Leseprobe

STAATLICHE KUNSTSAMMLUNGEN DRESDEN ULRIKE WEINHOLD THERESA WITTING SANDSTEIN VERLAG

BESTANDSKATALOG Band I DIE WERKE DES 16. BIS 19. JAHRHUNDERTS

DANK 7 ZUM GELEIT Marius Winzeler 8 EINFÜHRUNG Ulrike Weinhold | Theresa Witting 10 ESSAYS Goldschmiedekunst im Grünen Gewölbe. Entwicklungslinien der Sammlung Ulrike Weinhold | Theresa Witting 16 Außereuropäische Konchylien im Grünen Gewölbe. Prozesse der Aneignung in den Werkstätten deutscher Goldschmiede Theresa Witting | Ulrike Weinhold 56 Exklusive Trinkgefäße. Zwischen Tafelfreuden und Schatzkunst Theresa Witting | Ulrike Weinhold 68 Löten, stiften, schrauben. Gedanken zu goldschmiedetechnischen Verbindungen Eve Begov 74 Digitale Markenfotografie Volker Dietzel | Michael Wagner 84 Vorbemerkungen 203 Trinkgefäße Pokale Akelei-, Buckel- und Traubenpokale 206 Pokale mit gerader Wandung 236 Doppelpokale 256 Nautiluspokale 271 Pokale mit Turbanschnecken und anderen Konchylien 349 Kokosnusspokale 379 Rhinozeroshornpokale 407 Straußeneipokale 420 Pokale mit Steinschnitt 435 Innungspokale 481 1 2 BAND BAND ANHANG Biografien der Goldschmiede 92 Quellen 122 Literatur 126 Personenregister 164 Die Kurfürsten und Könige von Sachsen aus der albertinischen Linie des Hauses Wettin 177 Konkordanz 178 Verlustliste Goldschmiedearbeiten 180 Markenregister 183 Abkürzungen 192 Autorinnen und Autoren 192 Bildnachweis 193 Impressum 196

Silberplastik Statuetten 974 Reliefs 992 Weitere Werke 1044 3 Figürliche Gefäße Architektur und Gegenstände 488 Schiffe 503 Menschliche Gestalten 519 Fabelwesen und mythologische Figuren 540 Tiere und Pflanzen 584 Humpen 642 Becher 671 Trinkschalen 716 Automaten 736 Vorbemerkungen 763 Flaschen, Schenk- und Kühlgefäße sowie Kredenzen Flaschen 766 Kühlgefäße und Schwenkkessel 778 Lavabos 789 Kannen, Krüge und Kredenzen 862 Dosen, Deckelgefäße und Schalen Deckelgefäße und Dosen 902 Schalen 920 Salzschalen 960 BAND

10 |  Die Schatzkammer des sächsischen Herrscherhauses, das Grüne Gewölbe, verfügt über eine der weltweit bedeutendsten fürstlichen Sammlungen von Goldschmiedewerken der Renaissance und des Barock. Sie befindet sich seit Jahrhunderten an ein und demselben Ort und ist durch Inventareinträge und andere Quellen historisch ausgezeichnet dokumentiert. Während vergleichbare Bestände vielerorts Opfer von Einschmelzungen wurden, haben sie sich in Dresden trotz derartiger Dezimierungen in beträchtlichem Umfang erhalten. Das bereits 2014 initiierte Forschungsprojekt konzentrierte sich zunächst auf die Untersuchung und Bewertung der in großem Umfang erhaltenen Farbfassungen der Silberobjekte, die bislang kaum Beachtung fanden. Schnell wurde klar, dass dieses Thema auch bei Kolleginnen und Kollegen anderer Sammlungen auf breites Interesse stieß, sodass eine Tagung initiiert wurde, um es im internationalen Kontext zu betrachten. Eine zweite Fragestellung widmete sich der Funktion der Sammlung im Rahmen der fürstlichen Repräsentation, wobei insbesondere zwei Aspekte im Fokus standen: die Bedeutung der Goldschmiedearbeiten für die höfische Geschenkkultur sowie für das Zeremoniell, in dessen Rahmen sie, präsentiert auf Silberbuffets, eine zentrale Rolle spielten. Die Ergebnisse dieser beiden Forschungsschwerpunkte konnten 2018 und 2020 in zwei Bänden publiziert werden, ergänzt durch einen sowohl in einer Printausgabe als auch online verfügbaren zweisprachigen TagungsGegliedert in die Bereiche Goldschmiedekunst, Schmuck und Juwelengarnituren, Elfenbein, Bronzen, Pretiosen, Steinschneidekunst, Bernstein, Glas, Email, Möbel und Uhren, beherbergt das Grüne Gewölbe viele Gegenstände, die sich durch Materialkombinationen auszeichnen. Auch zahlreiche Silberarbeiten tragen Appliken oder besitzen Teile aus Edelsteinen, Elfenbein oder anderen Materialien. Für den Katalog schien daher eine Begrenzung auf solche Werke sinnvoll und notwendig, bei denen die Goldschmiedearbeit den Gesamteindruck maßgeblich bestimmt. Ausgeklammert werden aus diesem Grund Pretiosen, also Stücke mit üppigem Edelstein- und Emailbesatz, so etwa die Arbeiten des Hofjuweliers Johann Melchior Dinglinger und etliche Werke Johann Heinrich Köhlers. Dasselbe gilt für die häufig aus vielerlei Materialien bestehenden Prunkkästchen und Bestecke sowie Stücke aus Silberfiligran. Die nur schlicht gefassten Steinschnittobjekte sowie die Elfenbeinarbeiten mit silberner Montierung sind ebenfalls nicht Teil des Projekts. Letztere wurden im 2017 publizierten Bestandskatalog von Jutta Kappel wissenschaftlich erfasst. Und schließlich findet auch das im Grünen Gewölbe befindliche Konvolut aus der Hofsilberkammer keine Berücksichtigung. Dieses für die fürstliche Tafel vorgesehene Gebrauchssilber bildet einen gesonderten Sammlungskomplex, der 1924 in der Fürstenabfindung komplett an den Familienverein Haus Wettin Albertinische Linie abgegeben wurde und seither weltweit verstreut ist. Seit den 1990er Jahren wurden immer wieder einzelne Teile band zu Farbfassungen in unterschiedlichen deutschen und internationalen Sammlungen. Der vorliegende wissenschaftliche Katalog, in dem die 348 Goldschmiedearbeiten im Grünen Gewölbe systematisch erfasst werden, setzt den Schlusspunkt unter das sich über zehn Jahre erstreckende Forschungsvorhaben. Das Gros dieser qualitativ und quantitativ außergewöhnlichen Sammlung bilden deutsche Goldschmiedewerke, unter denen solche aus Dresden (79), Augsburg (77) und Nürnberg (69) überwiegen. Mit 31 Objekten ist zudem die Leipziger Goldschmiedekunst stark vertreten – auch diese Bestandsgruppe dürfte einmalig sein. Neben »rein silbernen« Werken umfasst die Sammlung eine hohe Anzahl von Arbeiten mit Naturalien, die zu einem großen Teil 1724 unter August dem Starken aus der 1560 gegründeten Kunstkammer in das Grüne Gewölbe transferiert wurden, sodass im Katalog auch dieser wichtige Bestand erstmals umfänglich vorgestellt wird. Beispielhaft seien die Molluskengefäße und Perlmutterarbeiten erwähnt, welche als die bedeutendsten Konvolute ihrer Art gelten. Sie werden daher in einem eigenen Essay gewürdigt. Die Goldschmiedearbeiten im Grünen Gewölbe können bei Zuschreibungsfragen als Referenzwerke dienen, da es sich dabei fast ausschließlich um historisch gesicherte Objekte handelt. Unter den später angekauften Stücken finden sich gleichwohl auch solche, die stark verändert wurden oder sich als Nachahmungen des Historismus bzw. – mit imitierten Marken versehen – gar als Fälschungen erwiesen. Einführung

