspectiv | 1803 2 Caspar David Friedrich Felsbrocken und Bäume, Gehöft, Farne | 13., 14., 15. Juni (1810) Bleistift auf Velin, 357 × 260 mm Privatbesitz (G 628) Einfluss beider Teile auf Caspar David Friedrich nachzuvollziehen.3 Womit nicht gesagt sein soll, dass Friedrich allein das Traktat von Valenciennes benutzt hat. Die eine oder andere Anweisung zu Verfahren findet sich auch andernorts, doch die Fülle ganz praktischer Parallelen spricht für die bevorzugte Nutzung der Arbeit von Valenciennes. Allerdings muss man bedenken, dass Friedrich aufgrund der Sprache die französische Originalfassung des Traktats von 1799/1800 nicht unbedingt direkt zugänglich gewesen ist, wenn auch Exemplare der französischen Ausgabe in Dresden greifbar waren; umso mehr dürfte ihm die deutsche Ausgabe von 1803 Aufklärung gegeben haben (Abb. 1). ZEICHNERISCHE NATURERFASSUNG Der bei weitem größte Teil der gut 1000 überlieferten Zeichnungen Caspar David Friedrichs dient der direkten Naturaufnahme, ist Studie für fernere Verwendung.4 Auf sehr vielen zeichnerischen Studien des Künstlers finden sich Annotationen, abstrakte Zeichen oder Symbole und einzelne Begriffe sowie kurze Bemerkungen.5 In den allermeisten Fällen lässt sich ihre Art der Anwendung auf Empfehlungen Valenciennes’ zurückführen. Der häufigste Begriff auf Friedrichs Zeichnungen ab 1806/07 ist das Wort »Horizont«, häufig begleitet von einem waagerechten Strich.6 Zusätzlich findet sich auf der durchgehend gedachten Horizontlinie innerbildlich ein winziger Kreis, beschriftet mit »Auge« oder »Augpunkt« (Abb. 2). Bei Valenciennes heißt es in der deutschen Übersetzung: »[...] muß man gleich anfangs drey Linien auf der Fläche der Tafel festsetzen [...]. Die erste dieser Linien ist die Erd= oder Grundlinie, welche die niedrigste Linie des Gemähldes ist und mit der Horizont=Linie parallel läuft. Die zweyte ist die Horizont=Linie die immer der Höhe des Auges gleich angenommen wird. Die dritte die Vertical=Linie, welche eine senkrechte Linie ist, die das Gemählde in zwey gleiche Theile theilt, die Horizont=Linie in gleichen Winkeln durchschneidet und bis auf die Grund=Linie herab fällt. Der Berührungspunkt, 2

77 3 Caspar David Friedrich Vom Blitz getroffene Weide | 19. März 1812 Bleistift, laviert und aquarelliert, auf Velin, 260 × 355 mm | Nationalgalerie Prag, Inv. DK 463 (G 660) 4 Caspar David Friedrich Gebirgslandschaft mit Figur (Schmiedeberger Kamm) | 13. Juli 1810 Bleistift, 260 × 360 mm Kunsthalle Mannheim, Inv. G 445 (G 622) 5 Caspar David Friedrich Landschaftsstudien 9./12. Mai 1808 Dresdner Skizzenbuch 1807–1812, Bl. 10 | KAT 97 (G 564) in welchem die Vertical=Linie mit der Horizont= Linie zusammen trifft, wird in der Perspective der Augpunkt genannt.«7 Angesichts von Friedrichs Zeichnungen fragt man sich, was genau die früh bei ihm ebenfalls zu findende Grundlinie, nicht selten begleitet vom Wort »Vorgrund«, das sich auch bei Valenciennes in der Übersetzung findet, eigentlich markieren soll (Abb. 3).8 Im Fall von Valenciennes gewinnt sie an Wichtigkeit, weil sich von hier aus die Entfernung zu darzustellenden Gebäuden bemisst. Dabei soll die Entfernung die dreifache Breite der Gebäude ausmachen, erst dann erschienen sie perspektivisch richtig.9 Bei Friedrich verhält es sich etwas anders, hat allerdings auch bei ihm mit Entfernung zu tun. Die Grundlinie bezeichnet die Linie, von der aus der Künstler die Gegenstände der Zeichnung aufgenommen hat, das war bei Valenciennes nicht anders, doch Friedrich entwarf von hier aus ein Entfernungssystem, das er brauchte, da seine Zeichnungen aus reinen Umrisslinien bestehen. Insbesondere, wenn er in eine bergige Ferne mit hintereinander gestaffelten Höhenzügen schaut, wird durch Überschneidungen zwar deutlich, was sich vor und was sich hinter der jeweiligen Bergsilhouette befindet, doch nicht, in welchem Entfernungsverhältnis die einzelnen Höhenzüge zueinanderstehen. Friedrich markierte ihr Verhältnis durch von vorne nach hinten abnehmende Zahlen (Abb. 4, 5).10 3 4 5

