188 Er war ungeduldig. Endlich möchte er doch in Stuttgart, wo sein Lehrer Adolf Hölzel gelehrt hatte, eine Professur erhalten.5 Der Brief von Will Grohmann folgte umgehend am 1. Februar 1946. Als damaliger Ministerialdirektor der Staatlichen Hochschule für Werkkunst in Dresden fragte er an, ob Willi Baumeister Interesse habe, dort Dekorative Malerei zu lehren.6 Die Scheinanfrage beschleunigte offenbar das Verfahren. Sechs Wochen später erhielt er den Vertrag des württembergisch-badischen Kultusministeriums. In Frankfurt am Main lehrte Baumeister kunstgewerbliche Inhalte, Typografie und Textilgestaltung. In Stuttgart stand die Malerei im Mittelpunkt. Allerdings zog Baumeister in der Vermittlung der künstlerischen Werte nie eine Trennlinie zwischen angewandter und »freier« Kunst. Das Eine bedingte für ihn das Andere. Die Kenntnisse der verschiedenen Medien und Beherrschung der Materialien waren für ihn die Voraussetzung, sich an die Gesetze der Komposition zu wagen. Er war gelernter Dekorationsmaler. Ihn zeichnete eine disziplinübergreifende Perfektion aus, die seiner künstlerischen Auffassung nach erst das Innovative ermöglichte. In Frankfurt stand er verschiedenen Werkstätten vor. In Stuttgart musste er erstmal um eine Vorbereitungsklasse kämpfen. In einem Brief vom 4. März 1949 an den Rektor Hermann Brachert, der zeitgleich mit ihm sein Amt als Rektor angenommen hatte, unterbreitete er einen »Vorschlag zur Aufnahme des Pensums der Elementaren Gestaltungsmittel in das Pensum der bestehenden allgemeinen Vor- und Grundklasse.«7 In der Folge entwickelte sich zwischen September und Oktober 1949 ein heftiger Briefwechsel mit Rektor Brachert, da immer noch keine Vorklasse eingerichtet war. Es lassen sich erstaunliche Parallelen zwischen der Lehrsituation in Frankfurt am Main und jener in Stuttgart ziehen. Beide Rektoren, Fritz Wichert und Hermann Brachert,8 unterstützten den Ausnahmekünstler nicht besonders. Wie berichtet, stellte sich Wichert in der Öffentlichkeit bei der Debatte um das Bild Atelier III nicht hinter den Künstler. Für Wichert zählte allein Max Beckmann. Für Brachert war Baumeister eine Nummer zu groß. Der konservative Künstler konnte mit den Bildfindungen und neuen Ideen zur Lehre Baumeisters wenig anfangen und anstatt ihn gewähren zu lassen, verhinderte oder erschwerte er Baumeisters Ideen und Konzepte zum Lehrangebot. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sich seit der Zeit von Adolf Hölzel kaum etwas geändert hatte. Wie musste sich Baumeister dabei gefühlt haben? Hatte man es Anfang des Jahrhunderts erfolgreich verhindert, Paul Klee als Nachfolger von Adolf Hölzel ans Haus zu berufen, so war man nun zwar einen Schritt weiter und berief immerhin Willi Baumeister, ließ ihn dann aber nicht im vollen Umfang gewähren, sondern legte ihm immer wieder entscheidende Hindernisse in den Weg. Ein Déjà-vu für Baumeister. Ihm stand es nun als Professor nicht mehr an, wie 1919 mit der Üecht-Gruppe revolutionär gegen eine reaktionäre Hochschulverwaltung vorzugehen. Dabei war er zeitweise selbst Prorektor. Am 12. März 1951 wurde Willi Baumeister mit 18 Ja-Stimmen und einer Enthaltung zum stellvertretenden Rektor der Akademie gewählt. Drei Semester später, am 15. Juli 1952, bat er um Entlassung aus dem Prorektorenamt.9 Die Verwaltungsarbeit schränke ihn zu sehr in der Arbeit mit den