189 Ist Kunst lehrbar? Baumeister war zwei Jahre im Amt, als in der von Erich Kästner herausgegebenen Zeitschrift Pinguin ein mehrseitiger Bildbericht von Regina Relang mit dem programmatischen Titel Ist Kunst lehrbar? erschien (Abb. 3).11 Die Abbildungen sind ein exzellentes Zeitdokument und formulieren in den ausführlichen Bildlegenden das Besondere an Baumeisters Devise bezüglich der Fragestellung des Berichts: »In der Klasse von Professor Baumeister arbeitet jeder Schüler ohne Zwang zu einer bestimmten formführenden Richtung. Man sieht unter den Schülerarbeiten Naturstudien, Naturabwandlungen und abstrakte Formfindungen. Die Nachkriegsjugend scheint trotz der Unsicherheit der eigenen Lebenslage die Fähigkeit zu unbedingtem Idealismus zu haben.«12 Wie gesagt, wir schreiben das dritte Jahr nach Kriegsende und der Autor spricht bereits wieder von Idealismus. Weiter heißt es: »Kunst ist nicht Abbild, sondern schöpferisches Neubilden.«13 Die deutsche Modefotografin zitiert Baumeisters Auffassung, dass die Disziplinen der Biologie und der Atomphysik als Wissenschaften das Kunststudium unbedingt erweitern sollten. »Es ist erstaunlich, mit welcher produktiven Einfühlung der Lehrer Baumeister, der selbst viele Ausdrucksarten durchlaufen hat, auf alle Arbeiten – noch so verschieden von seiner jetzigen Formensprache – eingeht. Es besteht keinerlei Schablone, man spürt nur eine beratende Führung [...].«14 So charakterisiert Relang das behutsame und korrektive Handeln des Hochschullehrers. Baumeister war sehr präzise, was die Vermittlung künstlerischer Grundgesetze und Kompositionslehre betraf. Seine Hauptaufgabe sah er aber nicht darin zu lehren, sondern »zu leeren, d. h. den Schüler zu entschlacken und ihn in einen k ü n s t l e r i s c h e n Zustand zu setzen.«15 Das ist der springende Punkt. Denn nur so könne seiner Meinung nach etwas Originales entstehen. Niemand komme »naiv zum Lehrer. Er ist oft unbewußt durch zahlreiche traditions- und milieugebundene Kunstvorstellungen überlagert [...]«,16 postulierte Willi Baumeister in dem Artikel. Lange bevor in der deutschen Soziologie die sogenannte Lebensstilforschung entstand, war Baumeister bewusst, dass Einstellung und Habitus seiner Schüler:innen von den sozialen Milieus geprägt sind, aus denen die Studierenden stammten.17 Einerseits war es die Klaviatur der künstlerischen »Grundgesetze«, die der Lehrer vermittelte: Flächenaufteilung, Komposition und die Ordnung von Unregelmäßigkeiten. Andererseits zeigte sich, dass Baumeister genau hinsah, wen er vor sich hatte, wie die jeweilige Person in ihrer ästhetischen Bildung sozialisiert war. Welche Kenntnisse brachten die Schüler:innen mit, welches Wissen hatten sie auf ihrem bisherigen Lebensweg erworben? Es gab für den Lehrer nichts, was nicht berücksichtigt werden sollte. Die Biografien bedingten die Bildfindungen. Das Fazit des Artikels lautete: »Kunst ist nicht lehrbar, nicht lernbar. Der Lehrer mag einen weiten Horizont zu schaffen, Anregungen zu geben, Begeisterung zu wecken, aber den Schritt zur ›eigenen Erfindung‹ muß der Schüler alleine gehen.«18 Dies könnte eine mögliche Erklärung für die unterschiedlichen Wege sein, die seine Schüler:innen nach dem Studium in seiner Klasse eingeschlagen haben. Der Unterricht bei Willi Baumeister begann mit einem Vorkurs, in dem man neben dem Aktzeichnen vor allem die Grundlagen der Flächengestaltung erlernte. Im Hauptkurs, genannt Komponierunterricht, fanden die Korrekturen statt, wurden Ausstellungen besucht, hörte man gemeinsam Vorträge und erhielt einen Überblick über die Kunstgeschichte. / 3 / Ist Kunst lehrbar? Ein Bildbericht von Relang
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