Leseprobe

17 Von 1911 bis 1912 wohnte die Familie Rabinowicz in der Sedanstraße 3, anschließend bis 1913 in der Sedanstraße 9 und ab 1913 bis 1916 im Wohnhaus Kurze Straße 1.16 Der Grund für die häufigen Umzüge liegt im Nebel der Vergangenheit. Irena besuchte in Chemnitz die Höhere Mädchenschule und später bis zur dritten Klasse die Höhere städtische Töchterschule in der Annenstraße. Dort lernte sie ihre Freundin Mechthild kennen. Die beiden unternahmen viele Ausflüge in die Natur und feierten Feste. Eine Fotografie vom Februar 1914 zeigt die Mädchen in einer größeren Kindergruppe bei einem Faschingsfest – ein frühes Belegstück dafür, wie gern Irena in andere Rollen schlüpfte und wie viel Spaß sie an Verkleidungen hatte. (Abb. 6) Schon 1912 nahm sie Malunterricht bei der Malerin Berta Spyers (1873–1933), die bei Max Liebermann an der Berliner Akademie der Künste studiert hatte.17 Wie Irena 1919 in ihrem Lebenslauf zur Bewerbung an der Dresdner Kunstakademie schrieb, widmete sie sich nach dem Schulabgang ganz dem Zeichnen. Am 11. März 1916 zog Heinrich Rabinowicz »stellungshalber« nach Niedersedlitz, damals ein aufstrebender Vorort von Dresden.18 Das dort ansässige Sachsenwerk hatte über die Landesgrenzen hinweg einen ausgezeichneten Ruf, sodass es ihm leichtfiel, die dort angebotene Stelle als Oberingenieur anzunehmen. Darüber hinaus scheint Heinrich Rabinowicz aber auch bereits anderen Geschäften und Entwicklungen nachgegangen zu sein. Im August 1916 nahm er an einer Ausstellung für Kriegsfürsorge in Köln teil und zeigte dort Zeichnungen und Beschreibungen eines künstlichen Armes mit automatischer Finger- und Unterarmbewegung.19 Die Ausstellung wurde am 12. September 1916 in den Dresdner Nachrichten besprochen, dabei fand der Diplom-­ Ingenieur Heinrich Rabinowicz besondere Erwähnung. Inzwischen hatte Irenas Vater eine geeignete Wohnung in der Dresdner Innenstadt gefunden, sodass nun auch die bis dahin noch in Chemnitz verbliebene Familie nach Dresden umziehen konnte. Die Mitglieder der Familie Rabinowicz waren von Geburt russische Staatsbürger. Dass sie während des Ersten Weltkriegs nicht wie andere russische Staatsangehörige als feindliche Ausländer interniert gewesen sind,20 erscheint erstaunlich. Ebenso bleibt die Frage im Unklaren, ob die Rabinowicz’ mit der Gründung der Republik Polen Ende 1918 automatisch zu polnischen Staatsbürgern wurden oder sich aktiv darum bemüht haben. Später sollte die polnische Staatsbürgerschaft für Sabina und Heinrich Rabinowicz eine schicksalhafte Bedeutung bekommen. In den Dresdner Adressbüchern ist der Oberingenieur Heinrich Rabinowicz ab 1917 mit Wohnung auf der Albrechtstraße 20, 3. Etage, aufgeführt. Die Straße führte von der Bürgerwiese mit ihren Stadtpalais des Großbürgertums bis zum Landgerichtsgefängnis in der weit weniger mondänen Johannstadt. Die Familie Rabinowicz wohnte in einem großen fünfgeschossigen Mietshaus an der Kreuzung zur Seidnitzer Straße. Irena besuchte einige Monate die Malschule von Fritz Stotz in dessen Wohnatelier Grunaer Straße 8, was fußläufig von der elterlichen Wohnung zu erreichen war. Danach wurde sie für ein halbes Jahr Privatschülerin bei Georg Erler (1871– 3 Willy Weinbach, Köln-Nippes, Irena mit ihren Geschwistern Georg und Helena, um 1906/07 4 Irena mit Mutter und Geschwistern in Chemnitz, 1913

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