Leseprobe

Jahrhundertzeugin Die Malerin Irena Rüther-Rabinowicz Herausgegeben von Johannes Schmidt Städtische Galerie Dresden – Kunstsammlung Sandstein Verlag

Irena Rüther-Rabinowicz – eine Dresdner Künstlerin des 20. Jahrhunderts Irena Rüther-Rabinowicz – A Dresden Artist of the 20th Century Eine biografische Skizze anhand von Dokumenten und Fotografien A Biographical Sketch Based on Documents and Photographs Matthias Müller & Johannes Schmidt Die Porträtmalerei von Irena Rüther-Rabinowicz The Portrait Painting of Irena Rüther-Rabinowicz Johannes Schmidt Werke bis 1944 Die Stillleben The Still Lifes Laura Krogh Fogt Werke ab 1945 Die porträtierten Personen Persons portrayed Matthias Müller & Johannes Schmidt Verzeichnis der Werke im Katalogteil Abkürzungen Abbreviations Erwähnte und zitierte Quellen Leihgeber + Autoren Impressum + Fotonachweise Seite / page 11 13 15 69 99 119 132 161 168 171 200 210 220 222 222 223 225 226 Inhalt / Content

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11 Irena Rüther-Rabinowicz – eine Dresdner Künstlerin des 20. Jahrhunderts Mit dem Werk von Irena Rüther-Rabinowicz präsentiert die Städtische Galerie nicht allein eine bemerkenswerte künstlerische Position der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für das Kunstmuseum der Landeshauptstadt Dresden haben diese Ausstellung und der hier vorgelegte Katalog darüber hinaus auch wichtige kulturhistorische Aspekte. Im Zuge des Festjahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« wurde 2021 gebündelte Aufmerksamkeit auf die Geschichte des Judentums in Deutschland, in Sachsen und auch in Dresden gelenkt. Dies war nicht nur in unserer Stadt der Auftakt für vielfältige Nachsuchen zu bisher nicht oder wenig beachteten Zusammenhängen der Geschichte und auch zu interessanten jüdischen Biografien. Unsere Ausstellung ist als einer von vielen Bausteinen dieser Initiative zu verstehen, mit der das Bewusstsein dafür gestärkt werden soll, dass jüdische Menschen wichtige Kulturträger in unserem Land sind und waren. Mit der Biografie der Malerin Irena Rüther-Rabinowicz stellen wir einen exemplarischen Lebenslauf des 20. Jahrhunderts vor. Geboren 1900 in Köln als Tochter einer bürgerlichen jüdischen Familie, die aus dem heute polnischen Teil des damaligen Zarenreiches stammte, wuchs sie in behüteten Verhältnissen in Köln, Chemnitz und Dresden auf. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gehörte sie zu den ersten angehenden Künstlerinnen, die an der ehemals Königlichen und nun Staatlichen Dresdner Kunstakademie studieren durften. Als Kommilitonin und Ateliernachbarin von Otto Dix und Otto Griebel erlebte sie hautnah die fieberhaften künstlerischen Aktivitäten und Entwicklungen der ersten Nachkriegsjahre mit. Im Studium lernte sie auch Hubert Rüther kennen, den sie 1921 heiratete. Für ihre Familie, die keine engen religiösen Bindungen hatte, stellte die Ehe mit dem Katholiken Rüther kein Problem dar. Dem Paar gelang es, im Laufe des folgenden Jahrzehnts einen wichtigen Platz in der Dresdner Kunstszene zu erringen. Während Hubert Rüther vor allem Landschaften malte und Kunst am Bau gestaltete, etablierte sich Irena Rüther-­ Rabinowicz schnell als Bildnismalerin. Ihr kulturelles Interesse wird anhand der von ihr porträtierten Personen deutlich – neben Künstlerkollegen waren dies vor allem prominente Personen aus dem Kunst- und Musikleben der Stadt. Unabhängig von ihrer Kunst lebte die Malerin einen selbstbestimmten, für die 1920er Jahre sehr progressiven Lebensstil. Sie stand für Künstlerkollegen Modell, ging mit ihrem Freund und Mentor Fritz Hofmann-Juan auf Reisen nach Italien, widmete sich dem Reitsport und trat schließlich sogar als Dressurreiterin im Zirkus Sarrasani auf. Dies alles endete abrupt mit dem Jahr 1933 und der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Irena Rabinowicz1 und Hubert Rüther wurden schrittweise ihrer Anbindung an das öffentliche Kunstleben beraubt. Sie verloren ihre Mitgliedschaften in Künstlerverbänden und Reichskulturkammer und bald stellte auch keine private Galerie mehr Werke von Irena Rabinowicz aus. Bis Anfang 1945 überstand das Künstlerpaar jedoch die bis zur Zwangsarbeit reichenden Repressalien. Als im Februar 1945 ein Sammelbefehl an die wenigen, bisher aufgrund von nichtjüdischen Ehepartnern verschont gebliebenen Dresdner Juden erging, betraf dies auch Irena Rabinowicz. Nur die Bombenangriffe auf Dresden am 13. und 14. Februar verhinderten ihre für den 16. des Monats vorgesehen gewesene Deportation. Nach 1945 begann für die Künstlerin ein neues, wenn auch ebenfalls nicht unproblematisches Leben. Sie fügte sich in die gesellschaftlichen Entwicklungen und genoss als Verfolgte des Naziregimes sogar gewisse Privilegien. Diese Stellung nutzte sie jedoch nach der kulturpolitischen Hysterie der frühen 1950er Jahre nur noch sehr zurückhaltend. Sie blieb ihren künstlerischen Interessen treu und porträtierte wieder prominente Personen aus dem Dresdner Kultur- und Geistesleben. Bis Anfang der 1970er Jahre schuf sie eine regelrechte Bildnisgalerie Dresdner Persön-

