BAU MEIS TER Willi
HERAUSGEGEBEN VON HANS DIETER HUBER, HANNELORE PAFLIK-HUBER UND ANJA RICHTER SANDSTEIN VERLAG
und sein Netzwerk »Das Kreative geht dem Unbekannten kühn entgegen« BAU MEIS TER Willi
8 Dank 9 Leihgeber:innen 13 Grußworte 16 »Das Kreative geht dem Unbekannten kühn entgegen.« Willi Baumeister und sein Netzwerk → Eine Einführung 24 / Plateau 1 / Der Pulsschlag der Hand Ausbildung im Hölzel-Kreis → 1905–1912 46 / Plateau 2 / »Ich muss mir eine Welt schaffen, in der ›ich‹ bin.« Amden und die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg → 1912–1914 64 / Plateau 3 / Schwarz-Weiß-Rot ist elementar Die Stuttgarter Jahre → 1919–1928 88 / Plateau 4 / Der Baumeister’sche »Weltentwurf« Die Frankfurter Jahre → 1928–1933
112 / Plateau 5 / »Die Freiheit entwickelt sich immer neu an den Widerständen.« Den universalen Gesetzen der Kunst auf der Spur → 1933–1937 130 / Plateau 6 / Modulationen der Oberfläche Das Wuppertaler Maltechnikum → 1936–1944 144 / Plateau 7 / »Es könnte sein, dass die Augen ein Netzwerk ins Dunkle auswerfen [...]« Das Unbekannte in der Kunst → 1942–1947 164 / Plateau 8 / Migration der Formen Textilien, Vasen, Siebdrucke, Skulpturen → 1948–1955 186 / Plateau 9 / Das Panorama der Möglichkeiten Willi Baumeister als Hochschullehrer → 1946–1955 218 / Plateau 10 / Die Form ist ein Geheimnis Das Spätwerk → 1945–1955 256 / Plateau 11 / »Oberabstrakter« oder Vorreiter »geistiger Unmittelbarkeit«? Die Willi-Baumeister-Rezeption in der SBZ/DDR ANHANG 283 Willi Baumeister – Drei Maler, drei Freundschaften 285 Willi Baumeister – Die veröffentlicheten Schriften 291 Willi Baumeister in Rundfunk, Film und Fernsehen 292 Willi Baumeister – Ausstellungen zu Lebzeiten 297 Willi Baumeister – Biografie 299 Verzeichnis der ausgestellten Werke 309 Abkürzungen 310 Biografien der Autor:innen 311 Impressum
»Das Kreative geht dem Unbekannten kühn entgegen.«1 Willi Baumeister und sein Netzwerk Eine Einführung HANS DIETER HUBER / HANNELORE PAFLIK-HUBER
Ein Ausnahmekünstler Willi Baumeister war in vielerlei Hinsicht ein Ausnahmekünstler. Sein künstlerischer Weg war von ständigem Wandel und Erneuerung gekennzeichnet. Deshalb lässt er sich keiner bestimmten Stilrichtung der Kunst zuordnen. Er selbst hat es außerdem immer wieder abgelehnt, als abstrakter Künstler bezeichnet zu werden. In einer Sonntagsbeilage der Stuttgarter Zeitung vom 21. September 1946 erschien anlässlich seiner Berufung als Professor an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart eine in Kleinschreibung gesetzte Autobiografie, die mit einem gewissen subtilen Witz formuliert war: »geboren 1889 in stuttgart. studium an der stuttgarter kunstakademie bei hölzel, im wesentlichen autodidakt. auch tätig als bühnenbildner, architekturmaler, tipograf, maltechniker mit forschungsarbeiten, schriftsteller. ausstellungen in den großstädten der kulturländer, darunter, repräsentative kollektionen mehrfach in berlin, paris, london, mailand, rom. ausstellungsbeteiligungen in allen kulturländern, einschließlich usa. bilder in fast allen deutschen museen, nationalgalerie berlin, usw., in ausländischen museen, in in- und ausländischen privatsammlungen. staatspreis von deutschland 1930, französischer preis 1931 in bordeaux. professor der kunstschule frankfurt am main 1928. brüske entlassung