Leseprobe

Christian Borchert gilt als einer der bedeutendsten deutschen Fotografen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Er hat eine höchst eindrucksvolle Chronik ostdeutscher Lebenswirklichkeit hinterlassen. Unprätentiös und exakt dokumentieren seine Fotografien den Alltag in der DDR und in der Wendezeit, vor allem in Dresden und Berlin. Christian Borchert wurde am 1. Februar 1942 in Dresden geboren. Nach dem Schulbesuch in Dresden studierte er von 1960 bis 1963 Kopierwerktechnik an der Ingenieurschule für Filmtechnik Potsdam-Babelsberg. Zunächst arbeitete er nach dem Studienabschluss in der Farbfilmprüfstelle im VEB Filmfabrik Wolfen und nach dem Grundwehrdienst von 1966 bis 1970 als Güteingenieur im Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut Berlin. 1967 legte er die Fotografenfacharbeiterprüfung an der Zentralen Berufsschule Caputh ab. Zwischen 1970 und 1975 war er als Bildreporter bei Neue Berliner Illustrierte (NBI) tätig, parallel dazu absolvierte er von 1971 bis 1974 ein Fernstudium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig mit Abschluss als Fotografiker. 1975 löste er sich von der NBI, verließ den Bildjournalismus und dessen Verwertungsanforderungen für ideologisch gefärbte Massenmedien und arbeitete seitdem freischaffend. Er konzentrierte sich zunächst auf Porträtfotografie, später auch auf Architekturfotografie. Für den Verlag Der Morgen porträtierte er 1978 zahlreiche Künstler:innen und Schriftsteller:innen und thematisierte damit als einer der ersten Fotografen explizit das Künstlerleben in der DDR. Mit seinem ebenfalls 1978 zunächst sporadisch begonnenen, zwischen 1983 und 1984 dann durch den Kulturbund geförderten Projekt Familienporträts verlagerte sich sein Arbeitsschwerpunkt hin zu Gruppenbildnissen. 1985 hatte er 180 Familien besucht und fotografiert. Diese sehr privaten Bilder zeigen nicht nur die Menschen, sondern erlauben auch einen Blick auf die Lebensverhältnisse, in die Wohnzimmer der Familien. Borchert interessierte sich besonders für die Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder untereinander. Zehn Jahre später, 1993/94, konnte er dieses Projekt mit einem Arbeitsstipendium des Kunstfonds Bonn fortsetzen und viele Familien ein zweites Mal besuchen. Die Gegenüberstellung beider Serien offenbart nicht nur Veränderungen familiärer Verhältnisse, sondern vor allem den sozialen Wandel nach dem Ende der DDR. Von 1978 bis 1980 übernahm Borchert die Programmverantwortung für die kurzlebige Fotogalerie in der Galerie Berlin, zwischen 1977 und 1985 dokumentierte er den Wiederaufbau des Dresdner Opernhauses, woraus 1985 die Publikation Semperoper Dresden. Bilder einer Baulandschaft hervorging. 1986 erschien sein Fotobuch Berliner mit Straßenfotografien im Westberliner ex pose verlag. Um 1990 begann Borchert, historisches Filmmaterial aus dem Staatlichen Filmarchiv der DDR, aus den Beständen des Dresdner Chronisten Ernst Hirsch und weiteren Quellen systematisch zu sichten und Einzelbilder herauszulösen. 1990 zeigte die Dresdner Galerie Nord eine Auswahl dieser Filmstills aus Dokumentarfilmen, gesammelt, ausgewählt und kopiert von Christian Borchert, so der Untertitel des begleitenden Katalogs. Drei Jahre später erschien dann der fulminante Bildband Dresden. Flug in die Vergangenheit, der die Alltagsgeschichte der Residenzstadt zwischen 1910 und 1949 rekonstruiert. 1996 publizierte Borchert Zeitreise. Bilder einer Stadt mit Fotografien von Dresden aus dem Zeitraum von 1954 bis 1995. Als letzte Buchpublikation erschien 1999 eine aufwendig recherchierte Bilddokumentation zum Leben Viktor Klemperers mit Auszügen aus dessen Tagebüchern und einem Nachwort von Klaus Schlesinger. Am 15. Juli 2000 ist Borchert in Berlin tödlich verunglückt. Borcherts Werk, in jüngster Zeit vielfach ausgestellt und intensiv beforscht, ist durch seine serielle Arbeits- und Erzählweise gekennzeichnet, aber auch durch eine eigenwillige archivarische Praxis sowie durch seinen quasi archäologischen Umgang mit visuellen Medien wie Film und Fernsehen. Schon in den frühen Aufnahmen von Klassenkamerad:innen, seiner Heimatstadt und deren Umgebung legte Borchert als 14-Jähriger seinen Themenkanon und die Vorgehensweise fest: »Kirchen, den Pieschener Hafen, Brücken ... Das Systematisieren hat mich immer interessiert. Als Kinder hatten wir Sammelbilder von den Chlorodont-Werken. Das Sammeln und Ordnen hat mir gefallen« (Zeitreise. Bilder einer Stadt, 1996). Diese Sammelleidenschaft und Ordnungsliebe kann als Ausdruck eines Bedürfnisses nach Selbstvergewisserung gelesen werden, wofür zudem die zahlreichen Selbstporträts sprächen. Christian Borcherts Werk bewahrt Blicke auf die Wirklichkeit – aufmerksam, teilnehmend, kritisch: »Ich will eine wahre Darstellung von Erscheinungen, und dabei geht es in erster Linie um die Erscheinung und nicht um deren Korrektur. Aber in zweiter Linie: Dass der Betrachter darüber nachdenkt, was der Chronist ihm zeigt, das will ich mir schon wünschen.« (Christian Borchert, 1985) JB 216 CHRISTIAN BORCHERT Wiederaufbau der Dresdner Semperoper, Hauptbühne und Zuschauerraum, 1977, Silbergelatinepapier, 18 ×18 cm Konsum-Kaufhalle Neustädter Markt, Dresden, 1980, Silbergelatinepapier, 18 × 24 cm Kiosk, Kesselsdorfer Straße, Dresden-Löbtau, 1980, Silbergelatinepapier, 18 × 24 cm Aus der Serie Tektonik der Erinnerung: Käthe-Kollwitz-Ufer, Dresden, 1991, Silbergelatinepapier, 18 × 24 cm Marienbrücke, Dresden, 1991, Silbergelatinepapier, 18 × 24 cm

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1