Der Zeichner 78 Wurde die jeweilige Zeichnung in einem Gemälde genutzt, so ist mithilfe des Zahlenverhältnisses die Luftperspektive zu entwerfen, die Abnahme an Farbigkeit und Genauigkeit in der Entfernung – Valenciennes schrieb ausführlich darüber.11 Die Horizontlinie steht in einem Verhältnis zur Grundlinie. Ist der Horizont relativ nah an der Grundlinie, sind die Gegenstände in Untersicht gesehen, ist er besonders hoch, entsprechend in Aufsicht. Nicht nur bei einem weiten Blick in die Landschaft oder auf das Meer findet sich die Horizontlinie in der Zeichnung vermerkt,12 sondern auch bei nahsichtigen Felsen, selbst bei Baumstudien, gehäuft im Osloer Skizzenbuch von 1807,13 und beim bloßen Wurzelwerk findet sich die Angabe.14 Auffällig in diesen Fällen ist auch das Faktum, dass sich die Horizontangabe sogar am unteren Teil eines Baumstamms befinden kann (Abb. 6). Wie ist das zu verstehen? Zum einen müssen wir uns Friedrich beim Zeichnen am Boden sitzend vorstellen. Zum anderen aber erweist es sich, dass Friedrich mit großer Konsequenz bei der Übernahme einer zeichnerischen Aufnahme ins Gemälde dies unter allen Bedingungen der Erfassung tat. Im Gemälde entspricht der Horizont dann dem in der Zeichnung vermerkten. Nicht selten markierte Friedrich auf der Zeichnung zudem nicht nur Zeitangaben, sondern auch den Lichteinfall und die Partien, die im Schatten liegen (Abb. 7–9).15 Sollte er einmal die Horizontlinie nicht angegeben haben, notierte er zumindest »unten« oder »von unten«, um deutlich zu machen, dass er den Gegenstand in Untersicht gesehen hatte (Abb. 10).16 Für die Horizontabhängigkeit, selbst bei bloßen Baumaufnahmen, lieferte Valenciennes eine zusätzliche Begründung in einem eigenen Paragrafen zu den Bäumen im achten Kapitel des ersten Bandes: »Die Blätterpartien können leicht in Perspektive gebracht werden, wenn man bedenkt, daß diejenigen, welche unter der Horizont=Linie stehen, an ihrem obern Theil gesehen werden, daß andere, die gerade auf dieser Linie stehen, weder den obern noch den untern Theil zeigen, und diejenigen, welche sich über der Horizont=Linie befinden, von unten her gesehen werden, daß sich ferner bey allen Bäumen, die sich in dem Wasser abspiegeln, der untere Theil der Blätter zeigt u.s.w.«17 Man mag diese absolute Naturverpflichtung für übertrieben halten, doch sollte man sich im Fall Friedrichs immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass eine Abweichung von Gottes Vorgabe für ihn ein Sakrileg gewesen wäre. Doch wie konnte er bei gänzlicher Naturtreue diese so transzendieren, dass die göttliche Herkunft anschaulich wurde? Nur auf ästhetischem Wege, indem dem Bild eine 6 7

6 Caspar David Friedrich Baumstudien | 1. Mai/2. Juni 1809 Bleistift, 360 × 259 mm | Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung, Inv. C 1922/131 (G 584) 7 Caspar David Friedrich Baumstudien und Parklandschaft Dresdner Skizzenbuch 1807–1812, Bl. 3 | KAT 97 (G 557) 8 Caspar David Friedrich Baum und Pflanzenstudien Dresdner Skizzenbuch 1807–1812, Bl. 11 14. Mai 1808 | KAT 97 (G 565) 9 Caspar David Friedrich Studie einer Weide, Studie zweier Äste 18. April/2. Juni 1809 | KAT 102 10 Caspar David Friedrich Wald, Krippen aufgelöstes Krippener Skizzenbuch | 20. Juli 1813 | KAT 128 8 9 10

