KURFÜRST JOHANN GEORG I. UND DER DREISSIGJÄHRIGE KRIEG IN SACHSEN Andreas Rutz, Joachim Schneider, Marius Winzeler (Hg.)
Spurensuche. Geschichte und Kultur Sachsens Sonderband 2 Andreas Rutz, Joachim Schneider, Marius Winzeler (Hg.) KURFÜRST JOHANN GEORG I. UND DER DREISSIGJÄHRIGE KRIEG IN SACHSEN Sandstein Verlag
1 2 3 Inhalt 7 Vorwort EINFÜHRUNG Andreas Rutz 10 Das große Welttheater vor Ort Regionale Perspektiven auf den Dreißigjährigen Krieg Gernot Klatte 26 Johann Georg I. von Sachsen im Bild Ein Überblick DER KURFÜRST IN SEINEM UMFELD: PERSONEN – MÄCHTE – INSTITUTIONEN Andrei Prokopiev 36 Johann Georg I., sein Hof und die sächsischen Adelseliten zwischen Krieg und Frieden Armin Kohnle 52 Religion und Politik bei Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen während des Dreißigjährigen Krieges Ute Essegern 64 Familie, Konfession und Politik in den Briefen der sächsischen Kurfürstin Magdalena Sibylla von Preußen an ihren Ehemann Johann Georg I. Joachim Schneider 74 Fürstenkorrespondenz in Kriegszeiten zwischen Vater und Sohn Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen und sein Sohn Johann Georg II. Kateřina Pražáková 86 Zeitungen und Berichte über den Böhmischen Aufstand Das Nachrichtennetzwerk Kurfürst Johann Georgs I. und seiner Räte Wolfgang Flügel 94 Kurfürst Johann Georg I. im Urteil kursächsischer Hofprediger und Pastoren Josef Matzerath 110 Krieg, Schulden und Konsequenzen Der Wandel des polititschen Feldes in Kursachsen 1611–1656 Fabian Schulze 118 Die Bedeutung des Obersächsischen Reichskreises für die kursächsische Kriegsfinanzierung im Dreißigjährigen Krieg Lena Oetzel 132 Johann Georg I. von Sachsen, seine diplomatischen Vertreter und der Westfälische Friedenskongress Ein Spannungsverhältnis Astrid Ackermann · Dorothée Goetze Michael Rohrschneider · Andreas Rutz Tomáš Sterneck · Siegrid Westphal 146 Kursachsen und Europa im Dreißigjährigen Krieg Jochen Vötsch 162 Itinerar des Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen HÖFISCHE REPRÄSENTATION ZUR ZEIT KURFÜRST JOHANN GEORGS I. Dirk Syndram 182 Johann Georg I. und die kursächsische Kunstkammer Der bewahrende Revolutionär Ariane Koller 196 Herrschaft vermessen Kunst und Kartographie am Hof Kurfürst Johann Georgs I. von Sachsen
4 5 Christine Nagel 212 Wie es dann auch eine schöne Leiche gewesen Schmuck und Kleidung auf den Totenbildern des Kurfürstenpaares Johann Georg I. und Magdalena Sibylla von Sachsen Uta Dorothea Sauer 228 Musik und Theater am Hofe Johann Georgs I. Oper, Ballet de cour und Singspiel als ›kursächsische Friedensbotschaften‹ im Dreißigjährigen Krieg Marius Winzeler 238 Der Kurfürst als Bauherr Johann Georg I. und die Architektur seiner Zeit in Sachsen Gernot Klatte 260 Christian Schieblings Zeichnung des Kurfürsten Johann Georg I. im Kreis seiner Familie (Apotheose Johann Georgs I.) Eine Vorlage für eine Wandmalerei im Riesensaal? Holger Schuckelt 268 Die Belagerung Bautzens 1620 Harnische und Porträts des Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen Kai Wenzel 286 Der Sieger von Bautzen Drei Bildnisse Kurfürst Johann Georgs I. von Sachsen KRIEGSALLTAG, KRIEGSERFAHRUNGEN UND KRIEGSFOLGEN Alexander Schunka 298 Zuflucht Sachsen Böhmisch-sächsische Migrationen im Umfeld Kurfürst Johann Georgs I. Alexander Zirr 312 Söldner vor und in der Stadt Die Erfahrung der Bevölkerung kursächsischer Städte mit dem Militärischen während des Dreißigjährigen Krieges Christian Landrock 330 Johann Georg I. als verhinderter Konservator Das Moderationspatent von 1649 als Mittel der Wiederaufbaupolitik des kurfürstlichen Hofes nach dem Dreißigjährigen Krieg am Beispiel der Stadt Zwickau RESÜMEE UND PERSPEKTIVEN Michael Kaiser 342 Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen Eine Standortbestimmung Claudia Brink und Susanne Jaeger 360 Bellum & Artes 2021–2027 Ein internationales Ausstellungs- und Forschungsprojekt zur Rolle der Künste im Dreißigjährigen Krieg ANHANG 3 69 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 370 Ortsregister 373 Personenregister 375 Bildlegenden 376 Impressum
Andreas Rutz Regionale Perspektiven auf den Dreißigjährigen Krieg DAS GROSSE WELTTHEATER VOR ORT
11 Der Dreißigjährige Krieg war ein europäisches Ereignis, er hatte sogar – wie man jüngeren globalgeschichtlichen Arbeiten entnehmen kann – weltweite Konsequenzen.1 Und nicht zuletzt war er ein Ereignis, das das Heilige Römische Reich und seine Territorien in politischer, verfassungsrechtlicher, konfessioneller, ökonomischer und sozialer Hinsicht und seine Bewohner vor Ort in ihrem alltäglichen Leben betraf, forderte und veränderte. Diese Ebenen – Europa, Reich, Territorien, Stadt und Land – sind eng miteinander verknüpft, die eine lässt sich nicht ohne die andere denken und verstehen. Zugleich ist der Ereigniszusammenhang ›Dreißigjähriger Krieg‹ so vielschichtig und komplex, dass eine Integration der verschiedenen Ebenen in historiographischer Hinsicht schwerfällt. Dies zeigen die Überblickswerke zum Thema, die in jüngerer Zeit im Umfeld des 400-jährigen ›Jubiläums‹ des Kriegsausbruchs 2018 erschienen sind und deren Autoren sich – sicherlich jeweils aus guten Gründen – für bestimmte Schwerpunkte und Perspektiven entschieden haben:2 Peter Wilson und Georg Schmidt fokussieren auf das Reich, die Reichsverfassung und – vor allem letzterer – auf die ›teutsche‹ Libertät,3 Herfried Münkler sucht nach Lehren aus dem Trauma des Dreißigjährigen Krieges für die Konflikte der Gegenwart,4 Hans Medick erarbeitet die Geschichte des Krieges ganz aus der Perspektive der Gewalterfahrungen der Bevölkerung5 und Johannes Burkhardt sucht im Krieg nicht nach dem Krieg, sondern nach dem Frieden.6 Ein wieder anderes Konzept verfolgen dagegen Olaf Asbach und Peter Schröder, die mit ihrem ›Ashgate Research Companion to the Thirty Years’ War‹ die vielfältigen Perspektiven ohne narrative Klammer in Einzelbeiträgen zusammenbinden, wobei insbesondere auch die verschiedenen Länder Europas zu ihrem Recht kommen.7 Eine umfassende europäische Geschichte des Dreißigjährigen Krieges aus einer Hand fehlt jedoch, soweit ich sehe. Sie findet sich am ehesten in dem in jüngerer Zeit in zweiter Auflage erschienenen Studienbuch von Christoph Kampmann.8 Unser Sammelband, der die Ergebnisse der Tagung ›Kurfürst Johann Georg I. und der Dreißigjährige Krieg in Sachsen‹ am 12. und 13. November 2020 in Dresden sowie des nachfolgenden Workshops zur Ausstellung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ›Bellum et Artes‹9 am 3. und 4. September 2021 präsentiert, geht einen völlig anderen Weg.10 Im Gegensatz zu den genannten ›Meistererzählungen‹ wird die Zeit des Dreißigjährigen Krieges in regionaler Perspektive mit Blick auf ein einzelnes Territorium, nämlich Kursachsen behandelt. Ziel ist es, mit dieser Beschränkung auf einen Reichsstand den Krieg in seiner ganzen Komplexität analysieren zu können – insbesondere mit Blick auf die kursächsischen Akteure, die europäischen Dimensionen der sächsischen Politik, die höfische Repräsentation in Zeiten des Krieges und schließlich den Kriegsalltag und die Folgen. Landesgeschichte und Dreißigjähriger Krieg Forschungen zum Dreißigjährigen Krieg haben, so hat es Michael Kaiser vor einiger Zeit formuliert, »von jeher eine starke landesgeschichtliche Verwurzelung gehabt – kein Wunder, haben doch regionale Überlieferungen ihre spezifische Sicht auf die Ereignisse dieser Zeit geboten und damit oft auch eine eigene historische Tradition begründet.