Leseprobe

In über 50 Schaffensjahren entstanden, ist Abraham Pisareks Werk eine Bilderchronik zu allen Facetten des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens im Berlin vor und nach 1945. Er wurde am 24. Dezember 1901 in RussischPolen (Przedbórz) als Sohn des jüdischen Kaufmanns Berek Pisarek und dessen Ehefrau Sura geboren. Nach dem Besuch der Religions- und Mittelschule in Łódź ging er berufssuchend 1918 illegal nach Leipzig, arbeitete in Herne und in Berlin. Nebenbei belegte er Kurse in Illustrationsfotografie, der er sich später in Berlin beruflich ganz zuwandte. 1924 reiste er nach Palästina und lebte dort als Pionier (hebr. Chaluz). Es folgte ein kurzer Aufenthalt in Frankreich, bevor sich Pisarek 1928 in Berlin freischaffend tätig niederließ. 1929 trat er dem Reichsverband der deutschen Presse bei. Seine Verbindungen zur KPD führten zur Zusammenarbeit mit John Heartfield sowie mit der Arbeiterfotografengruppe BerlinNord. Pressereportagen, Arbeiten für Bildverlage wie Mauritius, der ihn für Prominentenporträts nach Italien, West- und Osteuropa schickte, und für die Berliner Bühnen bestimmten nun sein Schaffen. Pisareks Fotografien wurden in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung und in der jüdischen Presse veröffentlicht. Durch einen Porträtauftrag mit Max Liebermann bekannt, traf er in dessen Umkreis bedeutende Künstler und Literaten der Weimarer Republik. Pisarek sind die einzigen, heimlich aufgenommenen Bilder vom Begräbnis des Malers zu verdanken. Unter dem Naziregime durfte er ausschließlich im Bereich der Berliner jüdischen Gemeinde arbeiten und war als einziger Fotograf für die jüdische Presse und den Kulturbund Deutscher Juden – einer Alibi-Einrichtung der Nationalsozialisten – zugelassen. Er beteiligte sich an illegaler antifaschistischer Arbeit, wurde mehrmals verhaftet und von der Gestapo vorgeladen. Nach Auflösung der jüdischen Organisationen arbeitslos, folgte der Zwangsarbeitseinsatz, u. a. als Dolmetscher für polnische und sowjetische Zwangsarbeiter. Durch seine sogenannte »Mischehe« mit der aus Leningrad stammenden Nichtjüdin Berta Isigkeit, die er 1928 geheiratet hatte, blieb er von der Deportation verschont und entging dem Holocaust. Als »Bildberichter« mit Zonenpass einer der ersten zugelassenen Presse- und Theaterfotografen in der sowjetischen Besatzungszone, dokumentierte Pisarek nach 1945 den Wiederaufbau und das Kulturleben Berlins. Der bedeutende Dokumentarist des Berliner Theaterlebens wurde nach der Ära der Piscator-Bühne auch Bertolt Brechts Bühnenfotograf. Mit seiner in Illustrierten publizierten Reportagefotografie von Heimkehrern in Ruinenlandschaften, ersten Aufbauarbeiten, politischen und kulturellen Veranstaltungen der Umbruchszeit konnte er ein Massenpublikum erreichen. Bildergeschichten wie Frau Gundermanns Sorge um das tägliche Brot trafen das Lebensgefühl einfacher Menschen in Entbehrung und Not. Den Neubeginn in der DDR mit der Kamera begleitend und vom demokratischen Aufbruch begeistert, trugen Pisareks Bilder gleichzeitig zur Inszenierung des »besseren Deutschlands« bei, dessen antizionistische Tendenzen ihm nicht verborgen blieben. Teils arbeitete er mit gestellten, an »lebende Bilder« erinnernden Szenerien: Arrangements von Pionieren mit drapierten Fahnen, einen Tusch im Pionierlager blasend oder eng um den sitzenden Wilhelm Pieck gruppiert, waren geforderte pathetische Stereotype. Andererseits gelangen Pisarek ungekünstelte, berührende Momentaufnahmen aus dem Alltag, die Optimismus und Lebensfreude in einer schweren Zeit vermitteln sollten. Zuletzt widmete er sich fast ausschließlich der Theater- und Porträtfotografie. Seine umfangreiche Bühnendokumentation reflektiert die Repertoirevielfalt dieser Epoche mit zahlreichen Ur- und Erstaufführungen. Abraham Pisarek starb 82-jährig am 24. April 1983 in Westberlin. KD 114 ABRAHAM PISAREK Filmteam am 1. Mai auf dem eingemauerten Reiterstandbild Friedrichs II., Berlin, 1946, Kunststoffnegativ, Kleinbildformat Berliner Ensemble, Szene aus Die Mutter, 1967, Kunststoffnegativ, Mittelformat Zeltlager auf Hiddensee, 1950, Kunststoffnegativ, Kleinbildformat Berliner Kreiskonferenz zur Vereinigung von KPD und SPD zur SED am 13./14. April 1946, Silbergelatinepapier, 18 × 24,2 cm Ankunft des Berliner Ensembles in Paris, 1954, Kunststoffnegativ, Mittelformat

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1