Studierenden ein. Er hielt wöchentliche Korrekturen in seiner Klasse ab. Zu diesen Terminen strömten immer mehr Studierende, auch von seinen Kollegen und von außerhalb Stuttgarts. Manchmal bestellte er seine Student:innen sogar nach Hause in die Gerokstraße ein. Sein Kollege Manfred Henninger (1894–1986), Professor für Malerei von 1949 bis 1961, gab offen zu, dass er nicht die Fähigkeit besitze, zielführende Korrekturen zu geben. »Meine Schüler halfen mir weiter. Sie sagten mir, daß die Korrekturen bei Baumeister viel richtiger und verständlicher seien als meine. Baumeister hatte nichts dagegen, daß ich selbst in seine Korrekturstunden kam und seinem Unterricht zuhörte. Zu einer Rivalität konnte es zwischen uns nicht kommen, eher zum Vergleich unserer Auffassungen.«10 Hier zeigt sich die Größe zweier parallel lehrender Professoren der Malerei: die Großzügigkeit von Baumeister, seine eh schon überbesetzte Klasse auch für die Student:innen inklusive der Kollegen zu öffnen, und die Haltung Henningers, der das Konkurrenzdenken außen vor gelassen hatte und in erster Linie daran dachte, seinen Student:innen eine bestmögliche Korrektur zu geben. Scheinbar ohne Probleme gestand sich Henninger ein, dass nicht die seine, sondern die des Kollegen die beste Lehrmethode sei. Der Synergieeffekt war mit Sicherheit groß. Das ist eine Antwort auf die Frage, die die Redaktion der Zeitschrift Pinguin an Baumeister stellte: »Ist Kunst lehrbar?« Ja, könnte man antworten, in einem sozialen Miteinander, in der gemeinsamen Reflexion, die Baumeister und Henninger vorlebten. Mit Sicherheit hatte Henninger andere Qualitäten, die er in den gemeinsamen Gesprächen vermitteln konnte. Hier zeigten sich auch die grundlegende Toleranz und Würdigung eines Kollegen. Im Laufe seiner Lehrverpflichtung an der Kunstakademie in Stuttgart nahm sich Baumeister immer öfter eine Auszeit. Er reiste nach Paris, unternahm Exkursionen mit Student:innen, besuchte seine eigenen Ausstellungen und reichte längere Kuraufenthalte ein. All diese Aktivitäten außerhalb der Akademie sind Zeichen dafür, wie lästig ihm die Verwaltungsarbeit wurde und wie gern er dem Hochschulalltag entfliehen wollte. Längst hatte der Stuttgarter Hochschullehrer nationales und internationales Ansehen erreicht, was sich an den zahlreichen Ausstellungen, Einladungen zu Radiosendungen, den Dokumentarfilmen von Ottomar Domnick und den vielen Publikationen von und über den Künstler widerspiegelte. Der Höhepunkt der Anerkennung war die Einladung zur documenta I 1955 – als einziger Künstler der Kunstakademie Stuttgart. Das erhöhte zwar die internationale Aufmerksamkeit. Es brachte ihm aber gleichzeitig viel Neid von den Kolleg:innen ein. Unter anderem war sein langjähriger Künstlerfreund Fernand Léger ebenfalls wie er zur documenta I eingeladen und verstarb wie Baumeister selbst noch während der Laufzeit der so wichtigen Ausstellung. Auch während seiner Lehrtätigkeit in Stuttgart hatte sich für Baumeister bezüglich seiner freundschaftlichen Verknüpfungen nichts geändert. Sein Netzwerk bildete Baumeister nicht innerhalb des Kolleg:innenkreises an seiner Wirkungsstätte aus, sondern analog zu Frankfurt am Main mit denjenigen Künstler:innen, Architekt:innen und Vermittler:innen, die ihm gleichgesinnt und ebenbürtig erschienen.
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