12 lichkeiten. Es ist kaum übertrieben zu sagen: Was Irena Rabinowicz auf diese Weise künstlerisch an Quellenmaterial über die 1950er Jahre in Dresden hinterlassen hat, kommt in etwa dem gleich, was uns die Tagebücher des Romanisten Victor Klemperer literarisch über das kulturelle Leben dieser Zeit überliefern. In diesem Sinne ist sie mit ihrem Lebenslauf ebenso wie mit den durch ihre Porträts festgehaltenen Kontakten zu einer Vielzahl von Persönlichkeiten im wahrsten Sinne des Wortes eine Jahrhundertzeugin. Mit der Präsentation der Werke und dem Versuch der Rekonstruktion der Biografie von Irena Rabinowicz schließen wir eine Lücke in der Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Dresden. Dieses Vorhaben wurde nur durch die großzügigen Hilfe aus der Familie der Künstlerin und mit der Förderung unseres Projekts durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen möglich. Wir danken unseren Förderern für ihr Vertrauen in unsere Arbeit! Besonderer Dank gilt außerdem Herrn Matthias Müller, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Leben und Werk von Irena Rabinowicz befasst. Er hat uns nicht nur seine Kenntnisse und sein umfangreiches Archiv zur Verfügung gestellt, sondern auch selbst an der Vorbereitung von Ausstellung und Katalog mitgewirkt. Dr. Gisbert Porstmann Direktor Museen der Stadt Dresden Dr. Johannes Schmidt Kurator der Ausstellung 1 D ie Künstlerin war zweimal verheiratet und signierte in diesen Zeiträumen mit ihren jeweiligen Doppelnamen RütherRabinowicz und Zimmermann-Rabinowicz. Zu Beginn der NSZeit hatte sie versucht, ihre Identität hinter dem neutral klingenden Namen Irene Rüther zu verbergen und in der DDRZeit wurde sie häufig mit dem Vornamen Irina erwähnt. Im Folgenden haben wir uns für die vereinfachende Version Irena Rabinowicz entschieden.

15 Irena Rabinowicz1 wurde im Jahr 1900 geboren. Ihre Familie stammte aus Warschau, das von 1865 bis zum Ersten Weltkrieg als Hauptstadt von Russisch-Polen zum Zarenreich gehörte. Ihr Vater Heinrich, genannt Henios, war am 27. August 1872 in Warschau als das jüngste von sechs Kindern des Bankprokuristen und Geschäftsmannes David Rabinowicz (1830–1907) und seiner Frau Regina Studencka (1862–1918) geboren. Mit neunzehn Jahren musste er einen zweijährigen Militärdienst in der russischen Armee leisten.2 Erst danach wurde ihm gestattet, das Land zu verlassen. Er kam daraufhin nach Deutschland und begann ein Studium an der Königlichen Technischen Hochschule Hannover und am Technikum Braunschweig. Am 12. Juli 1899 absolvierte er die Diplomprüfungen im Fach Elektrotechnik in Hannover. Das Studium schloss er als Diplom-Ingenieur am 20. Dezember 1902 ab. Eine kaufmännische Laufbahn hatte er abgelehnt.3 Er lernte Englisch, um später einmal in die USA auszuwandern. Noch vor der Beendigung seines Studiums heiratete er die acht Jahre jüngere Sabina Benzef, die ebenfalls aus Warschau stammte. Ihre Hochzeit fand am 21. Dezember 1899 (jul. K.) bzw. 2. Januar 1900 (greg. K.) in Warschau beim Standesbeamten für neuchristliche Konfessionen statt. Die Eheurkunde benennt den Bräutigam als Bauingenieur und ständigen Einwohner der Stadt Warschau. Seine noch minderjährige Braut Sabina war die Tochter des bereits 1883 im Alter von nur 34 Jahren verstorbenen Leopold Benzef. Von ihrer Mutter sind nur Geburts- und Todesdatum bekannt.4 Die Frischvermählten erklärten, dass sie schon am 15. (greg. K.: 27.) Dezember einen notariellen Ehevertrag geschlossen hatten.5 Eine biografische Skizze anhand von Dokumenten und Fotografien Matthias Müller und Johannes Schmidt

16 Die Mutter des Bräutigams legte ihrem Sohn nahe, sich in Köln in der Nähe seines älteren Bruders Leopold, genannt Lutek, niederzulassen.6 Er folgte diesem Rat und das junge Ehepaar bezog eine Wohnung in der Glasstraße 16 in Köln-Ehrenfeld. Dort kam Irena Rabinowicz am 22. September 1900 zur Welt. Bis zu ihrem zweiten Schuljahr wuchs sie in Köln auf. Sie war die Älteste von drei Geschwistern. Ihr Bruder Georg wurde am 21. Oktober 1901 geboren, ihre Schwester Helena, genannt Lilly, am 4. Dezember 1905. Am 27. September 1905 wurde Irena in der evangelischen Kirchen- und Pfarrgemeinde Cöln getauft.7 Vater und Mutter gehörten von Geburt dem mosaischen Glauben an, konvertierten jedoch zum Protestantismus und ließen auch Irenas jüngere Geschwister evangelisch taufen.8 Das genaue Jahr lässt sich nicht mehr feststellen. Da die Wohnung in der Glasstraße für fünf Personen zu klein wurde, bezog die Familie 1906 eine etwas größere und ruhiger gelegene Wohnung in der Franziskastraße 3 in Köln-Nippes. Irenas Mutter war sehr musikalisch, sie liebte das Klavierspiel und die zeitgenössische Literatur überaus. Berichtet wird auch, dass sie ihre drei Kinder mit Liebe und Strenge erzog9 und den täglichen Haushalt der Familie führte. Sabina Rabinowicz hatte noch drei Geschwister, von denen ein Bruder und eine Schwester jung verstarben.10 Ihrem vier Jahre älteren Bruder Stefan, hebräisch Samuel genannt, der am 31. Januar 1876 in Warschau geboren worden war11, gelang eine außergewöhnliche berufliche Karriere. Schon im Alter von 24 Jahren wurde er stellvertretender Vorstand der Azov-Donski Bank Warschau, 1910 Direktor und 1922 Präsident der Warschauer Bank für Handel. Stefan Benzef saß im Vorstand der Lechia-Rückversicherungsbank und im Aufsichtsrat des polnischen Elektroverbands. Darüber hinaus hatte er eine ganze Reihe von Funktionen in wirtschaftlichen, politischen und gemeinnützigen Organisationen inne. 1924 wurde ihm das Kommandantenkreuz des Ordens von Polonia Restituta verliehen. Er verstarb am 8. Juni 1951 in Warschau und wurde neben seiner Ehefrau, der Pianistin Róża Benzefowa, auf dem Powązki-Friedhof beigesetzt.12 Im Juni 1908 zogen Heinrich und Sabina mit ihren heranwachsenden Kindern nach Helbersdorf, einer kleinen Ortschaft am Rande von Chemnitz, die erst im Oktober 1909 zur Stadt eingemeindet werden sollte.13 Sie bezogen zunächst eine Mietwohnung in der Helbersdorfer Straße 22, einem um 1905 gebauten villenartigen Gebäude, nur wenige hundert Meter von der Villa Esche entfernt. Voraussetzung für den Umzug war ein berufliches Angebot an Heinrich Rabinowicz gewesen, der in der sächsischen Industriemetropole eine Anstellung als Oberingenieur übernehmen sollte. Sein Arbeitgeber war vermutlich die Fabrik für Präzisionsmechanik und Elektrotechnik Max Kohl. Dort hatten Restrukturierungsmaßnahmen nach dem Tode des Firmeninhabers dazu geführt, dass eine Stelle entsprechend den beruflichen Fähigkeiten von Heinrich Rabinowicz vakant wurde.14 Aufschlussreich für diese Details wäre möglicherweise seine polizeiliche Führungsakte gewesen, die jedoch im März 1945 in Chemnitz verbrannt ist.15 2 Irena mit ihren Eltern und ihrem Bruder Georg in Köln, um 1902/03 1 Die Eltern Heinrich und Sabina Rabinowicz, um 1900