«11 So richtig diese Einschätzung mit Blick auf die Quellenlage ist, muss doch hinsichtlich der Forschungserträge stark differenziert werden. Zwar gibt es im gesamten deutschsprachigen Raum Darstellungen zum Dreißigjährigen Krieg auf landes-, stadt- oder ortsgeschichtlicher Ebene. Aber nicht immer konturieren diese Arbeiten die Rolle des betreffenden Territoriums, seines Fürsten und der Führungselite im großen Kriegstheater genauer und sind anschlussfähig an den Diskussionsstand der allgemeinen historischen Forschung. Vielmehr verfolgen sie nicht selten Detailfragen oder setzen sich mit einzelnen – sicherlich lohnenden – Quellenfunden auseinander. Je tiefer man in die diesbezügliche ›Vor-Ort-Literatur‹ einsteigt, desto konkreter respektive positivistischer wird es in der Regel. Von einer regionalspezifischen Forschungstradition zum Dreißigjährigen Krieg auf der Höhe des historiographischen Diskurses lässt sich sicherlich für die Kurpfalz,12 Bayern13 sowie das habsburgische Österreich14 – als wichtigste Kriegsparteien im Reich – und natürlich für Böhmen15 sprechen. Ob diese Arbeiten aus einem landes- oder einem allgemeinhistorischen Arbeitskontext resultieren, spielt dabei letztlich keine Rolle. Substanzielle Studien liegen darüber hinaus für den Südwesten des Reiches,16 Brandenburg17 und Hessen18 vor. Auch für die ein oder andere Reichsstadt wurden grundlegende Analysen vorgelegt.19 In jüngerer Zeit stärker in den Fokus gerückt sind zudem der Westen des Reiches,20 Norddeutschland21 und nicht zuletzt der mitteldeutsche Raum mit den Anhalter Territorien und den wettinischen Herzogtümern.22 Hinzuweisen ist zudem auf jüngere Bestrebungen, auch die Friedensbemühungen und -kongresse der Zeit in dezidiert landesgeschichtlicher Perspektive zu diskutieren und damit auch die kleineren fürstlichen Akteure in den Blick zu bekommen.23 Sachsen im Dreißigjährigen Krieg Für das Kurfürstentum Sachsen ist mit Blick auf den Forschungsstand eine gemischte Bilanz zu ziehen: Sachsen und sein Kurfürst sind sicherlich keine Unbekannten im großen Kriegsgeschehen, ihre Rolle in einzelnen Phasen zu wichtig, der Kriegsschauplatz – man denke an Breitenfeld (17. September 1631)24 und Lützen (16. November 1632)25 – zu prominent, als dass der Kurstaat in der Spezialforschung, aber auch in den großen Synthesen zum Dreißigjährigen Krieg ignoriert werden könnte.
12 Einführung Allerdings kann kaum von einem befriedigenden, substanziellen Forschungsstand gesprochen werden. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat sich die Forschung in der üblichen positivistischen Manier dem ein oder anderen Detail zugewandt, was aufgrund der damit einhergehenden Archivstudien auch für die heutige Forschung durchaus noch von Nutzen sein kann.26 Ein breiteres Interesse an dieser Phase der sächsischen Geschichte, das mit Blick auf die Zugänglichkeit der vorhandenen Archivalien insbesondere in Dresden natürlich aus der Region selbst hätte kommen müssen, hat es danach bis in die 1990er Jahre praktisch nicht gegeben.27 Eine Ausnahme bilden nur die ungedruckte Leipziger Dissertation von Hans-Joachim Schreckenbach von 1952 zu Kursachsen auf dem Westfälischen Friedenskongress28 sowie die ebenfalls nur im Manuskript vorliegende Dissertation von Ursula Starke von 1957 zu den Landständen, die freilich in Göttingen entstanden ist, aber von einer gebürtigen Chemnitzerin verfasst wurde, was möglicherweise das Interesse erklärt.29 In jedem Fall nutzen beide Arbeiten die Dresdner Bestände. Die bahnbrechenden Neuansätze zur Erforschung von Dreißigjährigem Krieg und Westfälischem Frieden seit den späten 1950er Jahren in der Bundesrepublik wurden für Sachsen in der Folge jedoch nicht fruchtbar gemacht.30 Aktuelle Forschungen zu Sachsen im Dreißigjährigen Krieg sind immer noch vergleichsweise rar und nicht alle Phasen des Krieges gleichermaßen intensiv analysiert. Die Einschätzung von Michael Kaiser, dass wir »einfach viel zu wenig darüber [wissen], wie der Dresdner Hof seine Politik konzipiert und durchgeführt hat«, ist durchaus noch aktuell.31 Für die kursächsische Politik liegt als größere Studie aus jüngerer Zeit lediglich die grundlegende Arbeit von Frank Müller von 1997 zu Sachsens Haltung im Böhmischen Aufstand, also der ersten Phase des Dreißigjährigen Krieges, vor.32 Es handelt sich um eine bei Konrad Repgen in Bonn verfasste, äußerst solide und detaillierte Arbeit, die zu einer grundsätzlichen Revision hinsichtlich der Einordnung und Interpretation des Agierens Kurfürst Johann Georgs I. und seines Umfelds kommt. Die Ergebnisse sind dabei nicht nur für die Phase des Böhmischen Krieges, sondern auch darüber hinaus relevant, denn Müller zeigt die grundsätzliche Ausrichtung der kursächsischen Politik im Dreißigjährigen Krieg auf das Reich und sein Verfassungsgefüge sowie die lange Kontinuität, in die sich diese reichstreue Politik seit dem 16. Jahrhundert einordnete. Studien von entsprechender analytischer Tiefe zur kursächsischen Politik im weiteren Verlauf des Krieges fehlen.33 Hinzuweisen ist allerdings auf die große und mit einer mehr als 200 Seiten umfassenden Einleitung versehene Aktenedition zum Prager Frieden von 1635 von Kathrin Bierther von 1997,34 die ohne Zweifel ebenso zur Neubewertung Johann Georgs in der neueren Forschung beigetragen hat wie die Studie von Müller. Dezidiert herausgearbeitet wird hier das konsequente Bemühen des Kurfürsten um Frieden zwecks Bewahrung der Reichsverfassung.35 Nach den älteren Studien von Ernst Dürbeck von 190836 und Adam Wandruszka von 195537 bietet die Edition eine hervorragende Grundlage für eine neue Auseinandersetzung mit dem Thema, auch und insbesondere aus kursächsischer Perspektive.38 Darüber hinaus sind die fortlaufenden Arbeiten an den Acta Pacis Westphalicae (APW) zu nennen und hier insbesondere die Edition der Kurfürstenratsprotokolle, deren erster von Winfried Becker bearbeiteter Band für die Jahre 1645 bis 1647 bereits 1975 erschienen ist und deren zweiter, von Marie- Elisabeth Brunert bearbeiteter Band für 1648 noch aussteht.39 Für die kursächsische Seite besonders aufschlussreich sind die Ergebnisse des Habilitationsprojekts von Lena Oetzel zu den kaiserlichen und reichsständischen Gesandten auf dem Westfälischen Friedenskongress, zumal die Verfasserin über die Kurfürstenratsprotokolle hinaus weitere Quellen, etwa das Diarium des kursächsischen Sekundärgesandten Dr. Johann Leuber (1588–1662), intensiv einbezieht und eine vergleichende 1 Belagerungsszene, Gravur auf der Rückseite einer Pulverflasche, Teil eines Geschenks des Leipziger Rats an Kurfürst Johann Georg I. 1623 (vgl. S. 275). Bein gedrechselt, Einfassung Silber graviert, Schnepper Eisen, Höhe 9,7 cm, Gewicht 110 g. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Rüstkammer, Inv.-Nr. X 0759, Foto: Elke Estel/Hans-Peter Klut