| 11 bzw. Objektkonvolute angekauft, deren Präsentation in den wiederhergestellten Paraderäumen des Dresdner Residenzschlosses in Planung ist. Der äußerst umfangreiche, im Grünen Gewölbe allerdings nur ausschnitthaft vorliegende Silberkammerbestand ist durch Inventare des 18. und 19. Jahrhunderts gut dokumentiert. Ein eigenes Forschungsvorhaben wäre daher durchaus wünschenswert und dürfte das Wissen zur Tafelkultur des Barock in jedem Fall bereichern. Der zeitliche Rahmen der im vorliegenden Katalog berücksichtigten Goldschmiedewerke wird von etwa 1500 bis 1850 gesetzt. Damit sind die mittelalterlichen Arbeiten, also die teilweise mit aufwendigen Silberfassungen versehenen Steinschnittgefäße und Greifenklauen (mit Ausnahme eines später zu datierenden Exemplars) nicht Teil des Projekts, denn diese sind sammlungsgeschichtlich anders zu bewerten. Flankiert wird der Katalogteil dieser Publikation von Beiträgen, die einzelne Aspekte des Forschungsvorhabens beleuchten. Neben einem historischen Abriss der Entwicklung des Silberbestands über die Jahrhunderte werden, Abb. 1 Fußgruppe des Nautiluspokals mit Korallenzinken (Kat.-Nr. 42) wie bereits erwähnt, die Werke mit Konchylien einer näheren Betrachtung unterzogen. Nicht nur bei diesem Konvolut stellt sich immer wieder aufs Neue die Frage nach der tatsächlichen Gebrauchsfunktion solcher Schatzkunstobjekte. Im Zuge der Forschungen fanden sich für den sächsischen Hof viele Hinweise, die sich im Einzelfall auch auf andere Sammlungen übertragen lassen dürften. Eve Begov untersucht in einem weiteren Essay, inwiefern technologische Besonderheiten von Goldschmiedemontierungen Hinweise auf Zuschreibungen geben können. Gerade diese vom praktisch Machbaren ausgehende Perspektive auf die Werke dürfte in Zukunft noch manche Erkenntnisse bereithalten. Eine solch einzigartige Sammlung bearbeiten zu dürfen, ist als Privileg zu begreifen, das nur wenigen Spezialistinnen und Spezialisten vergönnt ist. Entsprechend hoch ist der Anspruch, der sich mit einem solchen Langzeitprojekt verbindet. Ohne die umfängliche Unterstützung des Teams vor Ort sowie den lebendigen Austausch mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, die ihr Wissen mit uns teilten, wäre der vorliegende Katalog nicht möglich gewesen. Sie alle namentlich hier aufzuführen, würde den Rahmen sprengen – sie werden an entsprechender Stelle in den Anmerkungen erwähnt. Permanente Wegbegleiter waren die Restauratorinnen und Restauratoren der Werkstatt des Grünen Gewölbes: Rainer Richter, Michael Wagner und Eve Begov sowie phasenweise Sophie Hoffmann, Maria Willert und Lea Eulitz, die Untersuchun­

12 |  gen der Objekte stets unkompliziert ermöglichten und begleiteten sowie ihr Fachwissen insbesondere zu technologischen und konservatorischen Aspekten eingebracht haben. Ihrem großen Engagement ist es zu verdanken, dass im Rahmen des Projekts zahlreiche Restaurierungen durchgeführt werden konnten. Diese teilweise auch von externen Kollegen (Sebastian Karp und Stephan Rudolph) umgesetzte und durch Patenschaften der Freunde des Grünen Gewölbes mitgetragenen Maßnahmen gingen immer auch mit einem Erkenntnisgewinn, etwa zu Machart, Materialen oder Fragen der Erhaltung einher. Dirk Weber stand jederzeit bereit, sein Fachwissen zu Exotika mit uns zu teilen sowie Detailaufnahmen der Objekte anzufertigen. Ihm sei ebenso gedankt wie Michael Wagner und Volker Dietzel für die zeitintensive digitale Erfassung aller Silbermarken, der eine Phase intensiver Suche nach einer optimalen Lösung vorausging. Maria Morstein leistete bei der Erstellung der Verlustliste wertvolle Vorarbeit. In der Rüstkammer sei insbesondere Christine Nagel und Gernot Klatte für die stets geduldige Beantwortung unzähliger Fragen gedankt, im Kupferstich-Kabinett Angela Rietschel, die unsere umfangreichen Bildbestellungen schnell und unkompliziert erledigte. Alle verwaltungstechnischen Belange oblagen Catrin Eisert, die als Direktionsassistentin insbesondere den Überblick über die Finanzen behielt. Ein herzlicher Dank geht daher auch an sie. Der Historiker Jochen Vötsch, der bereits seit vielen Jahren für das Grüne Gewölbe das Hauptstaatsarchiv Dresden Abb. 2 Spange am Nautiluspokal in Gestalt eines Pelikans (Kat.-Nr. 125)

| 13 durchforstet hatte und daher ein ausgezeichneter Kenner der dortigen Bestände ist, konnte für dieses Projekt erfreulicherweise erneut gewonnen werden. Ihm oblagen die diesbezüglichen Recherchen und die Auswertungen relevanter Quellen. Er wurde zeitweilig von Mike Huth tatkräftig unterstützt. Paul Kuchel war dafür zuständig, die Objekte des Grünen Gewölbes ins rechte Licht zu setzen. Seiner professionellen Arbeitsweise ist es zu verdanken, dass die während der Schließwochen durchgeführten Fotosessions trotz der begrenzten Zeit reibungslos und ausgesprochen effektiv durchgeführt werden konnten. Auch galt es, eine Vielzahl von Vergleichsabbildungen zu beschaffen. Die umfangreichen Bildbestellungen bewältigten souverän Ute Möller und Jan-Markus Göttsch. Dieser widmete sich darüber hinaus sehr gewissenhaft der Erstellung des Personenregisters, das von Irmtraut Schläfer umsichtig finalisiert wurde. Die Bearbeitung der zahlreichen Objekte mit Naturalien wäre ohne interdisziplinäre Kooperation kaum in befriedigender Weise möglich gewesen. In diesem Zusammenhang sei Katrin Schniebs und Klaus Thalheim, Senckenberg Naturhistorische Sammlungen, sowie Ulf Kempe, TU Bergakademie Freiberg, herzlich dafür gedankt, dass sie ihr profundes Fachwissen mit uns geteilt haben. Unbedingt zu erwähnen sind an dieser Stelle auch die etwa ein Mal pro Jahr an wechselnden Orten tagenden Freunde historischen Silbers, die uns für den fachlichen Austausch zur Seite standen. Der von Connaisseurs der Goldschmiedekunst aus Museen, Privatsammlungen und dem Kunsthandel zusammengesetzte Kreis war an der Lösung vieler kniffliger Fragen, insbesondere zur Zuschreibung von Marken, beteiligt. Genannt seien hier vor allem Theoderich Hecker (Jena), Ernst-Ludwig Richter (Freudental), Annette Schommers (Bayerisches Nationalmuseum München), Horst Arians (Remels) und Stein Holm (Oslo). Einzelne Katalogeinträge verfassten Ines Elsner, Lena Hoppe und Susanne Drexler, bei anderen steuerten Jörn Lang, Johannes Eulitz, Wilhelm Hollstein und Christian Klose ihr spezialisiertes Fachwissen bei. Dass aus den über viele Jahre verfassten Texten eine Publikation wurde, verdanken wir zunächst Ines Elsner und Petra Kunzelmann, die das Fachlektorat übernahmen, und schließlich dem professionellen Team des Sandstein Verlags. In bewährter Weise gelang es Sina Volk (Verlagslektorat), Michaela Klaus (Gestaltung), Gudrun Diesel (Satz) sowie Jana Neumann (Repro) mit viel Hingabe, das durchaus komplizierte Material in eine ästhetisch ansprechende wie auch benutzerfreundliche Publikation zu verwandeln. Bei den Direktoren Marius Winzeler und Dirk Syndram möchten wir uns für das entgegengebrachte Vertrauen bedanken sowie dafür, dass sie uns über die Jahre den Rücken freihielten und die notwendigen Rahmenbedingungen schufen – nur so konnte es gelingen, die Forschungen durchzuführen. Besonders in der Schlussphase gelang es Marius Winzeler mit viel Geschick und großem Einsatz, die erforderlichen Mittel einzuwerben und somit die Fertigstellung der Publikation zu sichern. Last but not least soll nicht unerwähnt bleiben, dass es Helmut Seling war, der Ulrike Weinhold in den 1990er Jahren für die Goldschmiedekunst begeisterte und als Mentor begleitete, bis ihr Weg sie in das Grüne Gewölbe geführt hat und damit ein Traum wahr geworden war. Ohne ihn hätte es dieses Projekt nicht gegeben. Dieser goldene Funken übertrug sich auch auf Theresa Witting. Und so konnten wir gemeinsam – und uns gegenseitig ergänzend und unterstützend – dieses große Vorhaben gestalten und zu einem guten Ende führen. ULRIKE WEINHOLD THERESA WITTING