17 Von 1911 bis 1912 wohnte die Familie Rabinowicz in der Sedanstraße 3, anschließend bis 1913 in der Sedanstraße 9 und ab 1913 bis 1916 im Wohnhaus Kurze Straße 1.16 Der Grund für die häufigen Umzüge liegt im Nebel der Vergangenheit. Irena besuchte in Chemnitz die Höhere Mädchenschule und später bis zur dritten Klasse die Höhere städtische Töchterschule in der Annenstraße. Dort lernte sie ihre Freundin Mechthild kennen. Die beiden unternahmen viele Ausflüge in die Natur und feierten Feste. Eine Fotografie vom Februar 1914 zeigt die Mädchen in einer größeren Kindergruppe bei einem Faschingsfest – ein frühes Belegstück dafür, wie gern Irena in andere Rollen schlüpfte und wie viel Spaß sie an Verkleidungen hatte. (Abb. 6) Schon 1912 nahm sie Malunterricht bei der Malerin Berta Spyers (1873–1933), die bei Max Liebermann an der Berliner Akademie der Künste studiert hatte.17 Wie Irena 1919 in ihrem Lebenslauf zur Bewerbung an der Dresdner Kunstakademie schrieb, widmete sie sich nach dem Schulabgang ganz dem Zeichnen. Am 11. März 1916 zog Heinrich Rabinowicz »stellungshalber« nach Niedersedlitz, damals ein aufstrebender Vorort von Dresden.18 Das dort ansässige Sachsenwerk hatte über die Landesgrenzen hinweg einen ausgezeichneten Ruf, sodass es ihm leichtfiel, die dort angebotene Stelle als Oberingenieur anzunehmen. Darüber hinaus scheint Heinrich Rabinowicz aber auch bereits anderen Geschäften und Entwicklungen nachgegangen zu sein. Im August 1916 nahm er an einer Ausstellung für Kriegsfürsorge in Köln teil und zeigte dort Zeichnungen und Beschreibungen eines künstlichen Armes mit automatischer Finger- und Unterarmbewegung.19 Die Ausstellung wurde am 12. September 1916 in den Dresdner Nachrichten besprochen, dabei fand der Diplom-­ Ingenieur Heinrich Rabinowicz besondere Erwähnung. Inzwischen hatte Irenas Vater eine geeignete Wohnung in der Dresdner Innenstadt gefunden, sodass nun auch die bis dahin noch in Chemnitz verbliebene Familie nach Dresden umziehen konnte. Die Mitglieder der Familie Rabinowicz waren von Geburt russische Staatsbürger. Dass sie während des Ersten Weltkriegs nicht wie andere russische Staatsangehörige als feindliche Ausländer interniert gewesen sind,20 erscheint erstaunlich. Ebenso bleibt die Frage im Unklaren, ob die Rabinowicz’ mit der Gründung der Republik Polen Ende 1918 automatisch zu polnischen Staatsbürgern wurden oder sich aktiv darum bemüht haben. Später sollte die polnische Staatsbürgerschaft für Sabina und Heinrich Rabinowicz eine schicksalhafte Bedeutung bekommen. In den Dresdner Adressbüchern ist der Oberingenieur Heinrich Rabinowicz ab 1917 mit Wohnung auf der Albrechtstraße 20, 3. Etage, aufgeführt. Die Straße führte von der Bürgerwiese mit ihren Stadtpalais des Großbürgertums bis zum Landgerichtsgefängnis in der weit weniger mondänen Johannstadt. Die Familie Rabinowicz wohnte in einem großen fünfgeschossigen Mietshaus an der Kreuzung zur Seidnitzer Straße. Irena besuchte einige Monate die Malschule von Fritz Stotz in dessen Wohnatelier Grunaer Straße 8, was fußläufig von der elterlichen Wohnung zu erreichen war. Danach wurde sie für ein halbes Jahr Privatschülerin bei Georg Erler (1871– 3 Willy Weinbach, Köln-Nippes, Irena mit ihren Geschwistern Georg und Helena, um 1906/07 4 Irena mit Mutter und Geschwistern in Chemnitz, 1913

18 1951), der seit 1913 als Professor für figürliches Zeichnen an der Königlichen Kunstgewerbeschule lehrte. Erler war vor allem als Grafiker und Karikaturist bekannt. Bereits ab August 1918 beschäftigte sich Irena mit dem Kopieren eines Gemäldes in der Dresdner Gemäldegalerie, möglicherweise auf Anregung ihrer Privatlehrer. Kopisten mussten sich bei der Museumsverwaltung anmelden und registrieren lassen, fertiggestellte Gemäldekopien wurden von der Galerie autorisiert. Ob sie die registrierte Kopie des Velázquez-Porträts eines Santiagoritters fertiggestellt hat, ist leider nicht in Erfahrung zu bringen. Im Kopistenverzeichnis ist sie bereits als Polin erfasst worden.21 Im Atelier von Stotz oder Erler lernte Irena in der ersten Jahreshälfte 1919 Fritz Max Hofmann, genannt Hofmann-Juan, kennen. Der 1873 geborene Maler war in den 1890er Jahren an der Dresdner Akademie noch Student bei Leonhard Gey, Julius Scholtz, Ferdinand Pauwels und Leon Pohle gewesen. Bis 1914 war er viel gereist und hatte in Paris und in München studiert. Seit 1919 5 Die drei Geschwister Rabinowicz in Chemnitz, 1915 6 Fasching 1914 – verso bez.: Maskenball bei Mechthilde 21. 1. 1914, Irena vorn links kniend im Geisha-Kostüm, ganz rechts ihre Schwester Helena