133 5 | Detail Anke Fröhlich-Schauseil UNTERWEGS IN SACHSEN Als Caspar David Friedrich um 1800 erstmals das Elbsandsteingebirge durchstreifte und dabei auf so markante Orte wie den Uttewalder Grund, Hohenstein, den Teufelsstein bei Krippen oder den Lilienstein stieß, war er bei weitem nicht der erste und fand bereits eine gewisse »Infrastruktur« vor: Wandernde folgten Pfaden, die die Einheimischen benutzten, engagierten diese als Führer und kamen über Nacht gelegentlich in örtlichen Pfarrhäusern unter. Pfarrer wie zum Beispiel Pastor Wilhelm Leberecht Götzinger und Pastor Carl Heinrich Nicolai waren auch die ersten Verfasser von Reiseführern.1 Neben der sogenannten Sächsischen Schweiz wurden auch die Meißner Umgebung oder das Muldental, der Plauensche Grund bei Dresden, das Erzgebirge und das Zittauer Gebirge, das Riesengebirge und Böhmen seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer wieder erwandert, gezeichnet und in Atelierwerken dargestellt.2 Vor allem Johann Alexander Thiele hatte landschaftsbestimmende Gipfel und Burgen wie Lilienstein, Königstein, Wehlen oder den Oybin, aber auch den Plauenschen Grund in großformatigen Prospekten in Szene gesetzt.3 Mit lavierten Grafit- und Federzeichnungen, zum Beispiel vom Lilienstein und von der Festung Königstein, fanden er und seine Schüler Christian Benjamin Müller und Johann Gottlieb Schön zu einer sachlich-rationellen und zugleich empfindsamen Darstellungsweise. DER PLAUENSCHE GRUND UND THARANDT Neben dem Elbtal zog es Friedrich auch in den bei Dresden gelegenen Plauenschen Grund, den Thiele von 1741 bis 1747 bereits in vier Prospekten dargestellt hatte.4 Der Grund trug im 18. Jahrhundert noch einen gleichsam arkadischen Charakter, wie Klengels Gemälde aus dem Jahr 17965 oder eine Pinselzeichnung von Heinrich Theodor Wehle6 zeigen. Darauf lenkte Wilhelm Gottlieb Becker im Jahr 1799 mit seiner Abhandlung Der Plauische Grund bei Dresden, mit Hinsicht auf Naturgeschichte und schöne Garten-

Der Zeichner 134 kunst die Aufmerksamkeit.7 Die Schrift war illustriert mit Kupferstichen von Johann Adolph Darnstedt nach Vorlagen von Klengel.8 Noch vor Plauen, Potschappel und Rabenau war Tharandt mit den Resten der mittelalterlichen Burg ein Wanderziel. Das Ensemble aus Ruine, Kirche und Häusern wurde von Adrian Zingg9 und Klengel dargestellt sowie von Radierern und Kupferstechern wie Philipp Veith oder Carl August Richter und Johann Friedrich Wizani, die das Motiv druckgrafisch vervielfachten. Auch Anton Graff, Carl Gustav Carus, Christian Gottlob Hammer, Karl Gottfried Traugott Faber oder Ludwig Richter fanden hier ihre Motive. Friedrich stellte die Ruine mehrfach dar (Abb. 1), unter anderem in seinem Berliner Blatt aus einem Blickwinkel, den – unter anderen Lichtverhältnissen – auch Klengel für ein Gemälde gewählt hatte.10 Wahrscheinlich kannte Friedrich dieses Werk zumindest in einer der drei druckgrafischen Reproduktionen,11 von denen ein Kupferstich Beckers erwähntes Buch illus3 Johann Georg Wagner Hügellandschaft mit Felsblock, Bauernhütten und einer Schafherde auf der Straße Tempera, 203 × 242 mm Albertina Museum Wien, Grafische Sammlung, Inv. 4752 1 Caspar David Friedrich Burgruine in Tharandt, Baumstudie 1./2. Mai 1800 | KAT 40 2 Caspar David Friedrich Ruine, Kirche und Häuser in Tharandt um 1799 | KAT 21 trierte.12 Im Jahr 1799 zeichnete er die Ruine Tharandt mit der Feder über einer sich darunter fortsetzenden Bleistiftzeichnung (Abb. 2). Dabei deutete er die baumbestandene Böschung über der Uferlinie des Sees nur mit Bleistift an, während er sie in einer zweiten Zeichnung in Feder ausführte, die Ruine aber nicht.13 Er konzentrierte sich also jeweils auf einen anderen Teil eines imaginären Gesamtbildes, das dem Vorbild von Klengel nahekommt. Doch stellte Friedrich mit der Glashütte, der Königsmühle, Neumühle und der Pulvermühle auch jene unspektakulären Gebäude im Plauenschen Grund dar, mit denen sich dessen Verwandlung in ein Industriegebiet anbahnte (Abb. 7, S. 152).14 Mit Mittel- und Hintergrund sowie seitlich platzierten Bäumen und Felsen sind diese Deckfarbenblätter vergleichsweise traditionell komponiert; und tatsächlich gab es mit Carl Gottfried Nestlers Kupferstichfolge Prospecte des Plauschen Grundes bey Dresden15 oder mit Folgen von Ansichten

