Leseprobe

Willi Baumeister hat ein umfangreiches Œuvre hinterlassen. Rund 2 200 Gemälde, etwa dieselbe Anzahl an Papierarbeiten, 250 Druckgrafiken, 47 Skizzenbücher, über 150 typografische Arbeiten sowie 19 realisierte Bühnenbilder umfasst seine Hinterlassenschaft. Hinzu kommen etwa 2500 Fotografien sowie über 7000 Dokumente, die aber nicht alle von seiner Hand sind. Das Archiv Baumeister im Kunstmuseum Stuttgart gibt den besten Einblick in Leben und Werk des Künstlers. Die Sammlung von Alfred Gunzenhauser Das Museum Gunzenhauser besitzt nach der Staatsgalerie Stuttgart und zusammen mit der Sammlung Domnick in Nürtingen den drittgrößten öffentlichen Sammlungsbestand an Gemälden, den es in Deutschland zu Willi Baumeister gibt. Zahlenmäßig rangiert der Baumeister-Bestand an Gemälden in der Sammlung Gunzenhauser noch vor der Sammlung von Otto und Etta Stangl in der Pinakothek der Moderne in München. Durch die großzügige Stiftung des Münchner Kunsthändlers und Kunstsammlers Alfred Gunzenhauser im Jahr 2003 befinden sich heute insgesamt 18 Gemälde und 27 Grafiken von Willi Baumeister aus den verschiedensten Stilphasen im Museum Gunzenhauser in Chemnitz, dem ersten Sammlermuseum der neuen Bundesländer.3 Mit dieser großen Anzahl von Werken bietet es einen idealen Ausgangspunkt für eine breit angelegte Willi-BaumeisterAusstellung, die den Künstler in seinem gesamten Schaffen vorstellen kann und es ermöglicht, die Geschichte seiner verschiedenen Netzwerke zu erzählen. Was ist ein Netzwerk? Ein Netzwerk ist kein geschlossenes System. Es gibt zunächst keine Ränder oder Grenzen. Es gibt nur eine Mitte. Ein Netzwerk lässt sich im Prinzip von Akteur zu Akteur und von Objekt zu Objekt immer weiter fortführen und verknüpfen. Wir haben uns für diese Ausstellung von dem Begriff des Plateaus von Gilles Deleuze und Felix Guattari inspirieren lassen, nachdem wir zahlreiche andere mögliche Begriffe verworfen haben. Ein Plateau ist immer Mitte, es hat weder Anfang noch Ende. Ein Netzwerk besteht aus verschiedenen Plateaus. Deleuze und Guattari bezeichnen jede Mannigfaltigkeit als ein Plateau, welche mit anderen Mannigfaltigkeiten durch unsichtbare Verbindungen verknüpft werden kann, sodass ein Netzwerk entstehen und sich ausbreiten kann. Plateaus sind die Oberflächen, auf denen Netzwerke sichtbar werden.4 »Jedes Plateau kann von jeder beliebigen Stelle aus gelesen und mit jedem anderen in Beziehung gesetzt werden.«5 Wir übernehmen dagegen nicht den biologistischen Begriff des Rhizoms, den wir durch den uns als besser geeignet erscheinenden Begriff des Netzwerks ersetzen. Ein Plateau ist daher immer von der Mitte aus zu betrachten oder zu sehen und verzweigt sich nach außen. Es hat keine Ränder. Es findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion »und ... und ... und«.6 Netzwerke sind darüber hinaus auch zeitlich begrenzt. Sie werden durch soziale Beziehungen aufgebaut und verschwinden ebenso wieder mit den Akteuren. Wie kann man soziale Netzwerke, die man selbst nicht direkt beobachten konnte, nachträglich sichtbar machen oder rekonstruieren? Ein Netzwerk entsteht durch regelmäßige oder unregelmäßige Wiederholung sozialer Interaktionen, also durch Konnektivität. Nachträglich sichtbar machen lässt sich diese wechselseitige Verbundenheit verschiedener Akteure in erster Linie durch Objekte wie Kunstwerke, die beispielweise Widmungen auf der Vorder- oder Rückseite tragen, oder historische Dokumente wie Fotografien, Briefe, Postkarten, Texte, Tagebücher oder Nachbarschaften. Unsere Art zu schreiben ist selbst netzwerkartig und aus einzelnen Plateaus zusammengesetzt. Eine zentrale Rolle in unserem Ansatz spielen die Kunstwerke, die in der jeweiligen Zeit entstanden sind. Sie sind wichtige Kristallisationspunkte des sozialen Austauschs und der sozialen Interaktion. Die Kunstwerke funktionieren als Knoten oder hub in einem Kommunikationsnetz, welches ein System des Austauschs, Präsentierens und Repräsentierens bildet. Hier spielen vor allem die Personen, mit denen Willi Baumeister in Kontakt stand, befreundet war und sich austauschte, eine zentrale Rolle. Dies kann am Beispiel von getauschten, geschenkten oder gewidmeten Werken, Briefen und Fotografien der Künstlerkolleg:innen und Freund:innen sichtbar gemacht werden. Als entscheidende Akteure im Kunstsystem, die Netzwerke bilden, lassen sich verschiedene soziale Gruppen voneinander unterscheiden, wie Künstler:innen, Kritiker:innen, Kurator:innen, Wissenschaftler:innen, Verleger:innen oder Sammler:innen. Neben den Artefakten und den Akteur:innen spielen jedoch auch die sozialen Räume, in denen sich die Künstler:innen bewegten, wie Wohnungen, Ateliers oder Kunstinstitutionen, eine große Rolle. Am Beispiel Baumeisters lässt sich zeigen, inwieweit Nachbarschaft und soziale Nähe ein wichtiger und begünstigender Faktor für die Ausbildung und Institutionalisierung der Netzwerke war. Dies betrifft auch Reisen ins In- und Ausland, an denen er andere Akteure wie Künstlerkolleg:innen, Galerist:innen, Sammler:innen oder Kunstkritiker:innen traf und vor Ort verschiedene Ausstellungen besuchte. 18

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