am 31. märz 1933. bis 1907 naturalist; 1907 bis 1909 impressionist; 1910 bis 1914 nachimpressionismus; 1919 bis 1930 konstruktivismus; 1927 bis 1929 sportbilder; 1930 bis 1935 abstraktionen der sportbilder; 1935 bis 1937 ›malerische kompositionen‹ 1937 bis 1938 gegenstandslose malerei (ideogramme); 1939 serie der kompositionen mit schwebenden formen; 1942 elementare schwarz- weiß-kompositionen und reliefmalerei; 1940 bilder mit farbigen lasuren; 1942 schwarz-weiß-bilder und reliefbilder; 1943 illustrationen zu ›gilgamesch‹, zu ›saul‹, ›esther‹, ›sturm‹ von shakespeare; 1944 abfassung des manuskriptes ›das unbekannte in der kunst‹. veröffentlichungen: monografien in verschiedenen sprachen, kataloge der kollektiv-ausstellungen, artikel in den international bekannten kunstzeitschriften und zeitungen. zur zeit ausstellung in usa.«2 In dieser knappen, auf die wichtigsten Begriffe konzentrierten Autobiografie präsentierte sich eine Künstlerpersönlichkeit, die mit Selbstbewusstsein und Humor eine vielseitige Laufbahn benannte. Begriffe und Epochen der Kunstgeschichte waren ihm geläufig. Er wusste sie aus dem Effeff zu benennen und wechselte die Genres in einer Zeit, als die Ismen zunehmend obsolet wurden. Baumeister präsentierte sich als Künstler und gleichzeitig als reflektierter Kenner der Kunstgeschichte. Eine weitere Besonderheit lag in seiner Fähigkeit, die unterschiedlichsten Medien für seine Zwecke einzusetzen, und dies in einer Zeit, in der noch eine strenge, klassische Trennung der Kunstgattungen vorherrschte. Kaum etwas war von seiner künstlerischen Neugier ausgeschlossen, ob er in den künstlerischen Medien Malerei, Zeichnung, Druckgrafik und Relief oder in den eher angewandten Bereichen wie Typografie, Bühnenbild, Fotografie, Keramik oder Textildesign tätig war. Er ging dem Unbekannten und Neuen stets kühn und furchtlos entgegen. Die große Anerkennung, die er als Künstler schon während seiner Studienzeit erlangte, lässt sich an verschiedenen Stellen erkennen. Zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn vermittelten ihn verschiedene Künstlerfreunde wie Hermann Huber oder Oskar Schlemmer an Galeristen, ermöglichten ihm Ausstellungsbeteiligungen oder typografische Aufträge, die Gestaltung von Buchumschlägen oder von Bühnenbildern und Kostümen. Baumeister führte diese Aufträge von Anfang an, auch als Autodidakt, in höchster Qualität aus. Als Hochschullehrer gab er diese Haltung weiter an seine Schüler:innen. Wo immer er eine Möglichkeit sah, vermittelte er seine Künstlerkolleg:innen und später seine Schüler:innen an wichtige Galerist:innen, verschaffte ihnen persönliche Kontakte und vernetzte seine Freunde mit den Global Players der damaligen Kunstszene. Er beschränkte sich dabei nicht nur auf Deutschland, sondern griff auch nach Frankreich und der Schweiz aus, damals den wichtigsten Nachbarländern in Sachen moderner Kunst. Wenn sich Schüler:innen aus seinem Klassenverband verabschiedeten, bedeutete es für ihn nicht das Ende der Freundschaft oder Verantwortlichkeit, die er zeitlebens gern übernahm. Ein Vorläufer der Künstlerischen Forschung Im Mittelpunkt seines Alltags standen immer die Kunst und die damit verbundenen Fragen und Herangehensweisen. Heutzutage gibt es innerhalb des Kunstdiskurses den Bereich der sogenannten