135 4 Caspar David Friedrich Gesteinsstudien und Detail einer gotischen Kirche 3. September 1800 (links) Felsentor im Uttewalder Grund 28. August 1800 (rechts) | KAT 43 6 Christian August Günther Das Felsentor im Uttewalder Grund nördlich von Wehlen in der Sächsischen Schweiz | 1800 Blatt aus Johann Jakob Brückners Pitoreskische Reisen durch Sachsen, Radierung, 93 × 61 mm (Darstellung), 161×101 mm (Blatt) | Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv. A 1995-6773 5 Caspar David Friedrich Felsentor im Uttewalder Grund um 1801 | KAT 44 nach Klengels lavierten Federzeichnungen Vorbilder für diese vedutenartige Auffassung.16 Auch von Friedrichs Ansichten selbst wurde eine als Vorlage für eine kolorierte Umrissradierung verwendet.17 Zum Vedutencharakter kam bei Friedrich ein koloristisches Feingefühl hinzu, das diesen Blättern ihre malerische Anmutung verlieh, noch ehe er zur Ölmalerei wechselte. Für die Verwendung der Deckfarben gab es neben Künstlern wie Jakob Philipp Hackert auch in Sachsen Vorbilder, die – wie Christian Wilhelm Ernst Dietrich (gen. Dietricy), Johann Georg Wagner, Carl Gottlob Ehrlich und Johann Friedrich Nagel – im Umfeld der Porzellanmanufaktur Meißen wirkten. Wagner war trotz seines frühen Todes 1767 unter Künstlerkolleg:innen und Kunstsammler:innen bekannt; seine Gouachen stehen kompositorisch unter dem Einfluss seines Onkels und Lehrers Dietrich, sind von lockerer Pinselführung und farblich sehr differenziert (Abb. 3), gleichsam Gemälde auf Papier. DAS TOR ZUM UTTEWALDER GRUND IN DER SÄCHSISCHEN SCHWEIZ Als Friedrich ab 1799 seine ersten Wanderungen unternahm, beflügelten Karl August Engelhardts illustrierte Malerische Reise durch Sachsen18 mit Kupferstichen von Philipp Veith oder Johann Jakob Brückners Pitoreskische Reisen durch Sachsen oder Naturschönheiten sächsischer Gegenden auf einer gesellschaftlichen Reise gesammelt mit Radierungen von Christian August Günther das Interesse an Dresdens weiterer landschaftlicher Umgebung.19 Veith und Günther, beide ZinggSchüler, gaben jeweils markante Landschaftsausschnitte im Lineament der Druckgrafik bildmäßig komponiert wieder. Als Friedrich am 28. August 1800 das Tor zum Uttewalder Grund zeichnete (Abb. 4),20 konnte er Günthers Darstellung desselben Motivs kennen. Dies legt zumindest seine nach der Skizze ausgeführte Sepiazeichnung (Abb. 5) mit zwei Figuren nahe, die wie in Günthers Radierung mit erhobenen Armen zeigend auf das aus Felsen gebildete Tor reagieren (Abb. 6).

Der Zeichner 136 7 Caspar David Friedrich Kleine Landschaft im Rund um 1794 | KAT 2 8 Caspar David Friedrich Landschaft mit einem Steg um 1801 | KAT 62 9 Caspar David Friedrich Landschaft mit Herrenhaus 12. Oktober 1799 | KAT 27 Vergleicht man Friedrichs Sepiablatt mit Zinggs Darstellung des Zscherregrunds,21 wo hinter dem Felsendurchgang eine Hirtenidylle zu erblicken ist, so erweist sich erst recht der Kontrast zwischen dem mächtigen, lastenden Gestein und den winzigen menschlichen Figuren bei Friedrich. Diese Zuspitzung der Größenverhältnisse im Plauenschen Grund griff keiner der zahlreichen nachfolgenden Künstler wie Carus, Hammer oder Johan Christian Dahl in Zeichnung oder Druckgrafik auf. Friedrichs Schüler August Heinrich trieb die Konsequenz jedoch malerisch in eine andere Richtung, als er in seinem Gemälde des Uttewalder Grundes gleichsam jedes einzelne Blatt des sonnenbeschienenen Grundes mit höchster Differenzierung wiedergab.22 LANDSCHAFTSRADIERUNGEN UND -STUDIEN UM 1800 Wie Günther griff auch Friedrich selbst zur Radiernadel. Schon als Schüler hatte er winzige Landschaften mit Bäumen im Rund radiert (Abb. 7).23 »Die meisten Radierungen Friedrichs reflektieren die Parktheorie des Sentimentalismus«, so fasste Werner Sumowski den konventionellen Kontext der Radierungen Friedrichs aus seinen ersten Dresdner Jahren zusammen, in dem er auf Christian Cai Lorenz Hirschfelds Theorie der Gartenkunst und Radierfolgen wie Johann Adolph Darnstedts Ansichten aus dem Seifersdorfer Tal von 1793 als parallele Erscheinung verwies und »die stilistische Abhängigkeit der Radierungen Friedrichs von Hackerts Rügenlandschaften und von den Veduten Veiths«24 herausstellte (Abb. 8). Damit erprobte der junge Künstler eine Technik, die mit Samuel Bottschild, Johann Alexander Thiele, Charles François Hutin, Bernardo Bellotto, Adam Friedrich Oeser, Adrian Zingg, Johann Christian Klengel und Christoph Nathe in Sachsen eine große Tradition hatte. Schon Thiele oder Bellotto radierten ganze Folgen.25 Christian Ludwig von Hagedorn dilettierte in dieser Technik; Dietrich, Klengel und Nathe hinterließen jeweils umfangreiche Radierwerke.26 Für Landschaftsradierungen boten ihnen die Meister des vorangegangenen Jahrhunderts wie Rembrandt, Allaert van Everdingen, Jacob van Ruisdael, Herman van Swanevelt, Anthonie Waterloo oder Jan Both Orientierung. Klengels radierte Landschaften wurden in ihrer technischen Versiertheit und künstlerischen Freiheit ihrerseits für nachfolgende Malerradierer:innen maßgeblich. Mit Zinggs Technik der lavierten Umrissradierung sorgte schließlich eine ganze Werkstatt für einen breiten Bilderstrom,27 unter anderem bis hin zu Carl August und Ludwig Richters 70 Mahlerische[n] An- und Aussichten der Umgegend von Dresden in einem Kreise von sechs bis acht Meilen28 von 1820 und 30 An- und Aussichten zu dem Taschenbuch für den Besuch der 9 7 8