16 | ULRIKE WEINHOLD | THERESA WITTING Goldschmiedekunst im Grünen Gewölbe Entwicklungslinien der Sammlung Die Geschichte des Grünen Gewölbes als einer gewachsenen fürstlichen Sammlung ist seit ihrem Ursprung im 16. Jahrhundert sehr gut belegt. Für nicht wenige der hier im Fokus stehenden Goldschmiedearbeiten ist es daher möglich, mehr oder weniger genaue Aussagen über deren Provenienz, Standort und Funktion zu treffen. Zentrale Bedeutung als Quellen kommt dabei den Inventaren des Grünen Gewölbes zu, aber auch denen der Silberkammer und der Kunstkammer – sind sie doch ebenso kursächsische Sammlungen, deren Schicksale vielfältig miteinander verwoben sind. Besonders eng sind die Verflechtungen mit der Rüstkammer, die phasenweise mit dem Grünen Gewölbe unter derselben Direktion firmierte und seit Dezember 2006 abermals in dieser Konstellation geführt wird. 1832 erfolgte die Umbenennung in Historisches Museum, die bis 1992 im Rahmen der Neueröffnung im Semperbau gültig war. Inventare und Objektkennzeichnungen Die teils sehr genauen Beschreibungen geben im Vergleich mit dem jetzigen Zustand Auskunft über Veränderungen an den Goldschmiedewerken. Ebenso verzeichnet sind in den meisten Inventaren die in den damals gängigen Maßeinheiten Mark (kölnische Mark: 233,89 g), Lot (14,62 g), Quent (3,65 g) und Pfennige (0,914 g) angegebenen Gewichte, die auch auf vielen Objekten vermerkt sind (Abb. 1). Sie sollten im Vorfeld der in Notzeiten vorgenommenen Einschmelzungen Auskunft über den zu erwartenden Münzertrag geben. Aus heutiger Sicht dienen diese Angaben der eindeutigen Zuordnung von Stücken zu den entsprechenden Einträgen in den Inventaren. Im Falle von Abweichungen können sie interessante Rückschlüsse auf abhanden gekommene Teile einer Goldschmiedearbeit geben.

| 17 Abb. 1 Punzierte Gewichtsangabe (Kat.-Nr. 180) Abb. 2 Objekteinträge mit Gewichtsangaben im Pretioseninventar von 1725, fol. 210 r – 210 v (siehe Kat.-Nr. 38)

18 | Ulrike Weinhold | Theresa Witting Die überwiegende Mehrzahl dieser punktpunzierten Gewichtsangaben muss im Zuge der von August dem Starken betriebenen Einrichtung des Grünen Gewölbes zum Schatzkunstmuseum in den frühen 20er Jahren des 18. Jahrhunderts an den Objekten angebracht worden sein, oft auch auf in den Fuß der Gefäße eingesetzten Silberplatten. Die jeweils daneben einpunzierte Nummer bezieht sich auf den entsprechenden Objekteintrag, etwa im Silberinventar 1723 oder im Pretioseninventar von 1725 (Abb. 2). Zusätzlich zu diesen Markierungen finden sich an einigen Goldschmiedearbeiten eingeschlagene Nummern, deren Bezug trotz intensiver Recherchen nicht restlos geklärt werden konnte. Es handelt sich dabei um Einschläge einzelner Punzen der Ziffern 0 bis 9, die in Kombination ein- bis dreistellige Zahlen ergeben (Abb. 3).1 Insgesamt 33 der im Katalog bearbeiteten Objekte weisen derartige Kennzeichnungen auf, die von den Nummern 1 und 2 (Kat.-Nr. 14) bis zur 760 (Kat.-Nr. 71) reichen. Fast ausnahmslos2 handelt es sich dabei um Stücke mit exotischen Naturalien oder Steinen. Da in zwei Fällen – bei der mit der Zahl 503 bezeichneten Perlmutterflasche (Kat.-Nr. 163) und der mit 545 bezeichneten Seychellennusskanne (Kat.-Nr. 186) – eben jene Nummern im Inventar der Kunstkammer von 1640 beschrieben sind (»unten am Fuße die zahl 503 geschlagen« bzw. »einen silbernen fuß an deßelben seite, die zahl 545 gesenckt«), muss das Markierungssystem zuvor eingeführt worden sein.3 Es liegt nahe, dass es in späterer Zeit nicht mehr in Gebrauch war, da sich die eingeschlagenen Nummern auf keinem nach 1640 entstandenen Objekt finden.4 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch zwei gleichermaßen gekennzeichnete, nicht im Grünen Gewölbe befindliche Goldschmiedearbeiten: eine 1609 entstandene Taufgarnitur (mit der Nummer 98) aus der ehemaligen Sophienkirche (Abb. 4)5 sowie eine große Deckelkanne (mit der Nummer 529), die vermutlich als Geschenk Kurfürst Johann Georgs II. von Sachsen in den Besitz der böhmischen Grafen Clary und Aldringen nach Teplitz/Teplice, dem bevorzugten Badeort der Wettiner, gelangte.6 Auch wenn die mit dem Nummernsystem in Bezug stehenden konkreten Quellen (Listen, Verzeichnisse oder Inventare) bislang nicht ausfindig gemacht werden konnten, so bleibt zu vermuten, dass die Markierungen möglicherweise von der Rentkammer veranlasst bzw. angebracht wurden, der ältesten und wichtigsten Finanzbehörde des sächsischen Hofes, welche die landesherrlichen Eigeneinkünfte verwaltete. Ein Inventar aus dem Jahr 16107 umfasst sehr unterschiedliche Objekte: Münzproben, Edelmetall, Schmuck, Bruchsilber, Trinkgefäße, Lavabos, Tischtücher,8 Bestecke und Tafelsilber – dieses mit Nummern (offenbar der Silberkammer) versehen –, aber auch Schlüssel sowie Urkunden. Eine kleine Gruppe von fünf Trinkgeschirren, darunter die beiden Greifen (Kat.-Nr. 106), wird mit der Bemerkung aufgeführt, sie sei von Christian II. zu Fastnacht 1609 in die Kammer gegeben worden.9 Ein weiteres umfangreiches Konvolut von Trinkgeschirren war, so der Vermerk, 1607 aus dem Lusthaus auf dem Sonnenstein zu Pirna in die Rentkammer gelangt (siehe auch S. 24 f.).10 Ebenfalls verzeichnet ist silbervergoldetes Trinkgeschirr aus dem Besitz der 1585 verstorbenen Kurfürstin Anna.11 Einige Einträge wurden mit dem Kommentar »nicht vorhanden« versehen. Vermerke wie »gehört der Silber Cammer«,12 »ist auf den Stall kommen«13 oder »ist auf die Kunstcammer gegeben«14 lassen vermuten, dass die Rentkammer, die im Residenzschloss in unmittelbarer Nachbarschaft der Silberkammer untergebracht war,15 eine Art Schaltstelle war, die Ein- und Ausgänge verwaltete bzw. Objektbewegungen überwachte und koordinierte. 1 Die Einschläge weisen Unterschiede auf, vermutlich, da einzelne Punzen im Laufe der Zeit ersetzt wurden. 2 Ausnahmen bilden Kat.-Nrn. 3 und 14. 3 Inventar Kunstkammer 1640, fol. 112 r, 135 v. 4 Der erst 1668 in stark beschädigtem Zustand angekaufte Jaspispokal (Kat.-Nr. 80) erhielt vermutlich eine aus Teilen älterer Werke generierte neue Silbermontierung, was die Erklärung sein könnte für die am Fuß eingeschlagene Nummer 501. 5 Heute ist das Lavabo Teil der Dauerausstellung Kunstkammer. Weltsicht und Wissen um 1600 im Dresdner Residenzschloss. 6 Wohl Sachsen, 2. Viertel 16. Jh. Im Jahr 2008 befand sich die Kanne im Bremer Kunsthandel. Eine Untersuchung zur Provenienz des Objekts von Ernst-Ludwig Richter, Freudental, vom 21. 12. 2009 liegt vor (AGG). 7 Inventar Rentkammer 1610. 8 Ebd., fol. 4 r: »Drasuer Quelen«. 9 Ebd., fol. 9 v. 10 Ebd., fol. 10 r – 10 v (21 Positionen). 11 Ebd., fol. 6 r, die Bemerkung ergänzt: »bleiben in der Cammer«. 12 Ebd., fol. 9 r. 13 Ebd., fol. 3 v, betrifft ein Hundehalsband. 14 Ebd., fol. 5 r (»ein zerbrochen Pusikan«). 15 Residenzschloss Dresden 2019, S. 148, 578, Nr. EG/32. Abb. 3 Eingeschlagene Nummern auf drei Objekten (Kat.-Nrn. 47, 92, 163)