13 Andreas Rutz – Das große Welttheater vor Ort Perspektive anlegt.40 Zu Kursachsens Verhandlungsführung auf dem Westfälischen Friedenskongress liegt als Spezialstudie bislang lediglich die erwähnte Dissertation von Schreckenbach vor;41 der Nürnberger Exekutionstag wurde von Antje Oschmann ausführlich analysiert, die allerdings – kurz vor dem Mauerfall – die Dresdner Archivbestände nicht einbezogen hat.42 Vor dem Hintergrund eines – zumal angesichts der Bedeutung Sachsens – eher schmalen Forschungsstands ist es nicht verwunderlich, dass präzise Überblicksdarstellungen zum Thema fehlen. In den bekannten Handbüchern zur sächsischen Geschichte nimmt der Dreißigjährige Krieg jeweils nur wenige Seiten ein, der Fokus liegt zudem auf der Ereignisgeschichte.43 Gleiches gilt für eine Reihe von kürzeren Aufsätzen, die zumeist im Umfeld von Jubiläen den Versuch unternehmen, das Geschehen zusammenzufassen.44 Auch der Band von Christian Kunath, der den Anspruch einer Gesamtdarstellung erhebt, ist ereignisgeschichtlich orientiert und bedient sich dafür aus der älteren Literatur, ohne substantielle eigene Analysen vorzulegen.45 Mit Blick auf die militärischen Ereignisse ist zudem auf die umfangreichen Arbeiten von Roland Sennewald zu verweisen, der akribisch die Bewegungen und Kämpfe des kursächsischen Heeres im Dreißigjährigen Krieg rekonstruiert hat.46 Dabei berücksichtigt er auch alltags- und sozialgeschichtliche Aspekte, also Themen der Neuen Militärgeschichte, bleibt aber letztlich einer mit zahlreichen Details angereicherten positivistischen Perspektive verpflichtet. Einen breiten, nicht zuletzt auch kulturgeschichtlichen Ansatz vertritt hingegen das 1998 zum 350. Jubiläum des Westfälischen Friedens erschienene Dresdner Heft ›Sachsen im Dreißigjährigen Krieg‹.47 Die Publikationen im Umfeld der Ausstellung ›Bellum & Artes‹, die in zeitlicher Nähe zum 400. Jubiläum des Ausbruchs des Dreißigjährigen Krieges erschienen sind, behandeln auch, aber nicht ausschließlich Sachsen.48 Kurfürst Johann Georg I. Ähnlich wie die Forschung zum Dreißigjährigen Krieg in Sachsen ist auch die Literatur zum sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. (reg. 1611–1656) bislang eher disparat und zumal in der Interpretation seiner Regierungszeit und seines Agierens im Dreißigjährigen Krieg recht zwiegespalten. Eine Neubewertung deutet sich schon seit einigen Jahrzehnten an, wie sich insbesondere in den oben genannten Publikationen von Müller und Bierther zeigt. Es bedarf aber noch weiterer grundlegender Untersuchungen, um diese, zumal für die unterschiedlichen Phasen des Krieges, zu stützen. Die ältere Forschung hat Johann Georg I. vor allem seine Kaisertreue und damit gleichsam Verrat an der protestantischen Sache vorgeworfen. Er habe, wie Heinrich Theodor Flathe 1881 in der Allgemeinen Deutschen Biographie schreibt, »trotz zahlreicher warnender und zur Eintracht mahnender Anzeichen sich zu seinen Glaubensgenossen nicht in ein klares und harmonisches Verhältniß zu setzen« gewusst:49 Von der Kurpfalz und der protestantischen Union habe ihn nicht nur der durch seinen Hofprediger Matthias Hoë von Hoënegg50 beförderte Gegensatz zwischen Luthertum und Calvinismus getrennt, sondern auch »politische Eifersucht«. Zudem habe er »Argwohn« gegenüber den ernestinischen Vettern gehegt, sie könnten sich doch noch Hoffnungen auf die Wiedererlangung des sächsischen Kurhuts machen. Seit dem jülich-klevischen Erbstreit habe es zudem Spannungen mit Brandenburg gegeben. »Die Folge war, daß dem einmüthigen und geschlossenen Vorgehen der katholischen Partei die Evangelischen gespalten gegenüberstanden«51 – und das nicht nur am Beginn des Krieges, sondern auch im weiteren Verlauf. Die Spaltung der protestantischen Partei ist ein Aspekt des Narrativs, mit dem jegliches politische Handeln Johann Georgs von Flathe als völlig verfehlt beurteilt wird. Ein zweiter Aspekt ist seine vermeintliche Zögerlichkeit und mangelnde Führungsstärke. Johann Georg, »der doch noch immer als der vornehmste der evangelischen Reichsstände, als der geborene Schirmherr des Protestantismus galt«, habe es beim Ausbruch des Böhmischen Aufstands und auch später nicht verstanden, »sich der Leitung der Begebenheiten mit starker Hand zu bemächtigen«. Gründe hierfür werden – und das ist der dritte Aspekt des Narrativs – in der Persönlichkeit des Kurfürsten gefunden: »der Jagdlust und dem Trunke bis zum Uebermaß ergeben, theologisch in der sprichwörtlich gewordenen Kurfrömmigkeit befangen, die Augen immer nur auf das Nächste gerichtet, ohne zielbewußten weitangelegten Plan, ließ er sich fast willenlos von den Ereignissen treiben und gerieth dadurch nicht blos selbst immer tiefer in Verwickelungen, sondern half auch bei allem ehrlichen Willen und aufrichtigem reichspatriotischen Pflichtgefühl, das ihn beseelte, das ganze Reich in dieselben stürzen.« Johann Georg – ein Spalter, Zauderer, Trunkenbold? Ohne dieses für die ältere Forschung charakteristische Fürstenporträt hier im Detail analysieren zu können, sei doch darauf hingewiesen, dass sich darin sehr deutlich verschiedene Elemente eines Geschichtsbilds versammelt finden, das seit der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert in Deutschland maßgeblich war:52 Das ist an erster Stelle die Dominanz (preußisch-) protestantischer Geschichtsschreibung und die konfessionell, weltanschaulich und politisch begründete Ablehnung alles Katholischen, die für die Historiographie der Frühen Neuzeit gepaart war mit der geradezu reflexartigen Ablehnung des Kaisers, der ja nicht nur katholisch, sondern auch noch Österreicher war. Zum zweiten ist es die Glorifizierung starker Männer, wobei ›männlich‹ mit Entschlussfreude, Kühnheit, Kampfesgeist, Kriegsfreude, aber auch Weitsicht
