Leseprobe

Karl Blossfeldt, Professor im Lehrfach »Modellieren nach Pflanzen« an den Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst in Berlin, wurde durch sein erstes Buch Urformen der Kunst, 1928 im Ernst Wasmuth Verlag erschienen, im Alter von 63 Jahren gleichsam über Nacht bekannt. Im Kontext des avantgardistischen fotografischen Diskurses der 1920er-Jahre sind seine Pflanzenstudien als Ausdruck eines Neuen Sehens rezipiert worden, ungeachtet der Tatsache, dass die Fotografien ursprünglich im Zuge des Aufbaus einer kunstgewerblichen Lehrmittelsammlung entstanden waren. Blossfeldt, am 13. Juni 1865 in Schielo im Harz geboren, hatte schon als Kind Interesse an der Botanik entwickelt. Nach der Realschule absolvierte er von 1881 bis 1884 eine Ausbildung in der Kunstgießerei Carlswerk in Mägdesprung, wo er sich schon bald als begabter Modelleur erwies, der seine Anregungen bei der Umsetzung floraler Ornamentik für die Gestaltung von schmiedeeisernen Zäunen und Toren aus der direkten Auseinandersetzung mit dem Naturvorbild zog. Mithilfe eines Stipendiums konnte Blossfeldt von 1884 bis 1889 an der Unterrichtsanstalt des Königlichen Kunstgewerbemuseums in Berlin ein zeichnerisches Grundstudium aufnehmen. Sein Lehrer Moritz Meurer gab ihm dabei wichtige Impulse. Dieser wollte in seinem Zeichenunterricht weg vom Schematismus des Kopierens historischer Ornamentik. Im Studium von Naturformen als einer Rückkehr zu den Quellen ornamentaler Gestaltfindung in Kunst und Architektur sah er die Möglichkeit einer Erneuerung kunstgewerblichen Arbeitens. Im Jahr 1890 erhielt Meurer vom Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung den Auftrag, eine Lehrmittelsammlung für die Unterrichtsanstalt anzulegen. Mit einer Gruppe von Studierenden reiste er nach Rom und von dort aus durch ganz Italien, nach Griechenland und nach Nordafrika, um eine botanische Mustersammlung anzulegen. Mit dabei war Blossfeldt, der im Zuge der Arbeiten, die das Zeichnen, Präparieren und Modellieren von Pflanzen umfassten, damit begann, die Fotografie als Hilfsmittel bei der Dokumentation der Objekte einzusetzen. 1898 kehrte Blossfeldt nach Berlin zurück, wo er im Jahr darauf durch die Unterstützung Meurers eine Dozentenstelle an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums erhielt und das neu eingerichtete Fach »Modellieren nach lebenden Pflanzen« unterrichtete. Erst zu diesem Zeitpunkt begann der systematische Einsatz der Fotografie zu Unterrichtszwecken, um für die Studierenden Vorlagen zum Modellieren zu schaffen. Das Pflanzenmaterial bezog Blossfeldt in Berlin nicht vom Floristen, sondern sammelte es selbst an »proletarischen Orten« wie Feldwegen und Bahndämmen; teilweise erhielt er es auch aus dem Botanischen Garten. 1921 wurde Blossfeldt zum ordentlichen Professor an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums ernannt, die 1924 mit der Hochschule der bildenden Künste fusionierte, um von nun an unter dem Namen Vereinigte Staatsschulen für freie und angewandte Kunst zu firmieren. Seine außerordentliche Bekanntheit verdankt Karl Blossfeldt vor allem dem Berliner Kunsthändler und Galeristen Karl Nierendorf, der von der besonderen Ästhetik der hochdetaillierten Pflanzenfotografien tief beeindruckt war und eine erste Ausstellung von Blossfeldts Werk außerhalb des Schulbetriebs organisierte. 1926 stellte er die Fotografien zusammen mit Skulpturen aus Papua-Neuguinea und Gemälden von Richard Janthur unter dem Titel Exoten, Kakteen und Janthur in seiner Berliner Galerie aus. Auf Nierendorf ist auch zurückzuführen, dass Blossfeldts Urformen der Kunst 1928 im Ernst Wasmuth Verlag erscheinen konnte. Nach seiner Emeritierung, kurz vor seinem Tod am 9. Dezember 1932, konnte Blossfeldt noch den Bildband Wundergarten der Natur veröffentlichen. Der Band Wunder in der Natur. Bild-Dokumente schöner Pflanzenformen erschien 1942 posthum in Leipzig. AM 178 KARL BLOSSFELDT Ziegelrote Brennwinde (Cajophora lateritis), Samenkapseln, 1895–1930, Glasnegativ, Großformat Blütenstand der Kratzdistel (Cirsium), Glasnegativ, 1895–1930, Glasnegativ, Großformat Königsfarn (Osmunda), Wedel in der Entfaltung, 1895–1930, Glasnegativ, Großformat Königsfarn (Osmunda), Wedel in der Entfaltung (Detail), 1895–1930, Silbergelatinepapier (Abzug 2016), 30 × 24 cm

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