19 wohnte er als Untermieter im Haus Kügelgenstraße 2 in Loschwitz, das er 1920 erwarb.22 Durch die Ausstellungen der Dresdner Kunstgenossenschaft war er als Maler nicht unbekannt in der Stadt. Die Bekanntschaft mit ihm sollte sich für Irenas gesamtes Leben als äußerst folgenreich erweisen. Möglicherweise war es Hofmann-Juan, der sie an den Akademieprofessor Otto Gussmann empfohlen und überhaupt zu einer Bewerbung an der Kunstakademie angeregt hat. Ende September 1919, kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag, wurde die junge Malerin als eine der ersten drei Frauen an der Kunstakademie Dresden immatrikuliert.23 Noch in der Satzung der Akademie von 1915 war die Aufnahme weiblicher Studenten ausgeschlossen gewesen. Erst mit den Reformen nach dem Ende der sächsischen Monarchie wurde der betreffende Passus im Februar 1919 neu gefasst: »Damen werden grundsätzlich zugelassen.« Trotzdem war man zunächst noch bestrebt, »die Zahl der weiblichen Studierenden tunlichst zu be7 Irena und eine Freundin im Herbst 1916 in Dresden (im Hintergrund das Gebäude der Sächsischen Handelsbank am damaligen Johannesring)

20 8 Studienblatt, 1918, Feder und Tusche, 49 × 65,2 cm, bez. u. r.: Irene Rabinowicz/ 22. 2. 18, Privatbesitz 9 Der Maler Fritz Stotz in seinem Atelier, um 1918/19 schränken«.24 Irena trat in die Schule von Otto Gussmann ein, der seit 1897 an der Akademie lehrte. Seit 1910 leitete er eine Meisterklasse für dekorative Malerei und war damals in Dresden vor allem für seine Wandgemälde im Neuen Rathaus, in der Versöhnungskirche und im Ständehaus bekannt. Sie erhielt ein Atelier außerhalb des Hauptgebäudes der Akademie im Dachgeschoss des ehemaligen Polytechnikums am Antonsplatz zugewiesen. Neben Otto Griebel, Walter Jacob und Otto Meister aus der Klasse von Robert Sterl arbeiteten dort die Gussmann-Schüler Peter August Böckstiegel, Otto Dix, Bernhard Kretzschmar, Heinz Lewerenz, Hubert Rüther und Sergius Winkelmann. Mehrheitlich bestand diese Gruppe aus ehemaligen Frontsoldaten, die ihre künstlerische Ausbildung schon vor dem Weltkrieg begonnen hatten. Hubert Rüther beispielsweise war nach zwei Jahren an der Königlichen Zeichenschule und zwei weiteren an der Kunstgewerbeschule im Herbst 1911 an die Akademie gekommen und hatte bis zum Sommer 1914 bei Oskar Zwintscher und im Atelier von Gotthardt Kuehl studiert. Nach vier Jahren Militärdienst schrieb er sich im Februar 1919 wieder als Student ein. Ähnlich Otto Griebel, der 1909 in die Königliche Zeichenschule eingetreten war, 1911 an die Kunstgewerbeschule gewechselt war und von da 1915 zum Militärdienst eingezogen wurde. Nach dem Krieg schrieb er sich zunächst wieder an der Kunstgewerbeschule ein, ehe er wie Irena Rabinowicz im Herbst 1919 an die Akademie kam. Griebel schilderte die durch den separaten Atelierstandort gewährleistete Selbstständigkeit, die dem Studium der bereits fortgeschrittenen Studenten zu entsprechen schien. Die Hauptetagen des Gebäudes am Antonsplatz wurden vom Oberverwaltungsgericht genutzt und die Akademieprofessoren suchten die Ateliers nur »in gewissen Zeitabständen« auf, gaben Korrektur und erteilten »Lehren über das, was wir zeichneten oder malten, […] ohne aber die gewählten Themen zu kritisieren oder gar anzufechten. Ein jeder von uns durfte sich auf der Leinewand oder dem Papier ausdrücken, wie es ihm nur gefiel; mit der einzigen Forderung der Professoren, daß immer wieder einiges Neue zu sehen war.«25 Griebel beschrieb Böckstiegel und Kretzschmar als verschlossen, erwähnte jedoch »regen Gedankenaustausch« mit Lewerenz, Rüther und Irena Rabinowicz. Winkelmann malte »Porträts im Kuehlschen Stil«, über Irena Rabinowicz wusste er zu berichten, dass sie »expressionistisch malte«. Gerüchteweise überliefert ist, dass Gussmann die junge Malerin in dieser Umgebung vorsorglich unter den besonderen Schutz des Katholiken Hubert Rüther gestellt hat. In der unruhigen Nachkriegszeit scheint die wirtschaftliche Lage der Familie Rabinowicz nicht mehr vollständig gesichert gewesen zu sein. In den Adressbüchern der Stadt ist vermerkt, dass Heinrich Rabinowicz damals von seiner Wohnadresse aus in kurzer Abfolge mehrere Geschäfte betrieben hat. 1919 ist er als Inhaber einer Handlung mit elektrischen Gegenständen genannt, 1920 mit einem Ein- und Ausfuhrgeschäft und 1922/23 mit Ein- und Ausfuhrgeschäft und einer Lederwarenhandlung.