Goldschmiedekunst im Grünen Gewölbe | Entwicklungslinien der Sammlung | 19 Abb. 4 Taufgarnitur Hans Reiff, Nürnberg, 1609 Silber, vergoldet, Perlmutter, Email, H 34,4 cm (Kanne), B 62,6 cm (Becken) ehemalige Sophienkirche, Evangelisch-­ Lutherische Landeskirche Sachsens

20 | Ulrike Weinhold | Theresa Witting Beamte dieser Institution wurden zuweilen auch mit der Aufnahme eines Vermögensverzeichnisses beauftragt. Ein solches, ausgefertigt nach dem Tod Christians II. im September 1611, umfasst auch einige Silbergegenstände, die mit den eingeschlagenen Nummern versehen sind, darunter etwa das als Taufgarnitur verwendete Perlmutterlavabo (Kat.-Nr. 168). Die Beamten der Rentkammer hatten offenbar nach dem Tod des regierenden Kurfürsten diejenigen Objekte erfasst, die eigentlich in der Schatz- oder Silberkammer inventarisiert waren, sich aber vorübergehend und für speziellen Gebrauch an einem anderen Ort befanden. Auch ein mit den eingeschlagenen Zahlen 31 und 543 versehener Kokosnusspokal (Kat.-Nr. 54) mag in diese Richtung verweisen. Die erste der beiden Nummern bezieht sich auf die Silberkammer, in deren Inventar von 1581 bis 1586 er unter der Nummer 31 aufgelistet ist.16 Auf dem Fußrand des Gefäßes wurde zudem ein herzoglich-sächsisches Wappen eingeschlagen, vermutlich als Besitzerstempel (Abb. 5); Zeitpunkt und Kontext der Anbringung konnten bislang nicht ermittelt werden.17 Wieder andere Inschriften finden sich auf den silbernen Trinkgefäßen in den Kurfürstlichen Gemächern (Kat.-Nrn. 10–12, 15, 16, 162). Diese Punzierungen, bestehend aus »R. Kam– er« (für Rüstkammer) in Kombination mit einer Nummer- und Gewichtsangabe, korrelieren mit dem entsprechenden Inventar von 1683/84 und wurden, wie dort vermerkt ist, im Auftrag des Oberstallmeisters Hans Georg von Schleinitz durch den Hofsilberarbeiter Niclas Bülle 1683 angebracht.18 Ein weiteres Nummernsystem war offenbar im 19. Jahrhundert in Verwendung, dieses Mal aufgetragen mit weißer Lackfarbe. Vermutlich erfolgte diese Kennzeichnung im Zusammenhang mit der Inventarisierung des Silbervergoldeten Zimmers von 1817 (Abb. 6). Da sie Reinigungsvorgängen oftmals nicht standhielten, haben sich diese Nummern nur in wenigen Fällen erhalten (Kat.-Nrn. 3, 4, 11). Der reiche Fundus der im Hauptstaatsarchiv verwahrten Akten, insbesondere der Bestandsgruppen Oberhofmarschallamt, Geheimer Rat, Geheimes Kabinett, Finanzarchiv und Rentkammer, bilden die Grundlage für weitere Recherchen zu Provenienzen, wechselnden Standorten und Funktionen der Silberobjekte.19 Die Schatzkammer im 16. und frühen 17. Jahrhundert Das erste Inventar des Grünen Gewölbes von 1586/87 Einen ersten Beleg für den Bestand des Grünen Gewölbes bildet ein Verzeichnis von 1586/87, angelegt nach dem Tod Kurfürst Augusts unter dessen Sohn und Nachfolger Christian I.20 Es steht am Beginn der Entwicklung vom Schatzdepot zum Museum. Untergebracht in acht Schränken verwahrte die bereits damals im Westflügel des Dresdner Residenzschlosses befindliche »Geheime Verwahrung des Grünen Gewölbes« Erzstufen, Gefäße aus Gold, Edelsteine und Bernstein, Schmuckkästchen und Kleinodien unterschiedlichster Art. Der dort ebenfalls aufgeführte, sehr disparate Bestand an Silbergegenständen umfasste vor allem Trinkgefäße, teils in Tiergestalt oder als Doppelscheuern, aber etwa auch Flaschen, Schenk- und Deckelgefäße, Salzfässchen oder Bestecke und damit ganz offenbar durchaus auch zum Gebrauch vorgesehene Stücke.21 Aufgrund der sehr summarischen Nennung ist eine konkrete Zuordnung zu bestimmten, erhalten gebliebenen Werken nur in Einzelfällen möglich, so bei der Daphne (Kat.-Nr. 99), dem Nautiluspokal auf Adlerklaue (Kat.-Nr. 22), den beiden Bechern mit Hinterglasmalerei (Kat.-Nr. 142), der Schubkarrengruppe (Kat.-Nr. 94), der Giftprobe (Kat.-Nr. 155) oder dem Natternbaum (Kat.-Nr. 243). Die Hofsilberkammer Gleichermaßen disparaten Charakter besitzt zu jener Zeit die Hofsilberkammer, die in drei Räumen im Erdgeschoss des Ostflügels untergebracht war.22 Den stichwortartig angelegten Verzeichnissen aus dem 16. Jahrhundert ist zu entnehmen, dass dort in jener Zeit auch Schmuck und ungefasste Edelsteine sowie Erzstufen aufbewahrt wurden.23 Erst Kurfürst Johann Georg I. bemühte sich kurz nach seinem Regierungsantritt 1612 um eine deutlichere Abgrenzung zwischen der Silberkammer und den eigentliAbb. 5 Eingeschlagener Besitzer- stempel (Kat.-Nr. 54) 16 In diesem Inventar sind nicht alle Objekte nummeriert. 17 Denkbar wäre eventuell ein Zusammenhang mit Herzog August, dem 1616 verstorbenen Bruder von Christian I. und Johann Georg I. Die oben erwähnte große Deckelkanne trägt eine sehr ähnliche Punzierung, die höchstwahrscheinlich vor 1638 eingeschlagen worden sein muss, siehe Anm. 6. 18 Inventar kurfürstliche Gemächer 1683/84, fol. 48 r. 19 Die wichtigen Fragen nach der Verwendung der Goldschmiedearbeiten im Rahmen der fürstlichen Geschenkkultur und der Silberbuffets wurden bereits in einem gesonderten Projektschwerpunkt behandelt und publiziert, Weinhold/Witting 2020. Sie werden daher in diesem Beitrag weitgehend ausgeklammert. 20 Inventar Schatzkammer 1586/87, zur Goldschmiedekunst am Dresdner Hof um 1600 siehe Weinhold 2004/05; Syndram 2021 a, S. 9 f.