137 10 Caspar David Friedrich Bauernhäuser am Berghang 1799 | KAT 23 11 Christoph Nathe Blick vom Görlitzer südlichen Stadtgraben nach dem Frauenturm | undatiert Radierung und Aquatinta in Braun, 167×204 mm (Platte) Kulturhistorisches Museum Görlitz, Graphisches Kabinett, Inv. 31344 12 Caspar David Friedrich Landschaft mit Ruine und zwei Figuren 29. September 1802 | KAT 63 DUMMY sächsischen Schweiz,29 erschienen 1823, in denen Vater und Sohn Richter die Zingg’sche Landschaftswahrnehmung im kleinen Format auf reizvolle Weise, präzise, erzählfreudig und zugleich stimmungsvoll popularisierten. Friedrich fertigte in den Jahren um 1800 eine Reihe von Umrissradierungen, die er in Federzeichnungen vorbereitete. Eine bei DresdenLoschwitz nahe der Mordgrundbrücke lokalisierte Landschaft mit Herrenhaus (Abb. 9) vom 12. Oktober 1799,30 auf der er das vorgesehene Bildfeld flüchtig mit der Feder umrissen hatte, diente ihm als Vorlage für die in einem Probedruck in Berlin erhaltene Radierung.31 Friedrich ging dabei wiederum mit der Feder akzentuierend über die Bleistiftzeichnung, wobei die kubischen Formen der Gebäude mit den Kürzeln zur Bezeichnung des Baumlaubs kontrastieren. In Motivwahl und Darstellungsweise verwandt ist eine seinem Greifswalder Lehrer Johann Gottfried Quistorp gewidmete Radierung (Abb. 10), die recht genau einer Zeichnung vom 4. August 1799 folgt.32 Der leere Mittelgrund entspricht dabei jenen Partien in späteren Gemälden wie Morgennebel, in denen dichte Nebelschwaden einen lückenlosen Überblick verhindern und der Gipfel unerreichbar in der Bildfläche zu schweben scheint (Abb. 16, S. 314). Mit dieser Bildauffassung war er nicht allein, wie eine Aquatintaradierung von Christoph Nathe zeigt, in der ebenfalls der Vordergrund übersprungen wird und sich braun getönte Partien von reiner Umrissradierung abgrenzen (Abb. 11).33 Auch weitere Beispiele aus Nathes gut 100 Platten umfassendem Radierwerk zeigen eine Nähe zu Friedrichs Radierungen.34 In einer Szene mit zwei klagenden Figuren vor einer Brandstätte stellte Friedrich den Bildraum auf tradierte Weise dar und wählte für verschiedene Oberflächentexturen jeweils eigene Arten der Strichführung (Abb. 12). Doch in seiner Darstellung Kirchhof am Berg unterhalb des Oybin, von Börsch-Supan um 1803 datiert, kehrte er zum Darstellungsmuster mit leer gelassenen, 10 12 11