99 Die Porträtmalerei von Irena Rüther-Rabinowicz Das Frühwerk bis 1944 Mit dem Ende der sächsischen Monarchie ging auch ein kunsthistorisches Kapitel zu Ende. Die Rede ist von der repräsentativen Bildnismalerei, die in Dresden vor dem Ersten Weltkrieg ähnlich wie in anderen kulturellen Zentren Deutschlands noch eine durchaus gewichtige Rolle gespielt hatte. So war beispielsweise noch 1911 zur Einweihung des Dresdner Neuen Rathauses eine Ausstattung mit großformatigen Prunkbildnissen sächsischer Könige in Szene gesetzt worden. Personen des öffentlichen Lebens, wie Graf Vitzthum von Eckstädt oder der Industrielle August Lingner, lancierten ihre Bildnisse in museale Sammlungen und in die von ihnen geleiteten oder initiierten Institutionen. Solche Konventionen erlebten mit den gesellschaftlichen Veränderungen nach 1918 zwar keinen vollständigen Abbruch, doch aber einen gravierenden Bedeutungsverlust. Dass die Porträtmalerei sich im veränderten gesellschaftlichen Umfeld neu ausrichtete und wenigstens teilweise neu behaupten konnte, ist in Dresden einer Handvoll Künstlern zu verdanken, die diese Aufgabe in die nächste Generation weitergereicht hat. Allen voran ist hier Robert Sterl zu nennen, der als versierter Porträtist in seinen offiziellen Bildnissen eine recht moderne Kombination aus Realismus auf Kundenwunsch mit impressionistisch-malerischer Finesse im Detail und kalkulierter Ökonomie der künstlerischen Mittel gefunden hatte. Otto Gussmann, neben Sterl der wohl einflussreichste Malereiprofessor der 1920er Jahre an der Dresdner Kunstakademie und nur zwei Jahre jünger als dieser, nahm bereits eine modernere Haltung zur Porträtmalerei ein. Er war weniger als Porträtist in öffentlichem oder offiziellem Auftrag gefragt, denn als virtuoser Schöpfer von modernen privaten Bildnissen auf der Höhe des Zeitgeistes. Für Sterl stand das Bildnis als offizielle Pflichtaufgabe neben seinem künstlerischen Interesse an Darstellungen des Menschen in dynamischen Bewegungsprozessen und im Zusammenwirken mit ihrer Umgebung. Lediglich in seinen Dirigentenbildnissen fanden beide Bereiche seines Schaffens effektvoll zueinander. Gussmann, Professor für dekorative Malerei und Schöpfer malerischer Gebäudeausstattungen wie etwa im erwähnten Dresdner Rathausbau der Zeit vor dem Weltkrieg, lebte sich in einfühlsamen Bildnissen attraktiver Damen der Gesellschaft in lockerer Modernität künstlerisch aus. Auch der Vergleich der Bildformate von Porträts beider Künstler – Sterls Darstellungen ernster Männlichkeit in repräsentativen Großformaten und Gussmanns intime Salonbilder – verdeutlicht die wichtigsten beiden Auffassungen zur Bildnismalerei in Dresden um 1920. Zwischen diesen zwei gegensätzlichen Positionen der älteren Künstlergeneration stand die Porträtkunst in Dresden, als Irena Rabinowicz 1919 ihr Akademiestudium begann. Von Beginn an war ihr künstlerisches Werk bestimmt vom Bildnis als Thema. Leider fehlen Aussagen der Künstlerin, die Aufschluss darüber geben könnten, Johannes Schmidt

100 1 Bildnis Dr. Hermann Mittermaier, um 1920, Öl auf Leinwand, Verbleib unbekannt 2 Fritz Hofmann-Juan, Bildnis des Tenors Richard Tauber, um 1920, Öl auf Leinwand, 116×90,3 cm, Städtische Sammlungen Freital 3 Mädchenporträt im Kimono, um 1920/21, Öl auf Leinwand, Maße und Verbleib unbekannt ob hinter dieser Fokussierung ein psychologisches Interesse oder etwa vorrangig pragmatische Überlegungen zur Auftragsmalerei gestanden haben. Wir wissen nicht, was genau sie am Porträt interessiert hat. Offensichtlich war sie nicht auf der Suche nach dem Typischen oder der Darstellung ihrer Zeit wie etwa ihr Kommilitone Otto Dix, es ging ihr bei ihren Bildnissen wohl eher um das Ergründen individueller Besonderheiten. Das Interesse am künstlerischen Charisma im individuellen Ausdruck und vielleicht auch der feststehende Ausgangspunkt für ein Bild, der im Porträtfach immer in der Eigenart der abzubildenden Person gegeben ist, können fördernd für ihre Hinwendung zum Bildnis gewirkt haben. Ein weiterer möglicher Beweggrund mag die Möglichkeit zum Eintritt in einen interessanten gesellschaftlichen Kreis gewesen sein, der ihr mit dem Porträtieren prominenter Personen aus Kunst und Kultur geöffnet wurde. Der traditionelle Auftraggeber hatte mit seiner Nachfrage eine bestimmte Form der Porträtmalerei erzeugt, bei der Ähnlichkeit, ein wohlwollender Blick des Künstlers und eine würdige und originelle Komposition wichtige Kriterien für den Erfolg eines Auftragsbildnisses waren. Nicht nur künstlerische Fertigkeiten, sondern auch Einfühlungsvermögen und ein Gefühl für die Erwartungen des Gegenübers waren dafür Voraussetzungen. Das früheste bekannte Bildnisgemälde im Werk von Irena Rabinowicz, das möglicherweise ein Auftragswerk gewesen sein könnte, ist das Porträt von Dr. Hermann Mittermaier. (Abb. 1) Mittermaier war mit Hubert Rüther, dem Kommilitonen und späteren Ehemann der Künstlerin, aus der Zeit des Weltkriegs bekannt. Er hatte den Lazarettzug geleitet, in dem auch Rüther tätig gewesen ist. Die Künstlerin wählte für Mittermaiers Bildnis die Ansicht als Halbfigur im Halbprofil. Der Porträtierte schaut nach links aus dem Bild am Betrachter vorbei, seine Hände liegen ruhig im Schoß und die Unterarme auf den Lehnen des Stuhles, dessen geschnitzte Lehne rechts den Abschluss bildet.1 Der Hintergrund ist offenbar monochrom belassen, die Malerei wirkt glatt, aber nicht unstrukturiert. Einige Details wie die Konturen des Hemdkragens, die Schatten unter den Revers und das Muster der Krawatte zeigen bereits Ansätze zu einer Reduktion im Umgang mit malerischen Mitteln. Hier suchte die Künstlerin auf einfache Art Wirkungen zu erzeugen und malerische Präzision nur auf die wichtigsten Details wie Gesicht und Hände zu konzentrieren. Insgesamt handelt es sich um ein durchaus konventionelles Porträt ohne größeren inszenatorischen Aufwand. Mit der Komposition dieses Bildnisses hatte Irena Rabinowicz offenbar bereits die ihr liebste Form der Porträtgestaltung gefunden, die sie über ihr gesamtes künftiges Schaffen hinweg bevorzugen sollte: Überwiegend stellte sie zu porträtierende Personen sitzend dar. Hintergründe bleiben dabei als offene Farbräume zumeist neutral und verschiedene Lehnstühle geben den einzigen Halt. Möglicherweise stand ihr bei diesen prinzipiellen Formfindungen auch ihr Freund und Mentor Fritz Hof-

