Leseprobe

Axel Heller, geboren 1962 in Rostock, absolvierte von 1978 bis 1981 eine Ausbildung zum Forstfacharbeiter mit Abitur. Nach Dienst in der NVA und Arbeit in verschiedenen Berufen ließ er sich von 1987 bis 1989 als Facharbeiter für zoologische Präparation ausbilden. Mitte der 1980er-Jahre begann er, ambitionierter zu fotografieren, u. a. 1988 in Paris. 1990 war er Mitbegründer der galerie refugium in Neustrelitz und ist seither als freier Fotograf tätig. Heller lebt, sofern er nicht auf Reisen ist, in Zippelow bei Neustrelitz. Das Reisen, so Maik Buttler, ist Bedingung für die Fotografie Axel Hellers, Distanz jedoch nicht das einzige Motiv der Arbeit in der Fremde: Der Fotograf »ist auf der Suche nach dem Wesentlichen, dem Unverwechselbaren, nach den wenigen Orten, die Zeit, Geschichte und Menschenleben in einem ursächlich gewachsenen Zusammenhang vereinigen, Orte die für ihn das photographische Arbeiten erst ermöglichen, Orte die aussterben« (Maik Buttler, 2000). Guatemala, Ecuador, Indien, China, Vietnam, Kuba, Äthiopien, Spanien, Rumänien, aber auch London und Paris zählen zu seinen oft mehrfach besuchten Zielen. Seit 1991 hat Heller Reisen buchstäblich in alle Welt unternommen, um traditionelle, von der Moderne bedrohte Lebenswelten mit seiner Leica festzuhalten, bevor sie endgültig vom Mahlstrom der Geschichte verschlungen werden. Eine ganze Reihe von Bildbänden ist daraus hervorgegangen, darunter Bilder aus Lateinamerika (1994), Indien (2008), Maramures (2015) sowie Paris–Paris (1994) und der retrospektiv angelegte Ausstellungskatalog Photographie 1991–2012 (2012). Seine sensiblen, durch klaren Bildaufbau und kompositorische Strenge bestechenden Bilder sind von großer ästhetischer Strahlkraft. Die meist bei natürlichem Licht aufgenommenen Fotografien sind kompromisslos, effektlos und klar, vermeiden das Spektakuläre und Sensationelle. Der Fotograf interessiert sich für die Poesie des Gewöhnlichen, die er in schier unendlichen Abstufungen von Grautönen mit seinen konsequent analog fotografierten und mit äußerster Sorgfalt abgezogenen Bildern einzufangen sucht. Die Fotografien, stets im wohltemperierten Schwarzweiß gehalten, wollen nichts beweisen, wollen nicht als Ausdruck gesellschaftlichen Engagements und sozialen Gewissens aufgefasst werden, sondern den Moment zeigen – als öffne sich vor den Augen der Betrachter:innen eine unbekannte Welt, die nicht vertraute Klischeevorstellungen wiederholt, sondern das Fotografierte, abgelöst vom Abbild, in Wesentliches transformiert. Zu den von Heller meistbesuchten Orten gehört die Maramureș, eine im Norden von Rumänien, nahe der ukrainischen Grenze gelegene Region, eine der abgelegensten Europas, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Die Menschen in den einsamen Bergen und Tälern leben und arbeiten wie vor Jahrhunderten, die Jahreszeiten und ihre Feste bestimmten den Alltag seit jeher. Heller hat die Maramureș über zehn Jahre fotografiert, bevor sich – durch den schleichenden Einbruch der Moderne in ihrem Wesen bedroht – ihr Gesicht endgültig verändern wird. Jenseits schlichter Romantisierung des Landlebens stellen Hellers Fotografien die existenzielle Frage, wie viel Fortschritt der Mensch braucht oder wie viel davon er vertragen kann. Jahrhunderte alte Riten faszinierten Heller auch in Spanien. In der Semana Santa, der Karwoche, ziehen vor allem im Süden des Landes Hunderte Bußprozessionen vor Tausenden Zuschauer:innen durch die Städte, als öffentliche Inszenierung von Leiden und Tod, gleichermaßen Glaubensbekenntnis wie Straßentheater. In Bruderschaften zusammengeschlossene Nazarenos, Büßer mit der charakteristischen Spitzhaube (Caroza), barfüßige Farricocos mit Fackeln und Penitentes, die würdig und still unter der Last schwerer Kreuze oder Heiligenfiguren präsentierender Lafetten ächzen, vollziehen stumm, nur von dumpfen Trommelschlägen, Kettenrasseln oder vom Flamenco beeinflussten rhythmischen Gebetsgesängen unterbrochen, uralte Rituale um den Tod und die Auferstehung ihres Erlösers. Aus dem Geschehen zwischen feierlicher Andacht und Militanz, zwischen Fanatismus und Traditionspflege schafft der Fotograf eine neue transzendente Bildwirklichkeit. Bei Axel Heller, den Buttler als »Urgestein, unbequemes unverbesserliches Fossil« abseits aller Moden charakterisiert, kreisen Sterblichkeit und Glaube ebenso wie das Alltägliche, die Mühen von Mensch und Tier, als existenzielle Fragestellungen, als bildgewordene, sublime Essenzen durch einen Bildkosmos fernab des nur Erlebten. Heller schafft Bilderwelten von höchster semantischer Eigenständigkeit. JB 356 Frau am Fenster, Paris, 1991, Silbergelatinepapier, 24 ×18 cm Torero, Peñaranda de Duero, Spanien, 2011, Silbergelatinepapier, 30 × 40 cm Prozession El Vitor, Mayorga, Spanien, 2014, Silbergelatinepapier, 30 × 40 cm Prozession, Cabra, Spanien, 2017, Silbergelatinepapier, 30 × 40 cm Büßer, Puente Genil, Spanien, 2017, Silbergelatinepapier, 30 × 40 cm Sadhu, Allahabad, Indien, 2013, Silbergelatinepapier, 18 × 24 cm Mann an einem Ghat, Varanasi, Indien, 2005, Silbergelatinepapier, 18 × 24 cm

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