Der Zeichner 156 Florian Illies DAS ABWESENDE DRESDEN Genau so interessant wie das, was große Künstler malen, ist das, was sie zu vermeiden versuchen. Von Caspar David Friedrich, der von 1798 bis 1840 in Dresden lebte, existieren überraschenderweise weder innerstädtische Szenerien seines jahrzehntelangen Wohnorts noch klassische Veduten mit der berühmten Silhouette der Stadt. Dies ist aus zwei Gründen ungewöhnlich: Der von Canaletto in zahlreichen Varianten eingefangene Blick vom rechten Elbufer auf die prachtvolle Abfolge der Türme der Stadt von Frauenkirche, Hofkirche und Residenzschloss wurde etwa von Friedrichs Freund und Nachbarn Johan Christian Dahl in der Zeit um 1830 mit dramatischem Himmel und in Untersicht regelmäßig und ohne Berührungsängste in die Bildsprache des Zeitalters der Romantik übertragen (Abb. 1). Auch sind von Friedrich vedutenhafte Ansichten sowohl seiner Heimatstadt1 als auch des Herkunftsortes seiner Vorfahren2 bekannt. In all diesen Fällen wählte Friedrich jeweils eine leichte Untersicht, mit der er aus angemessenem Abstand die Stadt in ihrer Silhouette im Mittelgrund des Bildes feierlich und detailliert nachbildete. Offenbar scheint Dresden als Bildthema aber für den Dresdner Friedrich durch den sogenannten Canaletto-Blick der italienischen Hofmaler, der das »Bild« Dresdens bestimmte, zu überdeterminiert gewesen zu sein.3 Wie sehr sich Friedrich mit Canaletto auseinandersetzte, wird durch eine bis heute übersehene Bildadaption belegt: Canalettos großformatiges Gemälde Der Marktplatz von Pirna 4 hat ihm als Vorlage gedient, um seine eigene Familie in einem für ihn stilistisch sehr ungewöhnlichen Aquarell aus der von Canaletto vorgegebenen Vogelperspektive auf dem Marktplatz von Greifswald5 darzustellen. Friedrich lebte zwar 42 Jahre lang in Dresden, aber es existieren quasi keine Bleistiftzeichnungen der Stadt von dem eigentlich unentwegt zeichnenden Friedrich. Nur einmal, am 23. April im Jahr 1800, erfasste er mit dem Bleistift minutiös in einer kleinen Skizze die Spitzen des Hausmannsturms, der Hofkirche, der Kuppel der Frauenkirche und den Dachreiter des Altstädter Rathauses (Abb. 2).6 Genau diese Turmspitzen werden dann später in zwei berühmten Gemälden kurz aufblitzen hinter dem bildbestimmenden Hügel im Vordergrund, mit dem Friedrich die ihn offenbar erschlagende architektonische Schönheit der Stadt überblendete. Einmal, beim Hügel mit Bruchacker bei Dresden (Abb. 3), sind es die schnöde, frisch gepflügte Erde und ein kahler Streuobsthain, der die in ein diesiges Hellblau getauchte Stadt dahinter verdeckt. Beim Abendstern7 zieht der junge Knabe auf dem Hügel unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich – die Spitze der Türme der Dresdner Kirchen stehen verdeckt dahinter, bilden eine dezente Reihe mit den aufragenden Pappeln links und rechts davon. Allein die Augustusbrücke – gesehen von seinem Wohnort An der Elbe 33 – wird für Friedrich zum Bildthema, am markantesten im Kriegsverlust der Hamburger Kunsthalle8 (Die Augustusbrücke von Dresden). Am subtilsten wird die Verweigerung des Bildthemas Dresden vom Maler in

1 Johan Christian Dahl Blick auf Dresden bei Vollmondschein 1839 | KAT 243

Der Zeichner 158 seinem Bild Die Frau am Fenster (Abb. 28, S. 204) dargestellt. Bewusst hat er seine Frau Caroline genau so vor dem Fenster platziert, dass wir nicht hinausschauen können auf die Elbe, auf das Neustädtische Ufer. Er hält uns als Betrachter genauso im Innenraum gefangen wie er auch selbst sein Atelier kaum verlassen hat. Nur wenn es dämmerte, wagte er es, vor die Tür zu gehen, weil dann die übermächtige Silhouette der Stadt unscharf wurde und er seinen ureigenen Blick auf die Welt im Zwielicht schärfen konnte. 1 Caspar David Friedrich, Wiesen bei Greifswald, 1821/22, Öl auf Leinwand, 34,5×48,3 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. HK-1047 (BS/J 285). 2 Caspar David Friedrich, Neubrandenburg im Morgennebel, 1816/17, Öl auf Leinwand, 91×72 cm, Pommersches Landesmuseum, Greifswald (BS/J 225). 3 Bernardo Bellotto, gen. Canaletto, Dresden vom rechten Elbufer unterhalb der Augustusbrücke, 1748, Öl auf Leinwand, 133×237 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal. 606. 4 Bernardo Bellotto, gen. Canaletto, Der Marktplatz von Pirna, 1753/54, Öl auf Leinwand, 136 × 239,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal. 623. 5 Caspar David Friedrich, Der Greifswalder Markt, 1818, Wasserfarbe auf Papier, 54,5 cm × 67 cm, Pommersches Landesmuseum, Greifswald (BS/J 251). 6 1824 sind diese auch in der Ölstudie Abend zu sehen. Caspar David Friedrich, Abend (Sonnenuntergang hinter der Dresdener Hofkirche), 1824, Öl auf Leinwand, 20,8 × 24,7 cm, Privatbesitz (BS/J 320). 7 Caspar David Friedrich, Abendstern, ca. 1830, Öl auf Leinwand, 33×45,2 cm, Freies Deutsches Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum, Inv. IV-1950-007 (BS/J 389). 8 Caspar David Friedrich, Die Augustusbrücke in Dresden, um 1830, Öl auf Leinwand, o.A., Hamburger Kunsthalle (Kriegsverlust), Inv. E-1054 (BS/J 384). 2 Caspar David Friedrich Fichtenstudie (links); Hausmannsturm, Turm der Hofkirche, Kuppel der Frauenkirche, Dachreiter des Altstädter Rathauses (rechts) aufgelöstes Berliner Skizzenbuch II, Seiten 56 und 57 23. April 1800 | KAT 29