Künstlerischen Forschung. Willi Baumeister darf mit gutem Gewissen als ihr historischer Vorläufer angesehen werden. Mit über 100 Aufsätzen und Büchern, die er zu Lebzeiten publizierte (siehe Anhang), hat er fundamentale, neue Forschungsgebiete entwickelt und theoretisch formuliert, wie Praxis und Theorie auf einer Ebene zu verbinden sind. Er selbst hat von seinem Lehrer, Adolf Hölzel, wie er immer wieder betont hat, keinerlei Korrekturen erhalten. So waren auch seine Gespräche mit Freund:innen und Schüler:innen nie von Ratschlägen, Anleitungen oder Verbesserungswünschen geprägt, sondern von subtilen Analysen und einem Hinweis auf das Wesentliche in der Arbeit des Gegenübers. Jegliche Form der »Korrektur« fand auf Augenhöhe statt. Die Gesprächsstruktur in seiner Klasse war die offene Diskussion, an der auch gern Gäste aus anderen Akademieklassen teilnehmen und ihre Werke präsentieren konnten. 17
Willi Baumeister hat ein umfangreiches Œuvre hinterlassen. Rund 2 200 Gemälde, etwa dieselbe Anzahl an Papierarbeiten, 250 Druckgrafiken, 47 Skizzenbücher, über 150 typografische Arbeiten sowie 19 realisierte Bühnenbilder umfasst seine Hinterlassenschaft. Hinzu kommen etwa 2500 Fotografien sowie über 7000 Dokumente, die aber nicht alle von seiner Hand sind. Das Archiv Baumeister im Kunstmuseum Stuttgart gibt den besten Einblick in Leben und Werk des Künstlers. Die Sammlung von Alfred Gunzenhauser Das Museum Gunzenhauser besitzt nach der Staatsgalerie Stuttgart und zusammen mit der Sammlung Domnick in Nürtingen den drittgrößten öffentlichen Sammlungsbestand an Gemälden, den es in Deutschland zu Willi Baumeister gibt. Zahlenmäßig rangiert der Baumeister-Bestand an Gemälden in der Sammlung Gunzenhauser noch vor der Sammlung von Otto und Etta Stangl in der Pinakothek der Moderne in München. Durch die großzügige Stiftung des Münchner Kunsthändlers und Kunstsammlers Alfred Gunzenhauser im Jahr 2003 befinden sich heute insgesamt 18 Gemälde und 27 Grafiken von Willi Baumeister aus den verschiedensten Stilphasen im Museum Gunzenhauser in Chemnitz, dem ersten Sammlermuseum der neuen Bundesländer.3 Mit dieser großen Anzahl von Werken bietet es einen idealen Ausgangspunkt für eine breit angelegte Willi-BaumeisterAusstellung, die den Künstler in seinem gesamten Schaffen vorstellen kann und es ermöglicht, die Geschichte seiner verschiedenen Netzwerke zu erzählen. Was ist ein Netzwerk? Ein Netzwerk ist kein geschlossenes System. Es gibt zunächst keine Ränder oder Grenzen. Es gibt nur eine Mitte. Ein Netzwerk lässt sich im Prinzip von Akteur zu Akteur und von Objekt zu Objekt immer weiter fortführen und verknüpfen. Wir haben uns für diese Ausstellung von dem Begriff des Plateaus von Gilles Deleuze und Felix Guattari inspirieren lassen, nachdem wir zahlreiche andere mögliche Begriffe verworfen haben. Ein Plateau ist immer Mitte, es hat weder Anfang noch Ende. Ein Netzwerk besteht aus verschiedenen Plateaus. Deleuze und Guattari bezeichnen jede Mannigfaltigkeit als ein Plateau, welche mit anderen Mannigfaltigkeiten durch unsichtbare Verbindungen verknüpft werden kann, sodass ein Netzwerk entstehen und sich ausbreiten kann. Plateaus sind die Oberflächen, auf denen Netzwerke sichtbar werden.4 »Jedes Plateau kann von jeder beliebigen Stelle aus gelesen und mit jedem anderen in Beziehung gesetzt werden.