102 Irena Rabinowicz’ Zeichnungen sind während eines Konzerts entstanden. Brodersen gastierte am 4. Januar 1922 im Dresdner Vereinshaus3 und es ist anzunehmen, dass die Porträts ohne Bekanntschaft zwischen Zeichnerin und Dargestelltem, möglicherweise sogar ohne dessen Wissen entstanden sind. Die Reproduktionen der Zeichnungen begleiteten die Rezension eines späteren Liederabends des Sängers in Dresden. Eine weitere Porträtzeichnung in der Dresdner Woche zeigt den Dichter Kurt Heynicke während einer Lesung in der Galerie Emil Richter. (Abb. 7) Auch hier begleitet die Reproduktion einen Rezensionstext zur entsprechenden Veranstaltung. Aufgrund der zeitnahen Besprechung und der Datierung der Zeichnung auf März 1922 ist anzunehmen, dass es sich hierbei um eine zielgerichtete Auftragsarbeit gehandelt hat. Noch zwei Wochen vor den im zweiten Februarheft abgedruckten Brodersen-Porträts erschien ganzseitig die Reproduktion einer Porträtzeichnung, die den Bildhauer Georg Wrba zeigt. (Abb. 8) Diese war in Rötelkreide ausgeführt und wesentlich genauer ausgearbeitet als die anderen beiden Porträts, die bewusst auf die Aura des spontanen Notats setzten. Die Dresdner Woche musste schon im Juni 1922 aus wirtschaftlichen Gründen ihre Tätigkeit beenden und auch Irena Rabinowicz stellte damit ihre Arbeit für die Presse für längere Zeit ein. Beispiele wie Ludwig Meidners Porträtillustrationen in den Avantgardezeitschriften der 1910er Jahre und deren Verhältnis zum Umfang von Meidners tatsächlichem Porträtportfolio dieser Zeit legen die Hypothese nahe, dass die wenigen publizierten Blätter wohl nur einen kleinen Teil des frühen zeichnerischen Porträtschaffens von Irena Rabinowicz verkörpern. Ob sie selbst diesen Teil ihres Werkes nicht für bewahrenswert gehalten hat oder ob Werke in ihrem Nachlass verlorengingen, lässt sich leider nicht mehr nachvollziehen. Es ist zu vermuten, dass sich ein gestandener Künstler wie der Bildhauer Georg Wrba – seinerseits ebenfalls häufig mit dem Porträtthema befasst – nicht ohne Weiteres einer Studentin ohne alle Referenzen als Modell zur Verfügung gestellt und einer Veröffentlichung des Ergebnisses zugestimmt haben wird. Auch das spricht dafür, dass Irena Rabinowicz sich schon während ihres Akademiestudiums einen gewissen Ruf als Porträtistin erarbeitet hatte. Weitere, fast zeitgleich entstandene Porträtzeichnungen bekräftigen diese Vermutung. Es fällt auf, dass auch die Mehrheit dieser Arbeiten Persönlichkeiten aus dem Dresdner Bühnen- und Musikleben darstellt. (Abb. 9) Zumeist arbeitete die Künstlerin dabei in Kohle oder Kreide, was ihr die Möglichkeit zu Korrekturen im Entstehungsprozess offenließ. Einzelne Blätter stellen als Tuschzeichnung die Ausnahme dar, wie etwa das Porträt des Sängers Tino Pattiera. (Kat. 12) Ob auch diesem Blatt eine Kreideskizze voranging, ist nicht bekannt. Die Kombination aus Feder- und Pinseleinsatz legt nahe, dass das Blatt nicht außerhalb des Ateliers entstanden sein wird. Die lebendige Strichführung beweist jedoch die versierte Sicherheit der Künstlerin. 5 Porträt Friedrich Brodersen, 1922, schwarze Kreide, 27 × 19,7 cm, bez. u.r.: Irena Rüther-Rabinowicz / 4. 1. 22, Privatbesitz 6 Der Sänger Friedrich Brodersen, in: Dresdner Woche, 1. Jg. 1922, Heft 6, S. 14
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