14 Einführung identifiziert wurde. Friedrich II. von Preußen dürfte hier das Leitbild der borussisch-deutschen Geschichtsforschung abgegeben haben. Johann Georg wird hingegen von Flathe abgesprochen, »männlich und kühn« an die Spitze der Evangelischen getreten zu sein, um »der anschwellenden katholischen Reaction einen Damm entgegenzuwerfen«.53 Im Hintergrund solcher historiographischer Zuschreibungen steht freilich das für die europäische Geschichte prägende Konzept hegemonialer Männlichkeit.54 Der genannte Friedrich der Große steht auch für eine weitere ›Tugend‹, einen dritten Fetisch dieser historischen Schule – den asketischen, ganz auf die Politik und die Aufgabe als Staatsmann ausgerichteten Lebensstil eines idealen Herrschers. Unvereinbar damit war freilich eine ›barocke‹, sinnliche Lebensart, die wiederum mit dem vermeintlich bigotten Katholizismus in Verbindung gebracht wurde.55 Schließlich ist viertens der nationale Gedanke anzusprechen, der ganz deutlich auch bei Flathe von Bedeutung ist, attestiert er Johann Georg doch bei allen Unzulänglichkeiten immerhin ein »aufrichtige[s] reichspatriotische[s] Pflichtgefühl« und hat dabei vermutlich eher das Deutsche Reich von 1871 als Folie vor Augen als die spezifische Situation des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im 17. Jahrhundert.56 Wie bereits gesagt, hat sich der Blick auf Johann Georg in den letzten Jahrzehnten gewandelt, was freilich nicht nur mit empirischer Forschung, dem Auffinden neuer Quellen, dem Wandel von Methoden usw. zu tun hat, sondern auch und vor allem mit einem Wandel der Geschichtsbilder. Das Festhalten am Status quo, die Suche nach Kompromissen, die Sehnsucht nach Frieden als Charakteristika frühneuzeitlicher Politik sowie die spezifischen Formen höfischer und herrschaftlicher Repräsentation dieser Zeit werden heute anders, wohlwollender betrachtet.57 Das mag mit den vielschichtigen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zusammenhängen, aber insbesondere auch mit einem nüchternen, weniger ideologischen und letztlich weniger gegenwartsbezogenen Blick auf die Vergangenheit. Eine neue Einschätzung Johann Georgs deutet sich bereits im biografischen Eintrag von Karlheinz Blaschke in der Neuen Deutschen Biographie von 1974 an.58 Betont wird hier die außenpolitische Kontinuität der sächsischen Kurfürsten seit dem 16. Jahrhundert, in der Johann Georgs an die Habsburger angelehnte Politik stand.59 Sein Handeln wird dementsprechend nicht vorrangig unter konfessionellen Vorzeichen und vor dem Hintergrund eines deutsch-österreichischen Gegensatzes betrachtet, sondern mit Blick auf die Verfassung und Struktur des Reiches, wobei Johann Georg diesbezüglich eine »damals bereits antiquierte[] Reichsgesinnung« attestiert wird, »die den Schlüssel zum Verständnis seiner Entscheidungen gegen die böhm[ischen] Konfessionsverwandten und seiner Abneigung gegen die reichsfremden Schweden darstellt.«60 Jagdleidenschaft und Trinklust werden zwar erwähnt, aber eher beiläufig am Ende des Artikels. Dagegen wird bereits eingangs auf Johann Georgs Fleiß und seine Fähigkeit zu eigenständigen Regierungsentscheidungen hingewiesen, auch wenn der Kurfürst »im Ganzen gesehen als Objekt des Geschehens, nicht als dessen Träger« erscheine. Blaschke selbst hat sich in diesem Sinne in den 1990er Jahren in weiteren, kleineren Beiträgen zu Johann Georg bzw. zum Dreißigjährigen Krieg geäußert.61 Ein ambivalentes, aber gegenüber der älteren Forschung doch differenzierteres Bild findet sich dann auch in biografischen Abrissen zu Johann Georg und den Synthesen zur sächsischen Geschichte der jüngeren Zeit:62 Während in der von Karl Czok herausgegebenen »Geschichte Sachsens« von 1989 noch mehrfach im Sinne der älteren Literatur auf die »wenig entschlossene« und »wankelmütige[]« Politik des Kurfürsten rekurriert wird,63 fehlen in Reiner Groß’ 2001 erstmals publizierter und 2012 in fünfter Auflage erschienener »Geschichte Sachsens« derartige Verweise auf das persönliche bzw. charakterliche Versagen des Kurfürsten. Stattdessen zeigen Begrifflichkeiten wie »Vermittlerrolle«, »Neutralitätspolitik«, »Erkennen politischer Realitäten« oder gelungenes »Taktieren« die Verschiebung der Bewertungsmaßstäbe.64 In eine ähnliche Richtung weist der betreffende Abschnitt in Katrin Kellers »Landesgeschichte Sachsen« von 2002, in dem insbesondere die kursächsischen »Vermittlungs- und Deeskalationsbemühungen«, aber auch die »politische Klarsicht« Johann Georgs hervorgehoben werden.65 Nicht verwunderlich ist vor diesem Hintergrund, dass Reiner Groß in seinem Wettiner-Buch von 2007 eine insgesamt doch recht positive Bilanz der Regierungszeit Johann Georgs und seines Agierens im Dreißigjährigen Krieg zeichnet: »Er galt [...] als friedfertig, trat für eine florierende Wirtschaft ebenso ein wie für den Zusammenhalt der deutschen Territorialstaaten und eine konstitutionelle Regierungsform, indem er seine Landstände immer wieder befragte. Die Geschichte kennt ihn aber auch als einen Landesfürsten, der 1620 die protestantischen Reichsstände in der böhmischen Sache verriet, dann 1631 den Kaiser und 1635 die Schweden. Aber immer wieder zog er daraus wohl doch in kühlem Abwägen der Notwendigkeiten und Möglichkeiten für sich und sein Land Vorteile.«66 Positiv verbucht werden in diesem Sinne die Ablehnung der böhmischen Königskrone 1619, die Sicherung der säkularisierten Stiftsgebiete 1620 und der Zugewinn der Lausitzen 1621 (endgültig 1635 bzw. 1648), das grundsätzliche Streben Johann Georgs nach Neutralität und seine kontinuierliche Suche nach einer Friedenslösung. Letztere gipfelte 1635 im Prager Frieden, der von Groß als »ein Religions- und Verfassungskompromiss« bezeichnet wird, der den Reichsfrieden wiederhergestellt und das Verfassungsmodell des Westfälischen Friedens vorgeprägt habe. »Dass der Westfälische Frieden das föderale Verfassungsprinzip festschrieb, war letztlich auch ein Ergebnis der reichstreuen Politik des sächsischen Kurfürsten
15 Andreas Rutz – Das große Welttheater vor Ort Johann Georg I.«67 Diese positive Sicht auf Johann Georg ist ohne die erwähnten Forschungen von Müller und Bierther nicht denkbar. Für die breitere Rezeption der neuen Perspektive dürfte aber nicht zuletzt der Beitrag von Johannes Burkhardt zur kursächsischen Politik im Dreißigjährigen Krieg in den Dresdner Heften von 1998 ausschlaggebend gewesen sein.68 Dieser hat insbesondere Müller rezipiert und stellt mit einiger Verve Sachsen und seinem Kurfürsten, den er sogar als »den Weisen« titulieren möchte, wenn dieser Titel nicht schon an einen anderen Wettiner vergeben wäre, ein überaus positives Zeugnis aus, vor allem mit Blick auf die Bemühungen um Frieden jenseits des konfessionellen Konflikts, eine Position, die sich dann auch in seinem Buch von 2018 wieder findet.69 Dass diese positive Sicht weiterhin nicht unumstritten ist, zeigt der biografische Abriss zu Johann Georg von Axel Gotthard in dem von Frank-Lothar Kroll 2004 herausgegebenen 2 Johann Georg I. und die Schlachten bei Breitenfeld und Liegnitz, um 1650. Daniel Bretschneider d.J. Öl auf Holz, H. 58,8 cm, B. 45,5 cm. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Rüstkammer, Inv.-Nr. H 0014, Foto: Jürgen Karpinski
Joachim Schneider FÜRSTENKORRESPONDENZ IN KRIEGSZEITEN ZWISCHEN VATER UND SOHN Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen und sein Sohn Johann Georg II.