101 4 Bildnis eines Mädchens, um 1920/21, Öl auf Leinwand, Maße und Verbleib unbekannt mann-Juan zur Seite, dessen annähernd zeitgleich entstandenes Bildnis des Tenors Richard Tauber (Abb. 2) ähnliche Bildelemente aufweist.2 In eine ganz andere Richtung sind zwei verschollene Mädchenporträts (Abb. 3 u. 4) und ein Selbstbildnis (Kat. 5) gestaltet, die aus der Zeit um 1920/21 stammen. Hier sind die Bildausschnitte enger gefasst, die Figuren sind als Bruststücke wiedergegeben und treten so dem Betrachter unmittelbarer gegenüber. Von der distanzierten Darstellung menschlicher Individualität, die als charakteristisch für das Porträt der Neuen Sachlichkeit angesehen wird, ist nichts zu spüren. Die Malerei wirkt haptisch, den Hintergründen geben breite Pinselstriche Struktur. Die Blicke der Dargestellten gehen am Betrachter vorbei oder wenden sich ihm über die Schulter wie zufällig entgegen. Zimmerpflanzenarrangements geben den Kompositionen einen intimen Charakter – keinesfalls handelt es sich hier um Auftragswerke für Personen, die der Künstlerin nicht nahestanden. Das »Mädchen im Kimono« könnte möglicherweise ein erstes Bildnis der mit ihr bekannten Elisabeth Charlotte Kierdorf sein, von der Irena Rabinowicz wenige Jahre später noch zwei weitere Porträts schuf. Sicher sind das Bildnis Mittermaiers und die beiden Mädchenporträts nicht die einzigen verschollenen Werke aus dieser Zeit. 1922, im Jahr der Geburt ihres Sohnes Peter, finden sich auch reproduzierte Porträtzeichnungen von Irena Rabinowicz als Abbildungen in der Kulturzeitschrift Dresdner Woche. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Künstlerin schon zu dieser Zeit häufig und mit einiger Routine porträtiert hat. Zu den auf den 4. Januar 1922 datierten beiden Porträts des Sängers Friedrich Brodersen existiert noch eine vorbereitende Skizze (Abb. 5), welche ihn als Dreiviertelfigur zeigt und bis auf die noch unschlüssig ausformulierten Arme dem reproduzierten Porträt sehr ähnlich ist. Die andere Zeichnung in der Dresdner Woche gibt etwas mehr von der Bühnensituation wieder – links im Bild sind der Flügel und die den Sänger begleitende Pianistin zu sehen. (Abb. 6) Diese skizzenhaften Zeichnungen erinnern an Robert Sterls ›Porträts in Aktion‹, wie sie dieser während Opern- und Konzertaufführungen angefertigt hat. Auch

102 Irena Rabinowicz’ Zeichnungen sind während eines Konzerts entstanden. Brodersen gastierte am 4. Januar 1922 im Dresdner Vereinshaus3 und es ist anzunehmen, dass die Porträts ohne Bekanntschaft zwischen Zeichnerin und Dargestelltem, möglicherweise sogar ohne dessen Wissen entstanden sind. Die Reproduktionen der Zeichnungen begleiteten die Rezension eines späteren Liederabends des Sängers in Dresden. Eine weitere Porträtzeichnung in der Dresdner Woche zeigt den Dichter Kurt Heynicke während einer Lesung in der Galerie Emil Richter. (Abb. 7) Auch hier begleitet die Reproduktion einen Rezensionstext zur entsprechenden Veranstaltung. Aufgrund der zeitnahen Besprechung und der Datierung der Zeichnung auf März 1922 ist anzunehmen, dass es sich hierbei um eine zielgerichtete Auftragsarbeit gehandelt hat. Noch zwei Wochen vor den im zweiten Februarheft abgedruckten Brodersen-Porträts erschien ganzseitig die Reproduktion einer Porträtzeichnung, die den Bildhauer Georg Wrba zeigt. (Abb. 8) Diese war in Rötelkreide ausgeführt und wesentlich genauer ausgearbeitet als die anderen beiden Porträts, die bewusst auf die Aura des spontanen Notats setzten. Die Dresdner Woche musste schon im Juni 1922 aus wirtschaftlichen Gründen ihre Tätigkeit beenden und auch Irena Rabinowicz stellte damit ihre Arbeit für die Presse für längere Zeit ein. Beispiele wie Ludwig Meidners Porträtillustrationen in den Avantgardezeitschriften der 1910er Jahre und deren Verhältnis zum Umfang von Meidners tatsächlichem Porträtportfolio dieser Zeit legen die Hypothese nahe, dass die wenigen publizierten Blätter wohl nur einen kleinen Teil des frühen zeichnerischen Porträtschaffens von Irena Rabinowicz verkörpern. Ob sie selbst diesen Teil ihres Werkes nicht für bewahrenswert gehalten hat oder ob Werke in ihrem Nachlass verlorengingen, lässt sich leider nicht mehr nachvollziehen. Es ist zu vermuten, dass sich ein gestandener Künstler wie der Bildhauer Georg Wrba – seinerseits ebenfalls häufig mit dem Porträtthema befasst – nicht ohne Weiteres einer Studentin ohne alle Referenzen als Modell zur Verfügung gestellt und einer Veröffentlichung des Ergebnisses zugestimmt haben wird. Auch das spricht dafür, dass Irena Rabinowicz sich schon während ihres Akademiestudiums einen gewissen Ruf als Porträtistin erarbeitet hatte. Weitere, fast zeitgleich entstandene Porträtzeichnungen bekräftigen diese Vermutung. Es fällt auf, dass auch die Mehrheit dieser Arbeiten Persönlichkeiten aus dem Dresdner Bühnen- und Musikleben darstellt. (Abb. 9) Zumeist arbeitete die Künstlerin dabei in Kohle oder Kreide, was ihr die Möglichkeit zu Korrekturen im Entstehungsprozess offenließ. Einzelne Blätter stellen als Tuschzeichnung die Ausnahme dar, wie etwa das Porträt des Sängers Tino Pattiera. (Kat. 12) Ob auch diesem Blatt eine Kreideskizze voranging, ist nicht bekannt. Die Kombination aus Feder- und Pinseleinsatz legt nahe, dass das Blatt nicht außerhalb des Ateliers entstanden sein wird. Die lebendige Strichführung beweist jedoch die versierte Sicherheit der Künstlerin. 5 Porträt Friedrich Brodersen, 1922, schwarze Kreide, 27 × 19,7 cm, bez. u.r.: Irena Rüther-Rabinowicz / 4. 1. 22, Privatbesitz 6 Der Sänger Friedrich Brodersen, in: Dresdner Woche, 1. Jg. 1922, Heft 6, S. 14