Goldschmiedekunst im Grünen Gewölbe | Entwicklungslinien der Sammlung | 21 chen, der Kunst- und Schatzkammer zugeordneten Kunstsammlungen.24 Dies markiert den Anfang der Hofsilberkammer im engeren Sinn, deren reiche Bestände an Speisegeschirr und Trinkgefäßen für den Gebrauch an der kurfürstlichen Tafel in Dresden bestimmt waren, aber auch auf Reisen mitgeführt werden konnten. Benannt nach ihren wertvollsten Objekten, dem Silbergeschirr, das in Notzeiten vermünzt werden konnte, umfasste diese wichtige Institution zudem Zinngefäße, Tischwäsche aus Leinen und später Porzellan.25 Das Inventar der Silberkammer von 1581 bis 1586 erlaubt auf Basis der dort angegebenen exakten Gewichtsangaben erstmals, einzelne Positionen mit im Grünen Gewölbe erhaltenen Objekten zu identifizieren: ein als Taufgarnitur dienendes Lavabo mit Perlmutter (Kat.-Nr. 168), ein Nautiluspokal (Kat.-Nr. 20), zwei Kokosnusspokale (Kat.-Nrn. 54, 55), ein Paar Salzgefäße mit Koralle (Kat.-Nr. 219) sowie recht sicher auch der Natternbaum (Kat.-Nr. 243) und ein Paar Bergkristallleuchter (Kat.-Nr. 244). Bis auf die Leuchter wurden sie alle nach dem Tod Christians II. 1611 durch die Rentkammer aufgelistet und später in die Kunstkammer transferiert, wo sie sich im Inventar von 1640 wiederfinden. Bei einigen Objekten vermerkt das Silberkammerinventar von 1581 bis 1586 einen anderen Standort (»ist in V. gnst. Herren Gemach«26) – das heißt, dass diese vorübergehend zum Gebrauch, vermutlich in das kurfürstliche Schlafgemach, entnommen worden waren. Dasselbe gilt wohl für ein Trinkgefäß in Gestalt eines Fasses, das 1610 in der sogenannten Probierstube (auch Probierhaus oder Goldhaus) verwendet wurde (siehe Kat.-Nr. 88).27 Weitere Silbergefäße befanden sich in der Hofkellerei, einem selbstständigen Bereich der Hofwirtschaft im Erd- und Untergeschoss der Nordostecke des Schlosses, in dem die Weinvorräte sowie gläserne Trinkgefäße aufbewahrt wurden.28 Sie verfügte über eigenes Silber, das sich entweder in den Diensträumen des Kellereipersonals oder direkt im Keller bei den Wein- und Biervorräten befand. Nur ein einziges im vorliegenden Katalog bearbeitetes Objekt lässt sich in einem Verzeichnis der Hofkellerei von 1611 nachweisen (Kat.-Nr. 163). Die Kurfürstlichen Gemächer im Stallhof Kurfürst Christian I. (siehe auch Kat.-Nr. 233), der nach dem Tod seines Vaters 1586 von diesem die Regierungsgeschäfte übernahm, prägte in seiner kurzen Amtszeit bis 1591 insbesondere mit dem Ausbau des Stallhofs und des Neuen Stalls die fürstliche Repräsentation des Dresdner Hofs – ein Projekt, das seine Spuren auch im Bestand der Goldschmiedewerke hinterlassen hat. Der durch einen langen Flügel mit dem Residenzschloss verbundene Komplex, der die Pferdestallungen und die Sammlungen der Rüstkammer aufnahm, umschloss den als Schauplatz für große Reitturniere dienenden Platz.29 Seinen Kern bildeten die Kurfürstlichen Gemächer, die, wie auch der Augsburger Patrizier Philipp Hainhofer in seinen Reiseberichten ausführt, wichtige repräsentative Funktionen erfüllten.30 In ihnen befanden sich zwei als künstliche Bergstufen gestaltete Buffets, auf denen jeweils 20 Silberpokale aufgestellt waren (Abb. 7).31 Aus einer Öffnung an der Schmalseite der beiden künstlichen Berge konnte jeweils auf Schienen ein Reiter herausfahren, der den Gästen ein besonderes Trinkgefäß präsentierte. Wie aus dem Eintrag im Inventar von 1591 hervorgeht, war dies der Kokosnusspokal von Valentin Geitner, der damit eine hervorgehobene Stellung einnahm (Kat.-Nr. 58). Von der ursprünglichen Ausstattung der beiden einzigartigen Schanktische hat sich eine Auswahl von Goldschmiedearbeiten unterschiedlichen Typs im Grünen Gewölbe erhalten: Die beiden prominentesten, als »Willkomm« bezeichneten Trinkgefäße (Kat.- Nrn. 12, 58), vier große Becherpokale (Kat.-Nrn. 10, 11) sowie drei kleine Doppelscheuern (Kat.-Nrn. 15, 16). Auch eine singuläre Henkelflasche, die sich wohl schon längere Zeit in wettinischem Besitz befand, war Teil des Konvoluts (Kat.-Nr. 162). Eine besondere Vorliebe scheint Christian I. für ausgefallene und teils skurrile Trinkgefäße aus exotischen Naturalien gehegt zu haben, denn sein Nachlassinventar listet fünf von Elias Geyer geschaffene Straußeneipokale in Gestalt von Straußen auf. Sie befanden sich in seiner Schreibstube und damit in seinem ganz persönlichen Umfeld (Kat.-Nr. 114). Offensichtlich war er der erste, der das Potenzial des Leipziger Gold21 Dies geht auch aus dem Reisebericht Philipp Hainhofers von 1629 hervor, siehe Döring 1901, S. 195. 22 Residenzschloss Dresden 2019, S. 148, 578, Nr. EG/34-36. 23 Inventar Silberkammer 1543; Inventar Silberkammer um 1581–1586, siehe auch Vötsch 2004, S. 94 f. 24 Arnold 1994 b, S. 22; O’Byrn 1880, S. 50. 25 Siehe zur Hofsilberkammer Arnold 1994 b; O’Byrn 1880. 26 So zum Beispiel ein (nicht mehr erhaltenes) Lavabo, Inventar Silberkammer um 1581– 1586, fol. 1 r. 27 Dieses befand sich in einem durch den »Goldgang« mit dem Westflügel verbundenen Nebengebäude, Residenzschloss Dresden 2019, S. 588 (Grundriss). 28 O’Byrn 1880, S. 153–191. 29 Hoppe-Münzberg 2019. 30 Döring 1901, S. 190 f. 31 Weinhold 2020, S. 65–71; Hoppe-Münzberg 2019, S. 431; Weinhold 2004/05, S. 207; Münzberg 2002. Abb. 6 Alte und neue (aktuell eingesetzte) Kennzeichnung mit weißer Lackfarbe (Kat.‑Nr. 11)

56 | THERESA WITTING | ULRIKE WEINHOLD Außereuropäische Konchylien im Grünen Gewölbe Prozesse der Aneignung in den Werkstätten deutscher Goldschmiede Ezliche Trinckgeschirr darunter von Perlenmutter zubefinden, so von denen Jubilirern höher, als das Silber, den Tax nach, zu achten1 Speziell im deutschen Sprachraum gab es eine große Nachfrage nach Konchylien aus dem Indischen und Pazifischen Ozean, welche ab 1500 im großen Stil nach Europa importiert wurden.2 Sie regten Goldschmiede zu innovativen künstlerischen Leistungen an und fanden in unterschiedlichster Form Eingang vor allem in fürstliche Sammlungen. Insbesondere die sächsischen Kurfürsten besaßen eine spezielle Vorliebe für diese zunächst noch sehr kostspieligen Naturalia, sodass gerade der Bestand des Grünen Gewölbes das ganze Spektrum der daraus gefertigten Kunstwerke gut vor Augen führen kann. Ihre Betrachtung gibt Aufschluss über die konkreten Formen der Rezeption der außereuropäischen Naturalien, die nicht nur in ihrer natürlichen, sondern auch in künstlerisch bearbeiteter Form auf dem Markt waren. Wie fanden diese aus europäischer Sicht fremdartigen Objekte Eingang in die tradierten künstlerischen Konzepte sowie das eigene Formenvokabular, und inwieweit erfolgte auch ein Technologietransfer? Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Rolle diese Objekte im Sammlungsgefüge der Kunstkammer spielten. Was sagt die Adaption außereuropäischer Naturalien und Kunstwerke über den Blick auf das »Fremde« aus? 1 HStADD, 10024 Geheimer Rat, Loc. 10000/4 Reise der fürstlich pommerschen Witwe [Sophia, Witwe Herzog Franz’ von PommernStettin] von Dresden nach Pommern, 1626 (Nachlass Erdmuthe von Pommern, 1626), fol. 5 r. 2 Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen leicht überarbeiteten Text, der im Katalog der Ausstellung Miroir du monde. Chefs-d’œuvre du Cabinet d’art de Dresde bereits in französischer Sprache publiziert wurde; Witting/Weinhold 2022/23, S. 96–107.