75 Einleitung: Fürstenkorrespondenz und ihre Erforschung In jüngerer Zeit standen bei der Untersuchung fürstlicher Korrespondenzen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit Briefe von Frauen im Fokus des Interesses. So wurde und wird etwa die wettinische Überlieferung wiederholt für instruktive Forschungen in diesem Feld herangezogen.1 Briefe bieten die seltene Chance, Habitus, Rollenverständnis und weibliche Inszenierung von Frauen, ihren Einfluss innerhalb der fürstlichen Familie sowohl in persönlichen und Alltagsangelegenheiten als auch in politischen Fragen auszuloten. Angeregt durch die Geschlechter- und Familienforschung hat aber auch die Einschätzung von Fürstenkorrespondenzen der Vormoderne im Allgemeinen ein neues Reflexionsniveau erreicht.2 Das Ziel der klassischen Briefforschung, insbesondere repräsentiert durch die Sammlung Steinhausens,3 ›private‹, ›unverstellte‹ Elemente der Fürstenbriefe aus der konventionellen Rhetorik herauszulösen und von den politischen Themen zu trennen, wurde mittlerweile aufgegeben. Gleichzeitig wurde auch die Kritik an der kanzleisprachlichen Konventionalität der Fürstenbriefe ad acta gelegt. Beide Paradigmen, also die Differenzierung zwischen privat und politisch sowie die Suche nach dem Privaten jenseits der Konvention sind, das dürfte mittlerweile Communis Opinio sein, unbrauchbare Forschungskonstruktionen. Man hat vielmehr erkannt, dass Briefformeln »keine inhaltsleeren, historisch gleichsam neutrale[n] Versatzstücke« sind, sondern »geteilte, verbindliche und grundlegende Auffassungen über soziale Gegenseitigkeit«.4 Rangkonventionen in Grußformeln, formale Konventionen beim Aufbau von Briefen und Formeln der sozialen Nähe zwischen den Briefpartnern sind drei Bestandteile der Konventionalität von Briefen, die einander bedingen und ergänzen. Vor allem die Formeln der sozialen Nähe bringen dabei ein fundamentales Loyalitäts- und Gegenseitigkeitsprinzip zur Anschauung, das die Briefpartner verbindet: Sich wie ein Vater, wie ein Sohn oder eine Tochter zu verhalten, bedeutet in einer entsprechenden sozialen Korrelation, sich richtig zu verhalten. Die Norm der Gegenseitigkeitsrhetorik ist unauflösbar, sie bildet die fundamentale Matrix jeder brieflichen Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern, innerhalb derer sie jeweils die Position beziehen, die ihnen zukommt. Aus dieser Matrix, so die Beobachtung, gibt es für die Briefschreiberin oder den Briefschreiber kein Entrinnen. Nur innerhalb dieser Matrix und einer damit zusammenhängenden Konventionalität entsteht jener Bewegungsspielraum, innerhalb dessen Akteure oder Akteurinnen ihr Interesse, ihre Gestimmtheit zum Ausdruck bringen und versuchen können, Briefpartner zu beeinflussen und für sich einzunehmen.5 Fragestellungen Unter diesen Prämissen sollen im folgenden Beitrag Beispiele aus der bisher weitgehend unbekannten Korrespondenz zwischen dem sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. und seinem gleichnamigen ältesten Sohn beleuchtet werden. Ziel ist es einerseits, eine der noch wenig untersuchten Vater-Sohn-Beziehungen im Medium des Briefes exemplarisch in den Blick zu nehmen und nach den Konventionen sowie den Spielräumen innerhalb einer von Hierarchie, aber auch von sozialer Nähe geprägten Kommunikationssituation zu fragen. Zum anderen soll beobachtet werden, wie Briefe im Rahmen dieser VaterSohn-Beziehung für den Austausch und das Teilen von Nachrichten genutzt wurden, und zwar in Zeiten einer existenziellen Herausforderung des sächsischen Kurfürstentums, als dieses zum Kriegsschauplatz geworden war und Johann Georg I. wiederholt persönlich an den Feldzügen seiner Truppen teilnahm, während der Sohn in Dresden verblieb. Innerhalb dieser situativen Rahmung ist unter anderem danach zu fragen, wie Johann Georg I. gegenüber seinem Sohn in der Kommunikation mit den Erfolgen und auch Misserfolgen seiner Truppen umging. Denn wenn der Kurfürst auch nicht der eigentliche militärische Befehlshaber vor Ort war, sondern sich auf seine Truppenführer stützte, so gewann das Agieren des sächsischen Heeres durch die Präsenz des Oberhaupts des Kurstaates, das mit einem traditionellen Gottesgnadentum und einer besonderen fürstlichen Aura ausgestattet war, für die Zeitgenossen an Relevanz und Aufmerksamkeit. Erfolge wie Misserfolge wurden zweifellos in höherem Maße als sonst auch als Erfolge oder Misserfolge des Kurfürsten selbst betrachtet. Jugendjahre Johann Georgs II. Während der bisher nicht befriedigende Forschungsstand zur Regierungszeit Johann Georgs I.6 durch den vorliegenden Band auf einen neuen Stand gehoben wird, hat Johann Georg II. (geboren 1613, Kurfürst 1656–1680) bis dato noch deutlich weniger Aufmerksamkeit gefunden als sein Vater. Früher wurde er ähnlich wie dieser vorwiegend wegen einer angeblich ungezügelten Lebensführung kritisiert, inzwischen gilt er vor allem als kunstsinnig und als erster Förderer der Barockkultur am Dresdner Hof.7 Der Kurprinz wuchs mit zwei älteren und einer jüngeren Schwester sowie drei jüngeren Brüdern auf. Erziehung und Unterricht ab dem siebten Lebensjahr erfolgten im zeitgenössischen, typischen Rahmen.8 So ist für Johann Georg überliefert, dass er mit acht Jahren 76 Sprüche aus der Bibel, sechs Gebete, acht Psalmen, zehn Lieder und das Lesen erlernt hatte; wenig später begann er mit dem Lateinunterricht. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Moritz (1619–1681) überholte ihn allerdings bei seinem Lernfortschritt, da er im Alter von sieben
76 Der Kurfürst in seinem Umfeld Jahren bereits deutlich mehr Texte gelernt hatte und nun mit der Erlernung von Fremdsprachen sowie mit der Zeitungslektüre über das aktuelle Kriegsgeschehen beginnen sollte, um daraus politische Lehren zu ziehen, wie im Lehrprogramm festgehalten wurde.9 Dass auch die Abfassung von Briefen und damit die Beherrschung der zu erwartenden Stilistik und Rhetorik10 zum Lehrplan gehörten, ist offenbar in den sächsischen Instruktionen nicht eigens überliefert, aber als sicher anzunehmen, denn Moritz beispielsweise schrieb bereits mit sieben Jahren Briefe an seinen Vater, was in einer Zusammenstellung der Lernfortschritte der Kinder eigens lobend vermerkt wurde.11 Von dem noch jugendlichen Kurprinzen Johann Georg sind von 1623 und 1627 Briefe an seinen Vater überliefert, die er als Ältester zugleich für seine Brüder verfasste, während der Kurfürst auf Reisen war. Dieser seinerseits unterließ es nicht, seinen jugendlichen Söhnen auf deren Briefe zu antworten.12 1634 begleitete