«5 Wir übernehmen dagegen nicht den biologistischen Begriff des Rhizoms, den wir durch den uns als besser geeignet erscheinenden Begriff des Netzwerks ersetzen. Ein Plateau ist daher immer von der Mitte aus zu betrachten oder zu sehen und verzweigt sich nach außen. Es hat keine Ränder. Es findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion »und ... und ... und«.6 Netzwerke sind darüber hinaus auch zeitlich begrenzt. Sie werden durch soziale Beziehungen aufgebaut und verschwinden ebenso wieder mit den Akteuren. Wie kann man soziale Netzwerke, die man selbst nicht direkt beobachten konnte, nachträglich sichtbar machen oder rekonstruieren? Ein Netzwerk entsteht durch regelmäßige oder unregelmäßige Wiederholung sozialer Interaktionen, also durch Konnektivität. Nachträglich sichtbar machen lässt sich diese wechselseitige Verbundenheit verschiedener Akteure in erster Linie durch Objekte wie Kunstwerke, die beispielweise Widmungen auf der Vorder- oder Rückseite tragen, oder historische Dokumente wie Fotografien, Briefe, Postkarten, Texte, Tagebücher oder Nachbarschaften. Unsere Art zu schreiben ist selbst netzwerkartig und aus einzelnen Plateaus zusammengesetzt. Eine zentrale Rolle in unserem Ansatz spielen die Kunstwerke, die in der jeweiligen Zeit entstanden sind. Sie sind wichtige Kristallisationspunkte des sozialen Austauschs und der sozialen Interaktion. Die Kunstwerke funktionieren als Knoten oder hub in einem Kommunikationsnetz, welches ein System des Austauschs, Präsentierens und Repräsentierens bildet. Hier spielen vor allem die Personen, mit denen Willi Baumeister in Kontakt stand, befreundet war und sich austauschte, eine zentrale Rolle. Dies kann am Beispiel von getauschten, geschenkten oder gewidmeten Werken, Briefen und Fotografien der Künstlerkolleg:innen und Freund:innen sichtbar gemacht werden. Als entscheidende Akteure im Kunstsystem, die Netzwerke bilden, lassen sich verschiedene soziale Gruppen voneinander unterscheiden, wie Künstler:innen, Kritiker:innen, Kurator:innen, Wissenschaftler:innen, Verleger:innen oder Sammler:innen. Neben den Artefakten und den Akteur:innen spielen jedoch auch die sozialen Räume, in denen sich die Künstler:innen bewegten, wie Wohnungen, Ateliers oder Kunstinstitutionen, eine große Rolle. Am Beispiel Baumeisters lässt sich zeigen, inwieweit Nachbarschaft und soziale Nähe ein wichtiger und begünstigender Faktor für die Ausbildung und Institutionalisierung der Netzwerke war. Dies betrifft auch Reisen ins In- und Ausland, an denen er andere Akteure wie Künstlerkolleg:innen, Galerist:innen, Sammler:innen oder Kunstkritiker:innen traf und vor Ort verschiedene Ausstellungen besuchte. 18
Baumeisters Verwendung des Plateau-Begriffs Willi Baumeister hat den Begriff des Plateaus selbst einige Male in verschiedenen Zusammenhängen verwendet. So heißt es 1947 in Das Unbekannte in der Kunst: »Dagegen hat Cézanne das Studium zum Endstadium erhoben. Die weißen Stellen geben mit das Plateau zur Entwicklung des Kubismus.«7 Dies ist die früheste Verwendung, die wir gefunden haben. In einem 1949 verfassten Text über Fernand Léger heißt es: »Im Jahre 1913 veranstaltete die Galerie ›Sturm‹ den ›Ersten deutschen Herbstsalon‹. Sie war das Plateau einer Sturm-undDrang-Zeit, und alles Ungewöhnliche war hier zu sehen.