| 57 Handelswege Als die Europäer begannen, sich ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts am Fernhandel zu beteiligen, trafen sie auf ein funktionierendes transkulturelles Beziehungsgeflecht der beteiligten Akteure.3 Sie fanden Wege, sich in die gegenseitigen Abhängigkeiten zu integrieren und die begehrten Handelsgüter aus dem ostasiatischen Raum nach Europa zu verschiffen. Portugal als früheste Seefahrernation erschloss neue Handelswege, etwa über das Kap der Guten Hoffnung, und verkaufte Handelsrechte unter anderem an Augsburger und Nürnberger Handelskonsortien, welche zeitweise auch Faktoreien, so in Lissabon oder in dem an der Westküste Indiens gelegenen Goa, unterhielten.4 Im Gegenzug gewährten die deutschen Handelshäuser den Portugiesen Kredit und versorgten sie mit Bronze- und Messingwaren, welche diese für ihre Unternehmungen in Westafrika und Indien benötigten.5 Die Konchylien waren in den Frachtlisten der Schiffe nicht extra verzeichnet und fungierten als Beiladung zu den ökonomisch wichtigeren Handelsgütern wie Gewürzen (allen voran Pfeffer, Zimt, Nelken, Muskat),6 Seidenstoffen, Edelsteinen und Porzellan, das in großen Mengen importiert wurde.7 Ein wichtiger Umschlagplatz für die begehrten Luxusgüter aus Übersee war die Goldschmiedemetropole und Handelsstadt Nürnberg. So verwundert es nicht, dass sich einige der dort ansässigen Meister, wie etwa Niclaus Schmidt, Wenzel Jamnitzer, Friedrich Hillebrandt oder Hans Pezolt, auf die Verarbeitung von Konchylien verlegten.8 Angehörige bedeutender Handelshäuser, wie das der Fugger in Augsburg, betätigten sich als Kunstagenten und -berater und vermittelten diese (un-)gefassten Naturalien an spezialisierte Händler oder auch direkt an interessierte Sammler und Sammlerinnen.9 Die sächsische Herrscherfamilie erwarb derartige Stücke indes seltener über die süddeutschen Handelshäuser, sondern auf der drei Mal jährlich stattfindenden Leipziger Messe sowie über spezialisierte Händler. Der erste namentlich überlieferte Kunstagent war Hieronymus Kramer. Er wurde bereits 1575 von Kurfürst August unter anderem mit dem Ankauf fernöstlicher Pretiosen beauftragt und war zu diesem Zweck nach Lissabon gereist.10 Von den über Kramer nach Dresden gelangten Werken sind heute noch eine Seychellennusskanne (Kat.-Nr. 186) sowie eine Doppelscheuer mit Perlmutter nachweisbar (Kat.-Nr. 17). Ein weiterer Händler mit Hauptaugenmerk auf dem Vertrieb von Konchylienobjekten war Veit Böttiger (auch Bötticher oder Böttger), der seine Waren auf den Leipziger Messen anbot. Sein Name taucht zwischen 1585 und 1610 in Rechnungen und Inventaren immer wieder im Zusammenhang mit bestimmten Geschenkanlässen auf. Zu seinen ersten Verkäufen zählen »zwey tutzent loffel von mehrschnecken gar schon sprengklicht«,11 welche 3 Gut exemplifiziert anhand des Juwelenhandels: vgl. Siebenhüner 2011 und Teles e Cunha 2001. 4 Sangl 2000, S. 271; Mathew 1997, S. 7–17. 5 Westermann 2001, S. 40. 6 Sangl 2001, S. 269; Mette 1995, S. 36. 7 Haug 2021, S. 291, Anm. 8. Eine gute Einführung zu den globalen Verflechtungen von Luxusgütern, allerdings ohne Nennung von Konchylien, geben Gerritsen/Riello 2016. 8 Direkte Quellen dazu, wie die jeweiligen Goldschmiede an die Konchylien gelangten, sind nicht überliefert. Eine Ausnahme bildet ein an den Goldschmied Hans Pezolt adressierter Brief, der die Nachfrage des Zulieferers enthält, ob dieser »den schneckhen ohne schaden empfangen habe«, vgl. Nürnberg 2017, S. 231, Nr. 139. 9 Haug 2021, S. 230; Häberlein 2016, S. 161–163. 10 HStADD, 10036 Finanzarchiv, Loc. 33342, Rep. 52, Gen. 1925 (Bestallungen 1576–1581), fol. 503 r – 504 r. Kramer versorgte das sächsische Herrscherhaus auch mit diversen Kleinoden; vgl. Nagel 2009, passim. 11 Gurlitt 1886/87, S. 19. Abb. 1 Drei Löffel aus einer Garnitur von ehemals 24 Stück vor 1585 Tigerschneckengehäuse, Silber, vergoldet, L 13,6–14,1 cm SKD, Grünes Gewölbe, Inv.-Nrn. III 31 q/9, III 31 q/15 und III 31 q/19

58 | Theresa Witting | Ulrike Weinhold in einem Perlmutterkästchen mit Silbermontierung geliefert wurden.12 22 dieser aus Tigerporzellanschnecken geschnittenen Löffel haben sich erhalten (Abb. 1). Der Leipziger Meister Elias Geyer, von dem das Grüne Gewölbe eine große Anzahl an Goldschmiedearbeiten mit Turbanschnecken und Nautili besitzt, hat seine Werke wohl größtenteils über Veit Böttiger vertrieben, wie sich aus erhaltenen Rechnungen rekonstruieren lässt. Eine dieser Rechnungen von 1602 führt schließlich ein größeres Konvolut von Perlmutterarbeiten auf, das neben zwei Lavabos (Kat.-Nrn. 169, 170) ebenso ein Perlmutterspieltisch (Abb. 2),13 drei Kästchen (Abb. 3 und Abb. 2, S. 803) und fünf Trinkgeschirre (Kat.- Nrn. 102–105) umfasst.14 Der Augsburger Patrizier und Kunsthändler Philipp Hainhofer weist in seinem Bericht über seinen Besuch in der Dresdner Kunstkammer ausdrücklich auf diesen spektakulären Ankauf hin.15 Zuweilen kauften die sächsischen Kurfürsten allerdings auch bei anderen Händlern ein. So etwa bei dem in München und Nürnberg tätigen Goldschmied und Edelsteinschneider Joachim Geißler, der 1589 ein Lavabo mit Perlmutter lieferte.16 Künstlerische Rezeption Bereits im ersten, 1587 verfassten Inventar der Dresdner Kunstkammer widmet sich ein Kapitel den »meerschnecken, muscheln und andern seltzamen gewechsen und thieren«.17 Die Gruppe ist klein, umfasst aber ausgewählte Beispiele unterschiedlicher Konchylienarten, teils versehen mit heute nur schwer verständlichen Herkunftsangaben wie »vom hohen meer« oder aus »dem gesalzenen see bey dem meer«. Das Inventar von 1640 zeigt, dass sich dieser Bestand an Naturalia nicht nur deutlich vergrößert hat, sondern nun auch durch ein umfangreiches und vielgestaltiges Konvolut künstlerisch verarbeiteter und mit Montierungen aus Edelmetall versehener Konchylien erweitert wurde. Die größte Gruppe bilden hier die Nautiluspokale, bei denen die Gehäuse der Kopffüßer (Nautilus pompilius) mithilfe teils aufwendiger Goldschmiedefassungen zu prunkvollen Gefäßen verarbeitet wurden.18 Abb. 2 Perlmutterspieltisch Gujarat, spätes 16. Jh. mit europäischen Überarbeitungen Holz, Perlmutter, Silber, Elfenbein, H 81 cm, B 256 cm, T 94 cm SKD, Kunstgewerbemuseum, Inv.-Nr. 47716 12 Die eindeutige Identifizierung dieses Kästchens ist nicht mehr möglich. 13 Nagel/Syndram/Winzeler 2023, S. 66. 14 Weber 2012, S. 253 (mit Angaben zur Quelle). 15 Doering 1901, S. 171. 16 Dieses hat sich leider nicht erhalten. Vgl. Art. Joachim Geißler (Susanna Partsch), in: AKL, Bd. LI, 1994, S. 135; Art. Joachim Geißler, in: Nürnberger Künstlerlexikon 2007, Bd. I, S. 458. 17 Inventar Kunstkammer 1587, fol. 76 r – 77 r. 18 Syndram 1991, S. 63–67; Mette 1995 und auch Wagner 2023 (hier Schwerpunkt auf die Inszenierung des Nautilus im Museum des 20. und 21. Jahrhunderts als Metapher für die Kunstkammer). Sehr oft werden die im östlichen Indischen und westlichen Pazifischen Ozean beheimateten Nautili mit den zur Gattung der Meerschnecken gehörigen Turbanschnecken verwechselt, deren asymmetrisch gedrehtes Gehäuse wesentlich dicker und nicht in Kammern unterteilt ist. Einen guten Überblick gibt die von Marsely Kehoe betriebene, frei zugängliche digitale Datenbank, die insgesamt 366 gefasste und ungefasste Nautilusgehäuse auflistet (die Datenbank wird laut der Betreiberin kontinuierlich ergänzt): www.marselykehoe.org/nautilus/about (aufgerufen am 12. 1. 2023).

