Leseprobe

Ein Ausnahmekünstler Willi Baumeister war in vielerlei Hinsicht ein Ausnahmekünstler. Sein künstlerischer Weg war von ständigem Wandel und Erneuerung gekennzeichnet. Deshalb lässt er sich keiner bestimmten Stilrichtung der Kunst zuordnen. Er selbst hat es außerdem immer wieder abgelehnt, als abstrakter Künstler bezeichnet zu werden. In einer Sonntagsbeilage der Stuttgarter Zeitung vom 21. September 1946 erschien anlässlich seiner Berufung als Professor an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart eine in Kleinschreibung gesetzte Autobiografie, die mit einem gewissen subtilen Witz formuliert war: »geboren 1889 in stuttgart. studium an der stuttgarter kunstakademie bei hölzel, im wesentlichen autodidakt. auch tätig als bühnenbildner, architekturmaler, tipograf, maltechniker mit forschungsarbeiten, schriftsteller. ausstellungen in den großstädten der kulturländer, darunter, repräsentative kollektionen mehrfach in berlin, paris, london, mailand, rom. ausstellungsbeteiligungen in allen kulturländern, einschließlich usa. bilder in fast allen deutschen museen, nationalgalerie berlin, usw., in ausländischen museen, in in- und ausländischen privatsammlungen. staatspreis von deutschland 1930, französischer preis 1931 in bordeaux. professor der kunstschule frankfurt am main 1928. brüske entlassung am 31. märz 1933. bis 1907 naturalist; 1907 bis 1909 impressionist; 1910 bis 1914 nachimpressionismus; 1919 bis 1930 konstruktivismus; 1927 bis 1929 sportbilder; 1930 bis 1935 abstraktionen der sportbilder; 1935 bis 1937 ›malerische kompositionen‹ 1937 bis 1938 gegenstandslose malerei (ideogramme); 1939 serie der kompositionen mit schwebenden formen; 1942 elementare schwarz- weiß-kompositionen und reliefmalerei; 1940 bilder mit farbigen lasuren; 1942 schwarz-weiß-bilder und reliefbilder; 1943 illustrationen zu ›gilgamesch‹, zu ›saul‹, ›esther‹, ›sturm‹ von shakespeare; 1944 abfassung des manuskriptes ›das unbekannte in der kunst‹. veröffentlichungen: monografien in verschiedenen sprachen, kataloge der kollektiv-ausstellungen, artikel in den international bekannten kunstzeitschriften und zeitungen. zur zeit ausstellung in usa.«2 In dieser knappen, auf die wichtigsten Begriffe konzentrierten Autobiografie präsentierte sich eine Künstlerpersönlichkeit, die mit Selbstbewusstsein und Humor eine vielseitige Laufbahn benannte. Begriffe und Epochen der Kunstgeschichte waren ihm geläufig. Er wusste sie aus dem Effeff zu benennen und wechselte die Genres in einer Zeit, als die Ismen zunehmend obsolet wurden. Baumeister präsentierte sich als Künstler und gleichzeitig als reflektierter Kenner der Kunstgeschichte. Eine weitere Besonderheit lag in seiner Fähigkeit, die unterschiedlichsten Medien für seine Zwecke einzusetzen, und dies in einer Zeit, in der noch eine strenge, klassische Trennung der Kunstgattungen vorherrschte. Kaum etwas war von seiner künstlerischen Neugier ausgeschlossen, ob er in den künstlerischen Medien Malerei, Zeichnung, Druckgrafik und Relief oder in den eher angewandten Bereichen wie Typografie, Bühnenbild, Fotografie, Keramik oder Textildesign tätig war. Er ging dem Unbekannten und Neuen stets kühn und furchtlos entgegen. Die große Anerkennung, die er als Künstler schon während seiner Studienzeit erlangte, lässt sich an verschiedenen Stellen erkennen. Zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn vermittelten ihn verschiedene Künstlerfreunde wie Hermann Huber oder Oskar Schlemmer an Galeristen, ermöglichten ihm Ausstellungsbeteiligungen oder typografische Aufträge, die Gestaltung von Buchumschlägen oder von Bühnenbildern und Kostümen. Baumeister führte diese Aufträge von Anfang an, auch als Autodidakt, in höchster Qualität aus. Als Hochschullehrer gab er diese Haltung weiter an seine Schüler:innen. Wo immer er eine Möglichkeit sah, vermittelte er seine Künstlerkolleg:innen und später seine Schüler:innen an wichtige Galerist:innen, verschaffte ihnen persönliche Kontakte und vernetzte seine Freunde mit den Global Players der damaligen Kunstszene. Er beschränkte sich dabei nicht nur auf Deutschland, sondern griff auch nach Frankreich und der Schweiz aus, damals den wichtigsten Nachbarländern in Sachen moderner Kunst. Wenn sich Schüler:innen aus seinem Klassenverband verabschiedeten, bedeutete es für ihn nicht das Ende der Freundschaft oder Verantwortlichkeit, die er zeitlebens gern übernahm. Ein Vorläufer der Künstlerischen Forschung Im Mittelpunkt seines Alltags standen immer die Kunst und die damit verbundenen Fragen und Herangehensweisen. Heutzutage gibt es innerhalb des Kunstdiskurses den Bereich der sogenannten Künstlerischen Forschung. Willi Baumeister darf mit gutem Gewissen als ihr historischer Vorläufer angesehen werden. Mit über 100 Aufsätzen und Büchern, die er zu Lebzeiten publizierte (siehe Anhang), hat er fundamentale, neue Forschungsgebiete entwickelt und theoretisch formuliert, wie Praxis und Theorie auf einer Ebene zu verbinden sind. Er selbst hat von seinem Lehrer, Adolf Hölzel, wie er immer wieder betont hat, keinerlei Korrekturen erhalten. So waren auch seine Gespräche mit Freund:innen und Schüler:innen nie von Ratschlägen, Anleitungen oder Verbesserungswünschen geprägt, sondern von subtilen Analysen und einem Hinweis auf das Wesentliche in der Arbeit des Gegenübers. Jegliche Form der »Korrektur« fand auf Augenhöhe statt. Die Gesprächsstruktur in seiner Klasse war die offene Diskussion, an der auch gern Gäste aus anderen Akademieklassen teilnehmen und ihre Werke präsentieren konnten. 17

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