«8 In einem anderen Text über sein Studium und sein Verhältnis zu Adolf Hölzel aus demselben Jahr heißt es: »allein adolf hölzel erkannte das plateau für einen künstlerischen humus.«9 In einem Brief an Ottomar Domnick vom 22. November 1954 taucht der Begriff schließlich noch einmal auf: »auch leihgaben sind ein fragliches plateau für mich.«10 Aus diesen Beispielen lässt sich erkennen, dass er den PlateauBegriff im Sinne von Plattform, Ebene oder Niveau verstanden haben muss. Dies ist im Prinzip ein ähnliches Verständnis, wie wir es hier der Visualisierung seiner Netzwerke zugrunde legen. Willi Baumeisters soziale Netzwerke Baumeister arbeitete zeit seines Lebens in den meisten Medien, die einem Künstler wie ihm zu seiner Zeit zur Verfügung standen. Er war ein Künstler, der außergewöhnlich gut in Deutschland, Frankreich, der Schweiz und den USA mit Ausstellungsbeteiligungen, Einzelausstellungen, Galerien, Sammler:innen, Künstlerkolleg:innen und Kunsthistoriker:innen vernetzt war. Willi Baumeister kann man als social hub, als gesellschaftlichen Mittelpunkt, bezeichnen. Er war sein ganzes Leben lang ein ausgezeichneter Netzwerker. Bereits sehr früh in seiner künstlerischen Laufbahn knüpfte er wichtige internationale Kontakte, die er später auch während der Diktatur der Nationalsozialisten mit Einschränkungen aufrechterhalten konnte.11 Er war unter anderem mit Hans Arp, Max Bill, Julius Bissier, Le Corbusier, Albert Gleizes, Ivan und Claire Goll, Alexej Jawlensky, Wassily Kandinsky, Ida Kerkovius, Oskar Kokoschka, Fernand Léger, El Lissitzky, Ludwig Mies van der Rohe, László Moholy-Nagy, Piet Mondrian, Ernst Wilhelm Nay, Oskar Schlemmer, Michel Seuphor, Władysław Strzemiński, Sophie Taeuber- Arp und Jan Tschichold befreundet und stand mit ihnen in engem Austausch. Mit vielen seiner Schüler:innen verband ihn bis zu seinem Tod ein freundschaftliches Verhältnis. Die Hauptthese unserer Ausstellung lautet, dass Künstler:innen nicht in einem luftleeren Raum arbeiten. Sie sind stets umgeben von anderen Akteur:innen, Institutionen, Ereignissen, Objekten oder Traditionen, die sie zu bestimmten Zeitpunkten in ihrem Leben und in ihrer künstlerischen Karriere kennenlernen und von denen sie unter Umständen beeinflusst werden. Willi Baumeister war von Beginn an bestens von einem sozialen Netzwerk aus gleichaltrigen Freund:innen wie zum Beispiel Gustav Schleicher, Oskar Schlemmer, Otto Meyer-Amden oder Ida Kerkovius umgeben. Dieses Netzwerk wurde bereits 1916 als »Hölzel-Kreis« bezeichnet.12 Sehr großzügig gefördert wurden sie dabei von ihrem Lehrer an der Königlich-Württembergischen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, Adolf Hölzel. Hinzu kommen Institutionen, in die er aufgenommen wurde, an denen er teilnahm oder in denen er ausstellen konnte. Es kann sich dabei um Zeitschriften wie L’Esprit nouveau oder Das Neue Frankfurt handeln. Ausstellungsinstitutionen wie der von Karl und Oskar Schlemmer betriebene Neue Kunstsalon am Neckartor, das Stuttgarter Kunsthaus Schaller, Herwarth Waldens Berliner Galerie Der Sturm, verschiedene Künstlervereinigungen wie die Üecht-Gruppe, die Stuttgarter Sezession, der Deutsche Künstlerbund, der Ring »neue werbegrafiker«, die Künstlergruppen Cercle et Carré und abstractioncréation oder ZEN 49 