3 Caspar David Friedrich Hügel mit Bruchacker bei Dresden 1824/25 | KAT 160

Der Maler 190 Holger Birkholz CASPAR DAVID FRIEDRICH UND DIE ALTEN MEISTER In einem Brief, den Caspar David Friedrich 1816 an König Friedrich August I. von Sachsen im Rahmen seiner Berufung zum Mitglied der Akademie schrieb, betonte der Künstler, dass die »trefflichsten Kunstschätze«1 einer der Gründe seien, weshalb er 1798 nach Dresden kam. Schon früh wurde das Werk Friedrichs im Zusammenhang der bedeutenden Vertreter der Landschaftsmalerei vor ihm betrachtet. Die Künstler, die dabei immer wieder genannt wurden, waren Jacob van Ruisdael, Salvator Rosa und Claude Lorrain.2 Neben diesen kunsttheoretischen Diskursen lassen sich konkrete Bezüge zwischen Friedrichs Werken und denjenigen der Alten Meister, die er in der Dresdner Gemäldegalerie sehen konnte, nachweisen. Er übernahm Motive, wie Sonnenuntergänge oder das Friedhofsthema, orientierte sich zum Teil an Kompositionsschemata und skizzierte Staffagefiguren, aber auch Felsformationen aus einigen Landschaftsbildern. Der Blick auf die Alten Meister und das Kopieren ihrer Werke gehörten zur künstlerischen Grundausbildung der Zeit. Während seines Zeichenunterrichts bei Johann Gottfried Quistorp in Greifswald hatte Friedrich nach grafischen Vorlagen3 gezeichnet, und auch während seiner Ausbildung an der Kopenhagener Kunstakademie bestand das Lehrprogramm zum großen Teil im Zeichnen nach grafischen Vorlagen oder nach Gipsen.4 Das führte dazu, dass Friedrich dem Kopieren sehr skeptisch gegenüberstand. So bemerkte er später um 1830 prägnant: »Wer selber Geist hat kopirt nicht andere.«5 Zudem forderte er von Studierenden eine hohe Form von Eigenständigkeit, die er sich selbst erst nach seinem Studium erarbeiten musste.6 Als Friedrich 1798 in Dresden ankam, sah er sich mit der Haltung Adrian Zinggs konfrontiert, der auf ein entschiedenes Naturstudium setzte und das Studium der Alten Meister ablehnte. Friedrich berichtete seinem Kopenhagener Studienfreund Lund, Johann Carl August Richter hätte ihm gesagt, er habe »noch nicht die Gallerie gesehen und auch nicht das KupferstichKabinett, die Ursache war, der alte Zing fand, es war unnötig«.7 Friedrich sah das offenbar anders. Er ist selbst regelmäßig in der Galerie gewesen. Das zeigt sich in einigen Spuren, die Gemälde aus der Sammlung in seinem Werk hinterlassen haben. 1 | 2 Caspar David Friedrich Figurenstudien. Nachzeichnungen nach der Staffage niederländischer Gemälde der Dresdner Galerie um 1800 | KAT 30

