65 In Stuttgart gab es große Unzufriedenheit mit der konservativen Besetzungspolitik der hiesigen Kunstakademie. Gustav Schleicher hatte bei Paul Klee angefragt, ob er für die Nachfolge von Adolf Hölzel bereitstünde und Klee hatte ihm zugesagt. Der konservative Senat der Stuttgarter Kunstakademie versuchte jedoch, den von den Studierenden favorisierten Kandidaten mit negativen Bewertungen und abschätzigen Urteilen zu diskreditieren. Daraufhin erschien am 24. Oktober 1919 im Stuttgarter Neuen Tageblatt ein Aufruf von Studierenden der Akademie unter der Federführung von Oskar Schlemmer und Willi Baumeister wegen der geplanten Neubesetzung der Hölzel-Professur, in der die massive Kritik an der Besetzungspolitik deutlich wurde. »Es ist Streit in den Lagern der Künstler. Der Kampf um die Sache wird einer um die Person. Adolf Hölzel ist von der Akademie geschieden. Visionär der Farbe, Systematiker der Form, Pionier alles Neuen [...]. Es ist eine Lücke. Die Jugend fordert ihr Recht bei der Wahl [...]. Die Wahl ist entschieden. Paul Klee der Erwählte. Darüber Streit in den Lagern.«1 Die Üecht-Gruppe Aufgrund dieser Unzufriedenheit und Enttäuschung gründete sich 1919 die sogenannte Üecht-Gruppe, ein Zusammenschluss von Künstlern wie Gottfried Graf, Edmund Daniel Kinzinger, Albert Müller, Hans Spiegel und Oskar Schlemmer. Auch Camille Graeser, Gustav Schleicher, Richard Türcke und Richard Herre gehörten dazu. Willi Baumeister gestaltete das Plakat für die erste Ausstellung. Üecht war ein Pseudonym von Otto Meyer-Amden. Man traf sich regelmäßig im so getauften Café de la Résistance (vermutlich das Café Marquardt) zu einem Gesprächskreis. Man suchte nach einer Bezeichnung für die Gruppierung, die sowohl das Neuartige, Unkonventionelle als auch die Programmatik der Gruppe betonen sollte. In diesem Sinne forderte Willi Baumeister etwas Modernes, durchschlagend Neues und Irrationales. Die von Oskar Schlemmer vorgeschlagene Bezeichnung Üecht, die er zunächst als tüchtig und wichtig interpretierte, war aber, wie Karin von Maur vermutet, als Hommage an den in der Schweiz lebenden Otto Meyer-Amden gedacht, der während seiner Stuttgarter Zeit unter diesem Pseudonym lebte. Auch die Verwendung des althochdeutschen Wortes »uohta« als Morgendämmerung oder Tagesanbruch könnte eine Rolle bei der Namensgebung gespielt haben. So verband Oskar Schlemmer in einer unveröffentlichten Notiz die Gruppe mit dem Beginn des Tages und dem Erwachen neuer Kräfte.2 Üecht sollte also auch eine Metapher für die Hoffnung auf eine neue Kunst sein. Man wollte eine Gesellschaftsform schaffen, die Erwünschtes und Erwartetes antizipierte. »Eine weitere Bedeutung erhält das Wort im Schwyzerdütsch, wo das Attribut ›unecht‹ wie ›üecht‹ gesprochen wird, womit angedeutet werden sollte, dass es sich hier um eine ›unechte‹ Gruppe handele, die nicht einen gemeinsamen Stil anstrebte, sondern in der die Individualität eines jeden Künstlers voll zur Entfaltung kommen könne.«3 Die Künstler hatten das Ziel, aus ihrer gesellschaftlichen Isolation in die Gesellschaft hineinwirken zu können. »Wir stürzten uns nicht auf Vereinsparagraphen, auf Vorstandschaft, Mitgliedschaft sondern auf die gleichartige Gesinnung und Kameradschaft und fanden diese geeigneter als die juristische eines eingetragenen Vereins«.4 Im November 1919 erschien das erste und einzige Mappenwerk der Gruppe in einer Auflage von 31 Exemplaren. Das Inhaltsverzeichnis wurde von Oskar Schlemmer gestaltet.5 Eine Mitgliederliste der Gruppe von 1925 verzeichnete die Hölzel-Schüler Albert Müller, Willi Baumeister, Oskar Schlemmer und Gottfried Graf sowie den Landenberger-Schüler Hans Spiegel. Erste Bühnenbilder Im selben Jahr begann Willi Baumeister, für das Theater zu arbeiten. Er entwarf das Bühnenbild und die Kostüme für das unmittelbar von den Eindrücken des Ersten Weltkriegs inspirierte Theaterstück Gas von Georg Kaiser am Stuttgarter Theater. Es war der Beginn einer lebenslangen Tätigkeit für das Theater. 1920 begann er mit Gemälden, die er Flächenkräfte nannte und in denen er sich sehr stark dem russischen Konstruktivismus speziell der Prägung von Kasimir Malewitsch annäherte. Aus dieser Phase ist auch das erste und früheste Gemälde aus der Sammlung Gunzenhauser zu sehen, eine Arbeit mit dem Titel Flächenkräfte (Abb. S. 73), in der ein großes schwarzes Rechteck dynamisch von bunten Flächen und Linien hinterfangen wird.6 Margarete Oehm 1923 lernte Willi Baumeister über seinen Schulfreund Gustav Schleicher und dessen Schwester Berta die 1898 in Stuttgart geborene Künstlerin Margarete Emma Anna Maria Oehm kennen. Berta und Margarete hatten gemeinsam privaten Malunterunterricht genommen. Margarete Oehm war als Künstlerin mit großer Begabung seit 1912 tätig (Abb. 1). 1919 heiratete sie einen Adolf Palm, von dem sie bereits im Jahr darauf wieder geschieden wurde. Sie nahm Privatunterricht bei verschiedenen Malerinnen wie Frieda Mürdter, Fräulein Koeppel oder Fräulein May. Seit 1920 war sie Mitglied der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF). Im selben Jahr absolvierte sie einen Studienaufenthalt in Worpswede. Sie fragte Willi Baumeister, ob er ihr Malunterricht geben und ihre Kunst korrigieren würde. Daraus wurde erst ein verliebtes Paar und später eine lebenslange Ehe mit zwei Kindern. / ← / Richard Docker (?) Hochzeit von Margrit und Willi Baumeister am 20. November 1926, Stuttgart, Hacklanderstraße 19
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