weisen auf institutionalisierte, soziale Netzwerke hin, deren Mitglied oder Mitbegründer Baumeister war. Aber auch Kunsthochschulen wie das Bauhaus in Dessau, die Städtische Kunstgewerbeschule in Frankfurt am Main, die Staatliche Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in Breslau, die Staatliche Hochschule für Werkkunst in Dresden und die Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart interessierten sich für Willi Baumeister als gefragten Hochschullehrer. Die unverblümteste Beschreibung von Willi Baumeister, seiner Fähigkeit, Freundschaften zu bilden sowie die Charakterisierung seiner Person stammt wahrscheinlich von Will Grohmann, der ihn seit seiner Frankfurter Zeit kannte. »Als Schwabe fand er den Kontakt mit mir ziemlich rasch; er entschied sich auch später für oder gegen einen Menschen, immer sofort, so wie er zur Leistung eines anderen sehr rasch ja oder nein sagte. [...] Es war üblich geworden, neue ›Serien‹, die Baumeister malte, zum Anlass festlicher Atelierbesuche zu machen, zu schwätzen und im Bubenbad einen guten Wein zu trinken. Baumeister war auch in den schlechtesten Zeiten stets gut gelaunt und gastfrei, voller Witz und überraschender Einfälle. Es war jedesmal ein Vergnügen mit ihm zusammen zu sein. [...] Er schrieb immer, und wenn es eine Postkarte war, selbst dann, wenn es nichts zu berichten gab als den Besuch eines Kollegen in Stuttgart oder die Absicht, ein Buch zu schreiben, denn in den letzten Kriegsjahren fehlte es ihm an Material und sogar an einem Atelier. Und auch hier die immer wiederkehrende Frage: wann sehen wir uns?«13 19
1905–1912 Der Pulsschlag der Hand Ausbildung im Hölzel-Kreis PLATEAU 1 HANS DIETER HUBER / HANNELORE PAFLIK-HUBER
25 / ← / V. l. n. r.: Alfred Wickenburg, Ida Kerkovius, Peter Eggers, Edmund Daniel Kinzinger, Hermann Stenner, Adolf Hölzel, Carry van Biema, Willi Baumeister, Oskar Schlemmer, Heinrich Eberhard, Degerloch, 1914 halb der Akademie versperrt war. Zudem sah ich mich der untilgbaren Blamage gegenüber, die Akademie verlassen zu müssen. In diesen, auf meiner siebzehnjährigen Jugend schwer lastenden Umstände [sic!] und auf der Suche nach irgendeiner Möglichkeit, erfuhr ich zufällig, dass einer der drei MalklassenProfessoren so veraltet sei, dass ihn kein Schüler mehr als Lehrer wählte und dass er zur Zeit überhaupt keinen Schüler hätte. Dieser Malklassen-Professor nahm mich gegen den eigentlichen Willen des Konvents auf. Ich hatte das Pensum, das die Zeichenklasse zum Aufstieg in die Malklasse setzte, nicht erfüllt, kaum angefangen.«2 Dieser »veraltete« Maler war Gustav Igler, der von 1888 bis 1914 Professor an der Königlichen Kunstschule und späteren Akademie war. Zu ihm wechselte Baumeister zu Beginn des Sommersemesters 1909 und blieb dort bis Ende des Sommersemesters 1910, also für drei Semester. Er begann in den Jahren bei Gustav Igler, neoimpressionistische Gemälde zu malen, und setzte sich mit Paul Cézannes Badenden auseinander. Sehr schnell wusste auch Igler nichts mehr mit seinem Schüler anzufangen und verweigerte ihm die weitere Unterstützung. Damit stand er im März 1910 zum zweiten Mal vor einem drohenden Rauswurf aus der Akademie. Igler gab ihm aber wenigstens noch einen Tipp. »›Wenn Sie so arbeiten wollen, so können Sie das bei einem gewissen Herrn Kollegen machen, aber nicht bei mir.