103 8 Porträt des Bildhauers Georg Wrba, in: Dresdner Woche, 1.Jg. 1922, Heft 4, S. 5 9 Bildnis des Tenors Richard Tauber, 1919, Kreide, Maße und Verbleib unbekannt, bez. u. r.: R. Interessant ist der Schritt von der lockeren Auffassung der frühen Bildniszeichnungen zurück zu einer akademischeren Form des Porträtierens Mitte der 1920er Jahre. Frühe Beispiele wie ein Porträt ihres Onkels Lutek, das Irena Rabinowicz im Alter von etwa 14 Jahren schuf, oder ein Bildnis von Hubert Rüther aus dem Jahr 1919 (Kat. 9) zeigen, dass sie bereits damals das Herstellen eines realistisch-räumlichen Eindrucks mittels Schattierens mit verwischten Kreiden genauestens verstand. Trotzdem machte sie sich die genaue Ausarbeitung klassisch wirkender zeichnerischer Porträts erst frühestens um 1925 generell zu eigen. Malerisch veränderte sich ihr Stil schon etwas früher. Porträtgemälde wie das des Fotografen und Kunsthändlers Hugo Erfurth4 (Kat. 8) zeigen eine strenge Fassung der Formen in ein System nebeneinandergesetzter Flächen – eine Form der Stilisierung, die im Dresdner Kontext nur mit Bildnissen von Fritz Tröger vergleichbar ist, die diese Form flächenhafter Gestaltung in noch ausgeprägterer Form und mit stärkerer zeichnerischer Betonung der Konturen aufweisen.5 (Abb. 10) Weiter als im Bildnis des kunstsinnigen Galeristen, der durch seine Ausstellungen damals in Kontakt mit fast allen Akteuren der avantgardistischen Dresdner Kunstszene stand und zu dessen Konterfei eine originelle Gestaltung zweifellos passte, wagte sich die Künstlerin in dieser Hinsicht jedoch nicht vor. Im Grunde blieb ihre Porträtauffassung traditionell geprägt, was auch ihre regelmäßigen Studien beim Kopieren altmeisterlicher Gemälde in der Dresdner Gemäldegalerie belegen. Auch dort widmete sie sich ausschließlich dem Porträt. Sie kopierte zwischen 1918 und 1924 insgesamt neun Bildnisse von Velázquez, Valentin, Varotari, Rubens, Rembrandt und van Dyck.6 Nur in ihrem »Selbstporträt im schwarzen Spitzenkleid« von 1925 (Kat. 14) und in den beiden Bildnissen der wohl mit ihr befreundeten Lilo Kirsten7 (Kat. 17 u. 18) steigerte sie den flächigen Eindruck der Malerei noch einmal bei der Wiedergabe der grafischen Muster von Spitzengeweben über hellen Untergründen. Ihr von einem Rezensenten als »moderne Mona Lisa« beschriebenes »Selbstporträt im schwarzen Spitzenkleid« ist wohl als Hauptwerk ihrer Bildnismalerei zu bewerten.8 Mit der unvermittelten Präsenz eines Bühnenauftritts tritt uns die Malerin hier entgegen, eine Kamelienblüte wie das Attribut einer Heiligen vor sich haltend. Nur ein angedeuteter Vorhang und eine Blattpflanze rechts unterbrechen die Symmetrie des ungewöhnlich schmalen Hochformats. Das ebenmäßige Gesicht der Künstlerin ist von Licht und Schatten zweigeteilt, ihre Züge sind ruhig und fast ausdruckslos. Dies, die strenge Frontalität der Komposition und auch die erhobene rechte Hand erinnern vage an Albrecht Dürers Selbstbildnis im Pelzrock und an dessen Bezüge zur Vera Icon.9 Angesichts von Irena Rabinowicz’ Interesse an der Malereitradition verwundert dieser direkte Bezug keinesfalls. Allerdings schuf sie damit innerhalb ihres Umfelds auch kein Alleinstellungsmerkmal, denn ausgehend von Otto Dix’ »Selbstbildnis mit Nelke« hat sich die pflan7 Porträt Kurt Heynicke, in: Dresdner Woche, 1.Jg. 1922, Heft 9, S. 11

104 zenhaltende Künstlerselbstdarstellung als Bezug auf die Kunstgeschichte in der Dresdner Kunst sehr weit und bis in die Jahre nach 1945 verbreitet.10 Irena Rabinowicz kombinierte in ihrem ikonischen Selbstbild jedoch weitere Bezugnahmen wie etwa den gewählten Bildausschnitt der Dreiviertelfigur, in dem eine distanzierend wirkende, tradierte Würdeformel des Adelsporträts steckt. Das Porträt wirkt mondän, aber nicht verrucht wie Dix’ im selben Jahr entstandenes »Bildnis der Tänzerin Anita Berber«, obgleich in beiden Darstellungen das Kleid wie eine Folie um den nackten Körper modelliert ist. Auch wenn Irena Rabinowicz mit ihrem langen hochgesteckten Haar dem Idealtyp der modernen Frau der 1920er Jahre widersprach, ist in ihrem Porträt auf diskrete Weise das Selbstbewusstsein erkennbar, das sie als Reiterin, Motorradfahrerin und allein reisende Frau in dieser Zeit auch persönlich lebte. Sie entschied sich wohl bewusst und möglicherweise aufgrund ihrer Orientierung an kunsthistorischen Traditionen gegen eine betont moderne Selbstdarstellung, wie sie etwa die Berliner Malerin Ilse Fischer 1928 in einem Selbstporträt als Reitsportlerin mit Reithose und Reitgerte präsentiert hat. Irena Rabinowicz verzichtete darauf bzw. überließ eine solche Sicht auf ihre Person ihrem Mentor Fritz Hofmann-Juan. (Abb. 11) Sie stellte sich auch nie explizit als Malerin dar, wie dies zahlreiche ihrer Zeitgenossen taten. Auffällig in ihren Selbstporträts der 1920er und 1930er Jahre und auch in den Bildnissen junger Frauen aus ihrem Bekanntenkreis ist die Häufung von exotischen Kleidungsstücken und Accessoires. Kimonos, transparente Spitzenkleider, Turbane, Schleier und sogar eine spanische Tracht (Abb. 13) zeigen die Vorliebe von Irena Rabinowicz für solche Inszenierungen, wobei einige der dabei verwendeten Gegenstände womöglich aus den Reisemitbringseln und Sammlungsstücken von Fritz HofmannJuan stammten.11 In ihren Selbstbildnissen schlüpfte die Künstlerin gleichsam in verschiedene Identitäten, was in ihrem persönlichen Leben seine Parallelen hatte. Das Sich-Präsentieren als Künstlerin und als Zirkusreiterin in der Öffentlichkeit, d. h. in zwei ganz unterschiedlichen Sphären (die Rolle als Gattin und Mutter nicht mitgerechnet), stand möglicherweise in einem Zusammenhang mit ihrer Lust an der Verkleidung. Diese lässt sich außerdem bis zu Fotografien aus ihrer Kindheit zurückverfolgen und wird durch spätere inszenierte Fotoaufnahmen von ihr untermauert.12 Zudem knüpfte sie nach 1945, als die erwähnten Parallelwelten nicht mehr bestanden, auch nicht weiter an die Reihe ihrer Selbstbefragungen im eigenen Bildnis an. Mitte der 1920er Jahre hatte sich die Künstlerin in Dresden soweit etabliert, dass sie regelmäßig an Ausstellungen des Kunstvereins und der Kunstgenossenschaft teilnahm. Zeitungsrezensionen belegen, dass sie zunächst mit ihren Stillleben, in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts jedoch zunehmend mit ihren Porträtgemäl10 Fritz Tröger, Mädchen im karierten Kleid, 1925, Öl auf Sperrholz, 70 × 49,5 cm. Städtische Galerie Dresden – Kunstsammlung 11 Fritz Hofmann-Juan, Bildnis Irena Rüther-Rabinowicz im Reiterkostüm, 1935, Öl auf Leinwand 185 ×140,5 cm, Privatbesitz