Der Maler 192 Aber es finden sich zudem auch Erwähnungen in schriftlichen Quellen. So berichtete der russische Staatsrat und Dichter Wassili Schukowski von Besuchen in der Gemäldegalerie zusammen mit Friedrich im April 1821. Es war für ihn überraschend, dass Friedrich bei vielen Gemälden »die Maler nicht nennen« konnte, »dafür fand er in vielen Bildern Schönheiten oder Mängel, die nur der bemerkt, der in das Lehrbuch der Natur geschaut hat«.8 Zudem berichtete er über Friedrichs Einschätzung zu drei religiösen Werken der Galerie – Tizians Zinsgroschen,9 einem segnenden Christus von Dolci10 und der Darstellung einer Kreuztragung von Ercole de’Roberti,11 die um die Frage nach der Wahrheit der Empfindung kreisen,12 einem Thema, das Friedrich auch später noch in seinem kunstkritischen Manuskript beschäftigen sollte.13 STAFFAGE Dass Friedrich mit Figurendarstellungen rang und sie ihm nicht so recht zu gelingen schienen, ist ein Topos der Forschung zum Künstler, die sich insbesondere an den gelängten Figuren seiner Schiller-Illustrationen von 1801 festmacht.14 So kam es auch 1811 zu der Behauptung, einige Figuren in Friedrichs Landschaftsbildern seien von seinem Künstlerfreund Georg Friedrich Kersting angelegt worden.15 Die Auseinandersetzung mit den die Landschaften belebenden Figuren seiner Bilder durchzieht das Schaffen des Künstlers von den Figurenstudien auf einem Skizzenbuchblatt von 1799/1800 (Abb. 1) über die Striche, mit denen er die Größe von Menschen in seine Landschaftsstudien einzeichnete, bis zu den nicht ausgeführten beiden Wanderern im Großen Gehege von 1832 (Abb. 15, S. 289).16 3 Adriaen Fransz. Boudewijns und Peeter Bout Brunnen am Seeufer undatiert | KAT 216 4 Adriaen Fransz. Boudewijns, Peeter Bout Brunnen am Seeufer undatiert | KAT 261 Detail aus Abb. 3 5 Caspar David Friedrich Figurenstudien Nachzeichnung nach der Staffage niederländischer Gemälde der Dresdner Galerie | 1800 | KAT 30 Detail aus Abb. 1

193 gleichmäßig über die ganze Fläche seines Skizzenbuchblattes. Seine Anordnung wirkt analytisch, als wollte er einen Katalog möglicher menschlicher Haltungen sammeln.19 Damit löste er sie aus dem ursprünglichen Verbund der Komposition, in der sie in Analogie zur Horizontlinie nebeneinander aufgereiht ihren Ort fanden.20 Auf einem Blatt findet sich der Name »Bout« verzeichnet,21 wohl später von fremder Hand hinzugefügt, der auf die Herkunft einiger dort gezeichneter Figuren aus Gemälden der Dresdner Galerie verweist. Sie wurden von Peeter Bout zur Belebung der Szenerie in die Landschaften Adriaen Fransz. Boudewijns gemalt. Von den ursprünglich acht Gemälden, die aus der Zusammenarbeit dieser beiden niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts entstanden sind, verwahrt die Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister 6 Caspar David Friedrich Gebirgslandschaft mit Regenbogen um 1809/10 | KAT 101 heute noch fünf.22 Auf ihnen finden sich einige der von Friedrich skizzierten Figuren.23 Er hat sich durch sie anregen lassen, und so greift er sie deutlich verändert viele Jahre später in einigen seiner Gemälde auf. Der sich auf einen Stock stützende Bettler in der Menschenmenge am Hafen aus einem Gemälde von Boudewijns und Bout (Abb. 3, 4) wurde für das Skizzenbuchblatt (Abb. 5) aus seinem Umfeld herausgelöst. Friedrich interessierte sich für diese Figur wohl auch, weil sie ihn an Wanderer erinnerte, denen er auf seinen Reisen begegnet war und die er auf seinen Zeichnungen festgehalten hatte.24 Auch in seinen Gemälden findet sich diese Figur, am deutlichsten wohl in der Gebirgslandschaft mit Regenbogen von 1809/10 (Abb. 6). Der Bettler aus Boudewijns Gemälde und Friedrichs Wanderer nehmen eine Wie nicht selten in Friedrichs Werk lassen sich von einer frühen Zeichnung, die für sich genommen eher unscheinbar erscheint17 und deutlichen Studiencharakter trägt, Linien ziehen, die oft auf deutlich spätere Schaffensphasen verweisen. Auf den vier Seiten eines Skizzenbuches seiner Dresdner Anfangszeit um 1800 (Abb. 2) erscheinen Menschendarstellungen in einfachen Umrissen gezeichnet, in denen schon Werner Sumowski Figuren aus Gemälden der Dresdner Galerie wiederfinden konnte.18 Es handelt sich um Staffagefiguren vor allem aus niederländischen Landschaftsbildern des 17. Jahrhunderts, die ihren Sujets entsprechend, zumeist Hafenszenen, eine vielfigurige Lebendigkeit aufweisen. Aus dieser Ansammlung von Menschen in unterschiedlichen Posen und mit verschiedenstem Ausdruck wählte Friedrich einige. Er streute sie

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