‹ Wer damit gemeint war, wußte ich damals nicht. [...] Damit war zum zweitenmal [sic!] die Katastrophe der Entlassung umgangen und der Aufstieg in eine Komponierklasse gesichert, obschon auch dieser Übertritt in gewissem Sinne illegal war. Denn ich hatte auch das geforderte Pensum in der Malklasse nicht erfüllt.«3 Dieser »gewisse Herr Kollege« war der Maler Adolf Hölzel, der ihm schon zuvor über einen Schüler ausrichten ließ, dass er Baumeisters Malerei schätzte und er ihn doch mal besuchen solle.4 Hölzel wurde zum selben Zeitpunkt, als Baumeister sein Studium aufnahm, nämlich zum Wintersemester 1905/06, an die Königliche Württembergische Akademie berufen. Er hatte zuvor in Dachau bei München eine private Malschule geleitet, in der er vor allem Künstlerinnen wie Ida Kerkovius, Lily Hildebrandt, Martha Cunz, Bettina Feistel-Rohmeder, Emmy Louise Walther, aber auch Männer wie August von Brandis, Emil Nolde, Ernst Norlind und Rudolf Levy unterrichtete. Im Alter von 21 Jahren traf Willi Baumeister im Oktober 1910 in der Hölzel-Klasse auf eine hochinteressante und sehr internationale Mischung von Kunststudenten und -studentinnen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Holland (Abb. S. 22–23). Er begegnete dort unter anderem Paul Bollmann, Heinrich Eberhardt, Josef Eberz, Lily Hildebrandt, Johannes Itten, Ida Kerkovius, Otto Meyer, Alfred Heinrich Pellegrini, Oskar Schlemmer und Hermann Stenner. Ein erstes Atelier fand er im Hinterhaus der Friedensstraße 11 gegenüber der Friedenskirche, in dem auch andere Stuttgarter Künstler:innen wie Johannes Itten, Hanna vom Rath aus Frankfurt oder Lily Hildebrandt Nachdem Wilhelm Friedrich Baumeister 1905 erfolgreich die Reifeprüfung an der Königlichen Friedrich-Eugen-Realschule in Stuttgart absolviert hatte, begann er am 1. Juli 1905 zunächst eine Lehre als Dekorationsmaler im Malergeschäft seines Onkels Gustav Kämmerer. Ein paar Monate später, im Oktober 1905, wurde er an die Königliche Württembergische Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart zum Studium zugelassen. Er war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz 17 Jahre alt. Nach der damaligen Studienordnung musste man zunächst zwei Jahre lang die Zeichenklasse besuchen, bevor man dann in die Malklasse und danach in eine der angesehenen Komponierklassen wechseln konnte. Die Zeichenklasse absolvierte er bei dem Landschafts- und Stilllebenmaler Robert Poetzelberger. Das Studium stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Und das gleich aus mehreren Gründen: Wegen seiner parallelen Malerlehre konnte Baumeister nur mit halber Kraft, nämlich nur in den Wintersemestern, an der Akademie studieren, sodass sich die zweijährige Grundausbildung in der Zeichenklasse über dreieinhalb Jahre, bis zum Ende des Wintersemesters 1908/09, hinzog. Baumeister befand sich erst im dritten Studiensemester. In den Sommermonaten war er mit seiner Malerlehre beschäftigt, die er im August 1907 endlich mit der Gesellenprüfung abschloss. Aber gleich danach wurde er vom 1. Oktober 1907 bis zum 30. September 1908 zum einjährigen Militärdienst bei der 2. Kompanie des 7. Württembergischen Infanterie-Regiments »Kaiser Friedrich, König von Preußen« eingezogen, wo er auch eine Art von Grundausbildung – aber ganz anderer