der Kurprinz in Vertretung seines Vaters, der während der Verhandlungen über einen zweiseitigen Frieden mit Kaiser Ferdinand II. (Vorvertrag von Pirna, November 1634) unabkömmlich war, zusammen mit seiner Mutter Magdalena Sibylla von Preußen (1586–1659)13 und seinem Bruder Moritz die Schwester Magdalena Sibylla (1617–1668) auf ihrem Brautzug nach Kopenhagen. Am 5. Oktober fand das Beilager mit dem dänischen Kronprinzen Christian (1603–1647) statt. Johann Georg schrieb während dieser Monate regelmäßig Briefe an seinen Vater und berichtete auch aus Kopenhagen ausführlich von seinen Reiseeindrücken.14 1638 heiratete der junge Johann Georg Magdalena Sibylla (1612–1687), Tochter des Markgrafen Christian von Brandenburg-Bayreuth (1581–1655). Die Eheschließung des Kurprinzen, ebenfalls in Kriegszeiten, fand mit der von ihm selbst gewählten Braut in Dresden statt. Zugleich wurde im dortigen Schloss, in dem der Kurprinz, im Gegensatz zu seinen Brüdern, auch als Erwachsener wohnen blieb, eine eigene Hofhaltung für das Paar eingerichtet. Dabei verfügte der junge Fürst bereits über einen eigenen Etat, aus dem der Prinz unter anderem eine eigene Hofkapelle nach Vorschlag von Heinrich Schütz unterhielt.15 Die Überlieferung Aus dem Zeitraum zwischen 1635 und 1644, der im Folgenden betrachtet werden soll, sind 157 Briefe (Vater: 64, Sohn: 93) über drei Aktenbände verteilt in der sogenannten Handschreiben-Korrespondenz des Kurprinzen überliefert,16 die in jüngerer Zeit praktisch unbeachtet geblieben ist.17 Die Briefe des Vaters liegen meist zugleich als Konzept einer Kanzleihand sowie als originale Handschreiben vor, die als Reinschrift den Postweg durchlaufen haben. Diese von einer Kanzleihand erstellten Schreiben hat der Kurfürst vor dem Versand in der Regel selbst mit der Schlussformel und seinem Namenszug, öfter auch mit kurzen zusätzlichen Bemerkungen versehen. Die Briefe des Sohnes aus diesem Zeitraum, die aus dem Postlauf stammen, hat dieser dagegen immer eigenhändig verfasst. Als ›Privatbriefe‹ sind jedoch auch diese nicht zu betrachten, da sich in Fürstenbriefen – und so auch hier – fast immer persönlich-familiäre mit politischen Gegenständen verbanden. Die Handschreiben-Korrespondenz der kursächsischen Fürstenfamilie ist vielmehr entsprechend der Ergebnisse der neueren Forschung zur Eigenhändigkeit von Fürstenbriefen der Vormoderne zu interpretieren. Danach war bereits mit dem zeitgenössischen Begriff ›Handschreiben‹ – eigenhändig verfasst oder nicht – »ein persönliches Schreiben mit Einbezug eines Sekretärs und eventuell einer Beratungsinstanz« gemeint. Die Eigenhändigkeit beschränkte sich dabei in der Regel auf die Unterschrift.18 Wenn der Kurfürst darüber hinaus eigenhändig weitere Mitteilungen anbrachte, muss dies als Herstellung von Nähe im Vater-Sohn-Verhältnis verstanden werden. Ebenfalls ist es ein Ausdruck von Nähe, aber auch die Markierung einer sozialen Hierarchie, wenn der Sohn seine Briefe an den Vater durchgängig selbst schrieb, obwohl er zweifellos einen Kanzlisten bzw. Schreiber zur Verfügung hatte. Ob Voll- oder Teilautograph, Handschreiben stellten immer eine gewisse soziale Nähe zwischen den Korrespondenzpartnern her, denn sie »waren eine Art Alter Ego des Fürsten«.19 Angesichts gestiegener Erwartungen an die Praxis von Eigenhändigkeit in der Korrespondenz zwischen Angehörigen einer Fürstendynastie sind Handschreiben mit nur geringen autographen Anteilen im dynastischen Familienkreis seit dem Spätmittelalter allerdings nur »als eine Notlösung vorwiegend für regierende Fürsten und Fürstinnen« zu betrachten. Zum Kriegsverlauf 1635 bis 1644 Die im Folgenden untersuchten Briefe der Korrespondenz zwischen Vater und Sohn aus dem Jahrzehnt zwischen 1635 und 1644 stammen aus der Phase nach dem Abschluss des Prager Friedens, in der Sachsen vermehrt zum Kriegsschauplatz zwischen sächsisch-kaiserlichen und schwedischen Truppen wurde.20 Im Prager Frieden vom Mai 1635 war Kursachsen aufgrund der Abwendung von Schweden und der Rückkehr zur Kooperation mit dem Kaiser unter anderem das Erzstift Magdeburg zugesprochen worden.21 Zur Inbesitznahme und zur weiteren Zurückdrängung der Schweden erfolgte von Sommer 1635 bis Herbst 1636 ein längerer Feldzug des sächsischen Heers in das Erzstift sowie in die angrenzende Mark Brandenburg. Kurfürst Johann Georg I. nahm an dem gesamten Feldzug persönlich teil.22 Im Rahmen dessen konnte im Juli 1636 das schwedisch besetzte Magdeburg erobert werden. Der Kurfürst nahm noch während seiner Anwesenheit in der Stadt deren Huldigung entgegen. Sein zweitgeborener Sohn August (1614–
77 Joachim Schneider – Fürstenkorrespondenz in Kriegszeiten zwischen Vater und Sohn 1680) war schon 1625 als Administrator im Erzstift vorgesehen, 1628 durch das Domkapitel gewählt worden und konnte nun in sein Amt eintreten. Die Schweden siegten allerdings wenig später in der Schlacht von Wittstock, woraufhin sich das sächsische Heer zurückzog.23 In den folgenden Jahren bewegten sich die schwedischen Heere oft beinahe nach Belieben durch Sachsen und die angrenzenden Regionen. Sie besetzten wiederholt große Teile des Kurstaats und hielten Städte wie Chemnitz, Zwickau oder Görlitz und insbesondere Leipzig oft längere Zeit in ihrer Hand. Allein Dresden blieb unter den wichtigsten Städten durchgehend unbesetzt, hatte aber ebenfalls unter Einquartierungen zu leiden und das unmittelbare Umland wurde mehrfach durch Kriegszüge in Mitleidenschaft gezogen.24 Der Kurfürst nahm mehrfach selbst an Belagerungen wichtiger feindlich besetzter Städte bzw. fester Plätze in Sachsen teil und hielt sich dann über Wochen oder gar länger außerhalb seiner Hauptstadt auf,25 während sein Sohn mit seiner Familie sowie der Geheime Rat im keineswegs ungefährdeten, aber doch sichereren Dresden verblieben. Diese Situationen waren jeweils Anlass für eine dichte Korrespondenz zwischen dem Prinzen und seinem Vater. Neben dem schon erwähnten längeren Kriegszug nach Norddeutschland 1635/36, einschließlich der erfolgreichen Belagerung von Magdeburg, treten in dieser Hinsicht die ebenfalls im Beisein des Kurfürsten erfolgten Belagerungen und Eroberungen von Görlitz 164126 sowie die von Chemnitz 164427 mitsamt weiteren Erfolgen des Kurfürsten entlang der Mulde hervor. Insbesondere die Korrespondenz aus der Zeit der Belagerungen von Görlitz und Chemnitz sollen im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung stehen. Konventionen Die regelmäßig benutzten gegenseitigen Anreden wie auch die Verwendungsweise rhetorischer Formen