105 den auffiel.13 Erhalten haben sich aus der Zeit vor 1945 fast ausschließlich Bildnisse aus ihrem privaten Umkreis und ihrer Familie. Auch das Bildnis des Clowns François (Kat. 15) zählt mit zu diesem Kreis, da die Künstlerin dessen Bekanntschaft sicher durch ihre eigene Tätigkeit im Zirkus gemacht hat. Es ist jedoch zu vermuten, dass Irena Rabinowicz in dieser Zeit auch eine nicht geringe Anzahl von Auftragsporträts gemalt hat. Mitunter wurden in Rezensionen Werke erwähnt, zu deren Verbleib keine Informationen vorliegen und die auch nicht fotografisch dokumentiert sind.14 Wohl vor 1930 entstand das Bildnis des »Geigers Bösing«, erwähnt in einem Zeitungsartikel über Hubert Rüther und Irena Rabinowicz von 1931.15 (Abb. 12) Auffällig in den Porträts mit Ausnahme der frühen Selbst- und Mädchenbildnisse und dem des Fotografen Erfurth ist der Verzicht auf Schilderungen des Umgebungsraumes. Die beruhigend wirkenden neutralen Farbräume im Hintergrund trugen dazu bei, dass nichts von den Schilderungen der dargestellten Personen ablenkt.16 Aus der Zeit von 1933 bis 1935 sind mehrere »offizielle« Bildnisgemälde bekannt, wie etwa das des Schauspielers Louis Rainer (Kat. 19), mit dem Irena Rabinowicz an ihre Porträts aus der Theaterwelt der frühen 1920er Jahre anschloss. Das demgegenüber sehr privat wirkende Bildnis des Sängers Robert Büssel (Kat. 23) ist aufgrund des intimen Einblicks hinter die Kulissen und aufgrund der ungewöhnlichen Komposition des Blicks von oben eher der Kategorie der Freundesporträts zuzuzählen. Die Unterscheidung zwischen »privat« und »öffentlich« wird weitgehend identisch sein mit entweder im eigenen oder im fremden Auftrag geschaffenen Werken. Ein anschaulicher Vergleich zwischen Nuancen der privaten und öffentlichen Bildnisse im Werk von Irena Rabinowicz ist anhand der beiden Porträts möglich, die sie von ihrem Förderer und väterlichen Freund Fritz Hofmann-Juan um 1935 angefertigt hat. Erhalten ist nur das quasi öffentliche Repräsentationsporträt (Kat. 27), welches den damals 62-jährigen Maler gestrafft sitzend mit erhobenem Kopf im Frack und mit allen seinen militärischen und zivilen Auszeichnungen zeigt. Seine rechte Hand liegt bewusst streng und flach im Schoß, der stolzentrückte Blick geht am Betrachter des Bildes vorbei. Im Vergleich dazu gibt der Dargestellte im wohl schon ein Jahr früher geschaffenen zweiten Porträt (Abb. 14) ein viel lockereres, intimer wirkendes Bild ab: Er sitzt, etwas zusammengesunken und mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem ähnlichen Lehnsessel, ist elegant gekleidet in einen Straßenanzug mit karierter Hose und gepunkteter Krawatte. Das ebenso gepunktete Einstecktuch trägt er salopp aus der Brusttasche hängend. Lässig hält er Handschuhe, Stock und Hut – und vor allem: Er tritt mit dem Betrachter in direkten Blickkontakt. Die künstlerische Haltung von Irena Rabinowicz kann im Kontext ihrer Zeit als zwischen zwei Polen liegend beschrieben werden. Während man Ende der 1920er Jahre in einem breiten öffentlichen Diskurs Fragen über 12 Bildnis des Geigers Bösing, um 1926, Öl auf Leinwand, Maße und Verbleib unbekannt 13 Selbstbildnis in spanischer Tracht, 1936, Öl auf Leinwand, 92 × 72 cm, Standort nicht bekannt 14 Bildnis Fritz Hofmann-Juan, um 1935, Öl auf Leinwand, Maße und Verbleib unbekannt

134 2 Selbstporträt, 1919

135 3 Der Maler Fritz Stotz, 1919 4 Nicolaus Graf von Seebach, 1919

142 14 Selbstporträt im schwarzen Spitzenkleid, undatiert, um 1925

143 15 Clown François, undatiert, um 1925

150 22 Bildnis Leopold (Lutek) Rabinowicz, undatiert, um 1930

151 23 Der Sänger Robert Büssel, undatiert, um 1930

152 24 Bildnis des Bruders als Heiliger Georg, undatiert, um 1934/35

153 25 Stilleben mit Schwertlilien (verso von: Stilleben mit Goldfischglas, Kat. 16), undatiert, 1940er Jahre

174 36 Bildnis Stephan von Dobrzynski, undatiert, 1945/46

175 37 Bildnis Eugen Braun, undatiert, um 1947

176 38 Bildnis Bildhauer Otto Winkler, undatiert, um 1949

177 39 Stilleben mit Pompon-Dahlien, 1949

178 40 Stadtverordneten-Vorsteher Robert Wirth, undatiert, um 1950

179 41 Nationalpreisträger Erich Wirth lehrt das Schnelldrehen, 1951

194 55 Bildnis der Schauspielerin Antonia Dietrich, 1968

195 56 Bildnis Oberbürgermeister Herbert Gute, undatiert, um 1969/70

196 57 Schlossermeister Siegfried Droth, undatiert, um 1970

197 58 Bildnis Dr. Joachim Uhlitzsch, undatiert, um 1970

9 783954 987993

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