��������������������������������������������� | 59 Die als logarithmische Spirale gewundenen Gehäuse der Nautili als mathematisch erfassbares Prinzip der göttlichen Schöpfung regten die Goldschmiede zur Beschäftigung mit praktischer Geometrie an. Es ist sicherlich kein Zufall, dass zeitgleich zum Hauptaufkommen von Nautilusgefäßen um 1600 auch die Entdeckung der Logarithmen in der Mathematik gelang.19 Im Rahmen der frühneuzeitlichen Naturbetrachtung und -erforschung war man bestrebt, den Kosmos mit seinen zugrunde liegenden Strukturen abzubilden.20 Dies geschah unter anderem ganz praktisch durch die Darstellung von der Natur inhärenten geometrischen Grundformen und spiegelt sich zudem in den zeitgenössischen Perspektivtraktaten, welche durchaus teilweise von Goldschmieden verfasst wurden.21 Auch die sich auf den manieristischen Silberarbeiten oft tummelnden kleinen Tiere in Form von Naturabgüssen stehen für die Bemühungen der Meister, die Natur in einem schöpferischen Prozess zu erkunden und sich dabei zugleich als Schöpfer zu generieren (Abb. 4).22 Für diese spezielle Gusstechnik maßgeblich waren die damals für ihre Leistungsfähigkeit und den hohen Qualitätsstandard berühmten Nürnberger Werkstätten. Doch in Augsburg und anderen Städten versuchte man ebenfalls, auf die in den Jahrzehnten um 1600 deutlich gestiegene Nachfrage nach derartigen Kunstkammerstücken zu reagieren.23 Nur selten verwendeten die Goldschmiede die Nautilusgehäuse in ihrem getigerten Naturzustand (siehe Kat.-Nr. 157); zumeist bevorzugten sie das Material in seiner veredelten Erscheinungsform mit der durch Abbeizen sichtbar gemachten, polierten Perlmutterschicht. Daneben kamen Gehäuse zum Einsatz, deren Oberflächen mit ornamentalen und figürlichen Darstellungen versehen waren. Das Formenrepertoire dieser in Flachreliefs und Blindgravur ausgeführten Dekore umfasst vor allem Kraniche, Fische Abb. 3 Kästchen Gujarat (Perlmutterarbeit), Niclaus Schmidt, Nürnberg, um 1592–1594 Holz, Perlmutter, Silber, vergoldet, H 17 cm, B 27,5 cm, T 17,5 cm SKD, Grünes Gewölbe, Inv.-Nr. III 55 19 Mette 1995, S. 44–57. 20 Smith 2004, S. 80. 21 Haug 2021, S. 277. 22 Zusammenfassend zu den Naturabgüssen auf Goldschmiedearbeiten vgl. Witting 2018, S. 100–105. 23 Nautilusgefäße gab es in Europa bereits im Mittelalter. Vgl. Rasmussen 1983; zum mittelalterlichen Handel mit Perlen vor allem über Venedig vgl. Büttner 2000, S. 21 f.

68 | Im Silberbestand des Grünen Gewölbes nehmen die insgesamt 210 Trinkgeschirre breiten Raum ein. Eine Vielzahl unterschiedlichster Gefäßtypen führt fast die gesamte Bandbreite dieser Objektgruppe vor Augen, die das eindrucksvolle Herzstück des Bestands bildet. In formaler wie auch materieller Hinsicht vielseitig gibt sich das Konvolut der insgesamt 105 Pokale. Neben den Buckel-, Renaissance- und Doppelpokalen umfasst es solche mit Kokosnuss, Rhinozeroshorn, Koralle, Straußeneiern sowie Pokale mit einer Kuppa aus Bergkristall, Nephrit oder Jaspis. Den mit Abstand größten Posten bilden allerdings die 27 Nautiluspokale, gefolgt von den zwölf Pokalen mit anderen Konchylien. Diese exotischen Naturalien herrschen auch in der ebenfalls umfangreichen, 57-teiligen Gruppe der figürlichen Trinkgeschirre vor. Hier sind neben den weit verbreiteten Typen wie Schiffs-, Jungfrauen- und Globuspokale sowie tiergestaltigen Gefäßen ebenso originelle Einzelstücke zu nennen, wie etwa der Pokal in Gestalt eines Schlösschens (Kat.- Nr. 87), der Ziehbrunnen (Kat.-Nr. 86) oder der Mörser (Kat.-Nr. 89). Waren diese Objekte tatsächlich für den Gebrauch bestimmt, oder dienten sie ausschließlich als pretiöse Sammlungsstücke bzw. der fürstlichen Repräsentation? Die Frage ist nicht pauschal zu beantworten. Prinzipiell lässt sich belegen, dass solche Prunkstücke durchaus gelegentlich als Trinkgefäße benutzt wurden.1 In den Quellen findet sich dazu so mancher Hinweis. Ein 1584 datierter Briefwechsel zwischen dem Landgrafen Wilhelm IV. von Hessen-Kassel und dem Nürnberger Goldschmied und Agenten Wolf I Mayer gibt Auskunft darüber, wie und wo ein Trinkgeschirr in Gestalt eines Hirsches zu öffnen sei. Der Auftraggeber formulierte seine speziellen Vorstellungen in einem Schreiben, das sich vermutlich auf eine beigefügte Visierung bezog: »Wo man denn Hirsch uffthuenn Undt einschenckenn soll, weist das schwartze strichleinn Am Halse aus, Welches du Inn Acht zunehmenn. Das thuenn Wir Unns Also Versehenn.«2 Dieses Zitat legt beredtes Zeugnis ab, dass dieses tiergestaltige Gefäß tatsächlich für die Benutzung vorgesehen war. Werden die Trinkgeschirre in den Inventaren oder anderen Quellen explizit als Willkommpokale bezeichnet, so ist prinzipiell von einer zumindest phasenweisen Nutzung THERESA WITTING | ULRIKE WEINHOLD Exklusive Trinkgefäße Zwischen Tafelfreuden und Schatzkunst

| 69 auszugehen, waren diese Gefäße doch dafür gedacht, Gästen den Begrüßungstrunk zu reichen. Am Dresdner Hof ist eine solche Funktion in einigen Fällen nachgewiesen (vgl. etwa Kat.-Nrn. 12, 13, 58, 85, 111). Derartige Goldschmiedearbeiten wurden nicht nur in der Schatzkammer, sondern auch in der Silberkammer verwahrt, was auf ihren multifunktionalen Charakter hindeutet (siehe etwa Kat.-Nrn. 96, 112). Es liegt nahe, dass deren spezielle Beschaffenheit hierbei eine entscheidende Rolle gespielt hat: Besonders kostbare und fragile Stücke dürften nicht oder nur in Ausnahmefällen als Trinkgeschirr zum Einsatz gekommen sein – nur so erklärt es sich, dass sie zumeist kaum Gebrauchsspuren aufweisen. Silbervergoldete Trink- und Scherzgefäße warteten im Gebrauch oft mit überraschenden Effekten auf, die den Trinker oder die Trinkerin vor unvorhergesehene Herausforderungen stellten.3 So war es bei Gefäßen in Gestalt von Vögeln mit beweglichen Flügeln sehr wahrscheinlich, dass diese dem Trinkenden ins Gesicht schlugen und so in geselliger Runde für Belustigung gesorgt haben dürften (siehe etwa Kat.-Nrn. 116, 125).4 Ganz andere Schwierigkeiten verbanden sich mit den Jungfrauenbechern, die bei Vermählungen zum Einsatz kamen (siehe Kat.-Nrn. 96, 97). Diese in der Form einer weiblichen Figur Abb. 1 Gruppe der Trinkgefäße in Gestalt von Straußen (Kat.-Nr. 114) 1 Tebbe 2007, S. 163. 2 Zit. nach Drach 1888, S. 18. 3 Siehe dazu Scherner 2011/12 und Scherner 2016. Die Erprobungen am Objekt wurden mit Ethanolwasser durchgeführt, siehe Scherner 2015. 4 Lessing 1888, S. 444.