bilden den Rangunterschied zwischen den beiden Kommunikationspartnern ab. Während die Rhetorik der Briefe des Kurfürsten eher knapp und relativ starr ist, variierte Johann Georg II. die einleitenden Sätze seiner Briefe, mit denen er den Vater ansprach und dabei rhetorisch um Aufmerksamkeit warb, stärker. Ein Beispiel ist die Eröffnungsformel in einem Brief des Sohnes vom 26. Juli 1641, geschrieben kurz nach der Abreise Johann Georgs I. aus Dresden nach Görlitz. Der Sohn bekräftigte seine jüngst noch persönlich geäußerten Wünsche nunmehr im Medium des Briefes und betonte so seine trotz der Trennung weiterhin bestehende geistig-emotionale Verbundenheit mit dem Vater und mit dessen Wohlergehen: E.Gn. durch ein gehorsambtes brieflein auffzuwardten, hatt meine kindliche schuldikeitt erfordert, nehme hiemitt nochmahls abschitt von deroselben mitt wünschung von Gott dem Almechtigen zu dero krieges expetition gelücklichen success.28 Ein weiterer rhetorischer Kunstgriff, der persönliche Nähe herstellen sollte, erscheint im nächsten Schreiben des Sohnes, wenn er mit diesem brieflein [seinen Vater] 1–2 Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen (recto) mit seinen Söhnen (verso; Johann Georg II. erster von links), Dresden, um 1625. Öl auf Leinwand auf Holz, H. 17,4 cm, B. 16,9 cm. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Rüstkammer, Inv.-Nr. H 0182, Foto: Hans-Peter Klut
78 Der Kurfürst in seinem Umfeld besuchen und sich aus kindlicher schuldikeitt nach deroselben zustandes und glückliches wohlergöhen erkundigen wollte.29 Dabei nutzte er im Medium des Briefes zeittypische Formeln der höfischen Aufwartung.30 Wortwörtlich erscheint eine weitere derartige Wendung kurz vor der Eroberung von Görlitz, wenn der Sohn äußerte: E.Gn. durch dieses Brieflein auffzuwardten hatt meine kindliche schuldigkaitt erfordert von hertzen wünschen[d] die gnade zu haben E.Gn. balt mitt wohl verrichteten sachen wieder alhier zu sehen, welches ich von hertzen wünsche.31 Auch im Schlussteil seiner Briefe sowie generell an jenen Stellen, in denen er seine guten Wünsche für den Kurfürsten, für dessen Tun und für das Wohlergehen des gesamten Landes zum Ausdruck brachte, schöpfte der Sohn aus einem größeren Reservoir rhetorischer Varianten als sein Vater. Gelegentlich fehlen sogar eigene Mitteilungen völlig und die Briefe des Sohnes bestehen ausschließlich aus der Bestätigung des Empfangs eines Briefes vom Vater mit kurzer Wiederholung des Inhalts sowie guten Wünschen für den Vater, die etwa in diesem Fall den größten Teil des Briefes ausmachen: Der Allerhöchste wolle verhelffen, das die stat vnd feinde balt in E.Gn. hände kommen mögen vnd dieselbe balt mitt gutter gesundhaitt zu vns kommen, welches ich von hertzen wünschen thue vnd E.Gn. hirmitt Göttlicher protection befelle, mich aber zu dero vätterliche beharrliche hulde vnd gnade recommandire wie ich dan bis an mein Ende E. Gn. --- vntterterteniger dienstwilliger gehorsammer trewer sohn verbleibe.32 Mit dieser Variabilität demonstrierte Johann Georg II., dass er über die entsprechende Rhetorik und ihr Formelarsenal verfügte und brachte zugleich die gebührende Demut dem Vater gegenüber zum Ausdruck. Damit zusammen hing die Absicht zu zeigen, dass ihm die Kommunikation mit dem höhergestellten Vater wichtig war. Ein besonders schönes Beispiel reziproker Solidarität zwischen Vater und Sohn sind die wechselseitigen Segenswünsche zum gemeinsamen Namenstag, dem Johannistag des 24. Juni 1644. Der Sohn hatte dem Vater zum 60. Namenstag gratuliert, dieser Brief scheint aber nicht überliefert zu sein. Der Vater dankte ihm anschließend dafür und wünschte seinerseits dem Sohn ein langes Leben und gute Gesundheit, woraufhin sich dieser seinerseits noch einmal unttertenigsten für den Glückwunsch zum Johannistag bedankte.33 Die Grüße zu Neujahr 1636, das der Vater während des Feldzugs durch die Mark Brandenburg in Nauen verbrachte, waren ebenfalls eine anlassbezogene Gelegenheit für den Sohn, in rhetorisch konventioneller Weise den Vater seiner Solidarität zu versichern. Der Neujahrsgruß des Sohnes beginnt mit dem Hinweis auf den bevorstehenden Jahreswechsel als einer Zäsur des Übergangs in einen neuen Lebensabschnitt, der von Vater und Sohn gemeinsam zu absolvieren war. Dieser nahm den Rite de Passage in konventioneller rhetorischer Weise zum Anlass, dem Vater umfassendes persönliches Wohlergehen wie auch Erfolg als Staatsmann zu wünschen. Kriegsglück wie auch ein dauerhafter Frieden stehen in der Vorstellung des Sohnes vom politischen Erfolg des Fürsten in engster Verbindung miteinander. Der anhaltende gute Gesundheitszustand des Vaters ist in den Worten des Sohnes ein Segen für die Kirche, die Nation und alle Menschen, den Sohn selbst eingeschlossen. Persönliches Wohlergehen des Fürsten und die Wohlfahrt der Allgemeinheit sind dabei, wie üblich in der Vormoderne, untrennbar miteinander verbunden. Auch die Schlussformeln bewegen sich in ähnlicher Weise im zeitgenössischen Vorstellungshorizont eines hierarchisch interpretierten fürstlichen Gottesgnadentums, wenn Johann Georg der Jüngere den Wunsch, der Kurfürst möge den Schutz Gottes erfahren, mit der Bitte um die Huld des Vaters für ihn selbst verband.34 Eigenhändige Nachträge des Vaters und auch des Sohnes notieren gelegentlich, beim Vater meist in größtmöglicher Kürze, zusätzliche Nachrichten, die zuletzt noch eingegangen sind.35 Vor allem aber enthalten sie Grüße des Vaters an seine eigene Frau, die Ehefrau des Sohnes und an dessen Brüder,36 beim Sohn umgekehrt Grüße derselben an den Vater.37 Gelegentlich lassen die Frauen Dank sagen, dass der Kurfürst sie so fleißig grüßen lässt,38 was auf die zentrale Funktion von Briefen, sich zwischen Abwesenden der gegenseitigen Solidarität zu versichern, verweist. Die mehrfach geäußerten Wünsche des Sohnes, dass der Vater nach der erfolgreichen Belagerung der Stadt Görlitz 1641 hoffentlich bald wieder nach Dresden komme, dass die Zeit der Abwesenheit also bald enden möge, bekräftigen ebenfalls die familiäre Solidarität, indem der Sohn unter glücklichen Umständen ein baldiges persönliches Wiedersehen mit dem Vater herbeisehnt.39 Einmal überschreitet das väterliche Postscriptum die übliche Konventionalität und wird zu einem Appell von existenzieller Dringlichkeit an den Sohn, seiner Pflicht gegenüber der Dynastie zu genügen, indem der Kurfürst diesem am 3. August 1644 in einem eigenhändigen Nachtrag die Mitteilung machte: Gleich itzo bekom ich Schreiben von E.L. schwager, das ihn gott mit eim jungen Sohn [. . .?] hat, gehet hin und tuhet dem gleichen.40 Dabei muss es sich um die Anzeige der Geburt des künftigen Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg- Bayreuth (1644–1712) handeln, der am 27. Juli 1644 in Bayreuth als erstes Kind von Markgraf Erdmann August (1615–1651) geboren wurde. Dieser war der Bruder von Magdalena Sibylla, der Ehefrau Johann Georgs II. und damit dessen Schwager und mit Sophie von Brandenburg-Ansbach (1614–1646) verheiratet. Johann Georg (II.) hingegen hatte nach der Geburt zweier Töchter 1642 und 1644 noch keinen Stammhalter aufzuweisen. Erst drei Jahre später sollte seine Frau einen Sohn, den späteren Kurfürsten Johann Georg III. (1647–1691) zur Welt bringen. Der Kurprinz reagierte am 5. August in seinem nächsten Brief,
79 Joachim Schneider – Fürstenkorrespondenz in Kriegszeiten zwischen Vater und Sohn in dem er den Eingang des väterlichen Schreibens vom 3. August bestätigte, nicht auf diese väterliche Mahnung, sondern gratulierte vielmehr dem Kurfürsten in besonders zahlreichen Wendungen zu seinen militärischen Erfolgen.41 Das Netzwerk Anhand der Nachrichten sowie der eingeschlossenen Beilagen wird bei Vater und Sohn das jeweilige Korrespondenznetzwerk erkennbar. Bei dem Kurprinzen treten 1641 auffällig viele Kontakte zu Erzherzog Leopold Wilhelm von Österreich (1614– 1662) hervor. Dieser hatte mit dem Prager Frieden auf seine Ansprüche auf das Erzstift Magdeburg zugunsten von Kursachsen verzichtet und war nun formeller Oberbefehlshaber der kaiserlichen Truppen. In das Nachrichtennetzwerk dieser zentralen Figur war der Kurprinz also gut einbezogen. Die Briefe Leopold Wilhelms, die der Kurprinz zitierte, waren in Dresden an diesen persönlich gerichtet, nicht an den dortigen Geheimen Rat.42 Im Übrigen wird aber deutlich, dass der Kurprinz vornehmlich ein familiäres Korrespondenznetzwerk unterhielt. Dazu gehörten sein Schwager, Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt (1605–1661), Ehemann seiner Schwester Sophie Eleonora von Sachsen (1609–1671),43 und sein Bruder August, der in der Korrespondenz regelmäßig als Erzbischof bezeichnete Administrator von Magdeburg.44 Einmal öffnete der Vater ein Schreiben Augusts, das für Johann Georg II. bestimmt war und das bei der Post aus Magdeburg mitgekommen sei, wie er schrieb, um zu ersehen, wo sich genau sein Sohn August aufhielt.45 Interessant ist die Einbeziehung des Hofmeisters des Kurprinzen, Rudolf von Dieskau (1593–1656), in die Korrespondenz der Brüder. Als sich nämlich Johann Georgs Bruder Christian (1615–1691) mit dem jüngsten Bruder Moritz zwischen 1642 und 1645 auf einer mehrjährigen Reise durch Dänemark und Norddeutschland befand,46 berichtete er dem mit ihm offenbar befreundeten Hofmeister seines Bruders in Dresden vom dortigen Kriegsschauplatz.47 Der Hofmeister teilte diese Informationen mit Johann Georg, der sie wiederum an seinen Vater weitergab. Es muss ein enges Vertrauensverhältnis zwischen den heranwachsenden Prinzen und dem deutlich älteren Dieskau bestanden haben, der ab 1639 bis zu seinem Tod bzw. bis zur Regierungsübernahme Johann Georgs II. nicht nur Hofmeister des Kurprinzen, sondern zeitweise auch Hofmeister bei Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz war. Bereits seit 1628 war Dieskau Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, der ersten deutschen Sprachakademie, die zwischen 1617 und 1680 bestand, und machte sich auch als Dichter einen Namen.48 Mit dieser Persönlichkeit Umgang zu pflegen, mit ihm zu korrespondieren bzw. an seiner Korrespondenz Anteil zu haben dürfte für die Prinzen, jenseits ihrer eigentlichen Ausbildung, auch im Erwachsenenalter attraktiv gewesen sein. Tatsächlich wurden im Verlauf der Zeit alle vier Söhne Johann Georgs I. selbst Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, August war es zum Zeitpunkt dieser Korrespondenz bereits und stand dieser später zwischen 1667 und 1680 als Oberhaupt vor. Johann Georg II. wurde als Letzter erst 1658, nach Ende der Dienstzeit seines Hofmeisters, in die Gesellschaft aufgenommen.49 Demgegenüber kann es nicht überraschen, dass das Netzwerk des Vaters in politischer Hinsicht weit vielfältiger war als das seines Sohnes und er Nachrichten von zahlreichen Kriegsschauplätzen erhielt und mit dem Sohn teilte. Wenn dieser dagegen Informationen an den Kurfürsten weitergab, finden sich zurücknehmende, fast entschuldigende Bemerkungen, dass der Vater die betreffende Nachricht von seinen Geheimen Räten oder anderwärts vielleicht schon selbst erhalten habe oder noch erhalten werde.50 Umgekehrt verwies der Vater den Sohn gelegentlich auf Informationen, die jener von den Geheimen Räten ausführlicher erhalten könne.51 Dennoch wollte der Sohn zeigen, dass auch er interessante Informationen erhielt und diese gern mit dem Vater teilte. Die Korrespondenz zwischen Vater und Sohn ist demnach nur ein Ausschnitt der kontinuierlichen Gesamtkorrespondenz zwischen dem abwesenden Kurfürsten und seinen Räten in Dresden.52 Berichte aus dem Krieg Neben Informationen über andere Kriegsschauplätze standen beim Kurfürsten Nachrichten über den Verlauf der militärischen Aktionen im Zentrum, an denen er selbst teilnahm. Der Vater verschwieg gegenüber seinem Sohn auch Misserfolgsmeldungen nicht, so etwa anlässlich des Überfalls schwedischer Reiter auf sächsische Truppen 1635 bei Kyritz53 oder bei der missglückten Erstürmung von Görlitz 1641, als er eine Zusammenstellung der toten und verwundeten sächsischen und kaiserlichen Soldaten beilegte.54 Hinsichtlich der kaiserlich-sächsischen Übergriffe auf die abziehenden Schweden nach der Eroberung von Görlitz 1641 verzichtete der Kurfürst auf anderwärts kolportierte Rechtfertigungen des Geschehens, sondern betonte lediglich, die sächsischen und kaiserlichen Truppenführer hätten ernstlich versucht, die Übergriffe zu verhindern: Diese Gewalttaten seien alles der Generalen und Obristen ernsten abwehrens, hauens und niederschießens vngeachtet geschehen. Doch nichts desto weniger die Keyserlichen vnd meine Völckere erstlich die Baggage, hernach auch die trouppen selbst angefallen, geplündert und etliche hundert Mann vnd Roser hinweggenommen, so dass dem schwedischen Obristen Wancke schließlich nur noch 250 Offiziere und Knechte bei seinem Abzug verblieben seien. Ungeachtet dieser Vorkommnisse betonte der Kurfürst, dass Gott bei der Befreiung von Görlitz auf sächsischer Seite gestanden habe und hoffte auf weitere Erfolge: Dem grund
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