70 | Theresa Witting | Ulrike Weinhold gestalteten Geschirre bestanden aus dem Rock, der als großer Sturzbecher fungierte (und damit nur leer abgestellt werden konnte), und der kleinen, beweglich gelagerten Kuppa, welche die Figur in ihren Händen hält. Die beiden Protagonisten hatten ihr Trinkverhalten so zu koordinieren, dass der Bräutigam das große und die Braut das kleine Gefäß gleichzeitig leerten, ohne etwas zu verschütten.5 Ein spezifisches und eher selten anzutreffendes Merkmal der beiden Dresdner Jungfrauenbecher sind ihre aus Turbanschnecken gebildeten kleinen Kuppen. Dies verbindet sie mit weiteren Prunkgefäßen, oft auch in Gestalt von Tieren, deren Körper von einer Seeschnecke, einem Nautilus oder einem Straußenei gebildet werden. Bei diesen fragilen Trinkgeschirren mit außereuropäischen Naturalien ist die Sachlage deutlich komplexer. Deren empfindliche Ränder wurden mit einer silbervergoldeten Montierung eingefasst, um praktisch nutzbare Gefäße herzustellen. Allerdings war aufgrund der Materialkombination vermutlich nicht immer eine ausreichende Dichtigkeit an den Verbundstellen zwischen den organischen Teilen und der Goldschmiedefassung gegeben. Besonders gut zeigt sich dies an den Trinkgefäßen in Gestalt von Straußen, deren Körper jeweils aus einem Straußenei bestehen (Abb. 1 und Kat.-Nr. 114). Dies legt nahe, dass diese skurrilen Goldschmiedewerke keine praktische Funktion erfüllten, sondern in der Kunstkammer, wo sie über lange Zeit hinweg aufbewahrt wurden, vor allem für den Einfallsreichtum des Goldschmieds standen und repräsentativen Zwecken dienten. Abb. 2 Goldener Hahn von Münster Georg Rühl, Nürnberg, vor 1621 Silber, vergoldet, Farbsteine, H 41,5 cm Münster, Stadtmuseum

������������������������������������������������������������� | 71 Durch die Fragilität der exotischen Naturalien waren dem praktischen Gebrauch enge Grenzen gesetzt, und nur mit entsprechenden technischen Hilfskonstruktionen konnten die Voraussetzungen für die Funktionstüchtigkeit geschaffen werden. Eine gängige Methode war die Auskleidung der Gefäße mit abdichtendem Material, wie etwa in den Einträgen zu manchen Kokosnusspokalen im Kunstkammerinventar von 1640 nachzulesen ist. Hier ist von »inwendig gepicht«6 (Kat.-Nr. 55) oder »inwendig gebicht«7 die Rede. Der prunkvolle Kokosnusspokal von Valentin Geitner (Kat.-Nr. 58) weist innen noch Reste einer dunklen Kittmasse auf,8 denn aus ihm wurde in seiner Funktion als Willkomm des Neuen Stalls nachweislich der Begrüßungstrunk genommen. Auch die Verwendung von Einsatzbechern ist in manchen Fällen überliefert (siehe Kat.-Nr. 61 und Abb. 2, S. 494). Es muss also immer am Objekt selbst untersucht werden, ob ein Trank aus einer Nautilus-, Seeschnecken-, Kokosnuss- oder Straußeneikuppa überhaupt möglich ist, also entsprechende technologische Voraussetzungen durch den Goldschmied geschaffen wurden. In einigen Fällen geben entsprechende Quellen Aufschluss. So etwa hat sich der sogenannte Drachenpokal in Schwerin mit einer Kuppa aus einer Turbanschnecke zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Verwahrung des Mundschenks befunden, was eine – zumindest gelegentliche – Benutzung nahelegt.9 Das prominente Beispiel des Goldenen Hahns von Münster führt die praktischen Probleme vor Augen, die entstehen, wenn eine so empfindliche Naturalie einem wiederholten Gebrauch ausgesetzt wird (Abb. 2).10 Dieses Nürnberger Trinkgefäß wurde 1621 angekauft und später im Rathaus zu Münster als Willkomm genutzt, wo es bis heute in Verwendung ist. Das ursprünglich eingesetzte Nautilusgehäuse ist durch den Gebrauch wohl zerbrochen und durch eine Nautiluskuppa aus Metall ersetzt worden. Dieses Surrogat hat zwar die Form des Molluskengehäuses, besteht aber aus stabilem und strapazierfähigerem Silber. Die unterschiedlichen, aus fernen Ländern stammenden Naturalien waren durch ihre Exklusivität und ihre Provenienz schon per se mit Bedeutung und Wirkmacht aufgeladen. Wenn auch nicht mehr in dem Maße, wie es etwa bei mittelalterlichen Schatzkammergefäßen der Fall ist, findet man in den frühneuzeitlichen Inventaren doch noch so manchen Hinweis auf die Heilkraft der eingesetzten Materialien. Das zeigen etwa ein Astbecher im Grünen Gewölbe, der im Inventar der Kunstkammer von 1640 beschrieben wird als »1 Trinckgeschirr von einen knörrichten stamme, welcher in sonderbahrer constellation gefellet worden und zu unterschiedenen Kranckheiten dienlich sein soll«11 (Abb. 2, S. 641), oder die als sogenannte Giftprobe dienende Fußschale (Kat.-Nr. 155). Die Funktion exklusiver Willkommpokale am Dresdner Hof war einem beständigen Wandel unterworfen. Die einzelnen Kurfürsten setzten ihre jeweils eigenen Schwerpunkte, sodass die Goldschmiedewerke über die Jahrhunderte in unterschiedlichen Schlössern zum Einsatz kamen. Ursprünglich in Auftrag gegeben für eine ganz bestimmte Lokalität, auf welche die jeweiligen Objekte direkt oder indirekt Bezug nehmen, war es üblich, dass sie von den Nachfolgern an andere, von ihnen individuell präferierte Schlösser verbracht wurden (siehe S. 24–28). Auch Prozesse der Aneignung sind in diesem Zuge zu beobachten, wie etwa das Trinkspiel des heiligen Georgs vor Augen führt, dessen Wappen später angepasst wurde (Kat.-Nr. 107). Beginnend im 18., spätestens aber im 19. Jahrhundert verloren diese Trinkgeschirre dann zumeist ihre Funktion als Willkomm. Sie wurden in die Kunstkammer, die Rüstkammer oder das Grüne Gewölbe transferiert und avancierten zu Museumsstücken, welche die Geschichte des Fürstenhauses illustrieren und vor allem Memorialfunktionen erfüllen. Als prominentes Beispiel einer solchen Wandlung kann der Pokal in Gestalt eines Schlösschens dienen, der von der Festung Sonnenstein auf den Königstein gelangte und von dort über Stationen in der Kunstkammer und Rüstkammer schließlich in die Sammlung des Grünen Gewölbes transferiert wurde (Kat.-Nr. 87). 5 Witting 2021. 6 Inventar Kunstkammer 1640, fol. 136 r. 7 Ebd., fol. 137 r. 8 Auch bei Schenkgefäßen sind derartige Kittmassen nachweisbar, so etwa bei der Dresdner Seeschneckenkanne (Kat.-Nr. 193). Restaurierungsberichte, Michael Wagner, Oktober 2027, und Lea Eulitz, August 2022 (AGG). 9 Schwerin 2013, S. 248–251, Nr. 165. 10 Siehe Mette 1995, S. 146 f., 192, Nr. 31. 11 Inventar Kunstkammer 1640, fol. 137 v.

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