Art – erhielt und im Rang eines Gefreiten entlassen wurde.1 Zusätzlich, als ob das alles immer noch nicht für einen angehenden Künstler genügen würde, nahm er zusammen mit seinem Schulfreund Gustav Schleicher, dem späteren Künstlerfreund und Stadtbaurat von Stuttgart, privaten Kunstunterricht bei dem Maler Josef Kerschensteiner, einem Tiermaler und Mitglied des Stuttgarter Künstlerbunds. Er lud sich ziemlich viel auf die Schippe. Eigentlich zu viel, muss man aus heutiger Sicht feststellen. Eine Lehre, privater Kunstunterricht, Akademiestudium, Militärdienst. Die Eltern müssen wahrlich stolz auf ihren Sohn gewesen sein. Er selbst schrieb in einem autobiografischen Rückblick: »Ich wurde im Jahr 1905 unter dem Prädikat ›bedingt‹ in die Zeichenklasse der Stuttgarter Kunst-Akademie für die folgenden Wintersemester aufgenommen (sommers Lehrling in einem Malergeschäft). [...] Nach 2 oder 3 Semestern, in denen ich kaum in der Klasse geduldet, mitgehinkt hatte und meist degradiert in der entsetzlichen Gipsklasse schwersten Zweifeln ausgesetzt war, wurde meine Bemühung vom Professor endgültig als unbegabt abgelehnt. Da ich jedoch eisern bestrebt war, trotz allem ein Maler zu werden, ergab sich ein unlösbares Problem, was ich jetzt zu tun hätte, da der normale Weg des Aufstiegs: Zeichenklasse, Malklasse, Komponierklasse inner
26 wieder fragen, einzelne Worte sich deuten lassen u.s.w. sodass Kraft und Zeit aufgewendet werden mussten, um eine phonetische Verständigung und eine sinngemäße Verständigung zu erzielen. Oft blieb es ein lückenhaftes Resultat. Die erste Frage die ich an ihn direkt richtete war aus welchem Grund es ihm an dem Abend der ersten Begegnung gefallen hätte. Er antwortete nicht direkt, sondern ließ mir durch Karl Vollmar sagen, die Witze hätten ihm gefallen. [...] Ich ließ deshalb Vollmar fragen, warum ihm die Witze gefallen hätten, da wir doch auf ihn keine Rücksicht genommen hätten? Er ließ mir die Antwort in lakonischer Kürze zukommen: ›Eben deshalb‹, d. h. nur aus dem von mir erwähnten Grunde, d. h. weil wir uns ohne Vorbehalt natürlich, und ohne Rücksicht auf ihn gaben. Einfach gesagt, echt gemeint, in der Tat das allein richtige getroffen.«6 Es entwickelte sich eine intensive Freundschaft zwischen Schlemmer, Meyer und Baumeister, die vor allem eine präzise und nachhaltige, inhaltliche Klärung zentraler künstlerischer Fragen zur Folge haben sollte, welche besonders Oskar Schlemmer zu denjenigen ästhetischen Lösungen und Formulierungen führte, für die er später berühmt wurde. Die reduzierten, schematischen Profilköpfe, die direkt auf Meyer-Amdens sogenanntes Maiglöckchen-Bild zurückgehen, finden sich auch bei Willi Baumeister in seiner Amdener Zeit. Das legendäre Maiglöckchen-Bild Um 1909 malte Otto Meyer das sogenannte Maiglöckchen-Bild, das heute als verschollen gilt. Es gibt aber eine Skizze von seiner Hand mit einer handschriftlichen Notiz von Willi Baumeister (Abb. S. 52), eine ausführliche Beschreibung des Bildes7 und eine undatierte Gedächtnis-Skizze von der Hand Baumeisters (Abb. 1).8 In diesem Bild entwickelte Otto Meyer den berühmten schematischen Profilkopf. Er ist aus einem quadratischen Raster aufgebaut und nimmt die Pixelstruktur digitaler Dateien durchaus vorweg. Das Gesichtsprofil wird in ein quadratisches Raster eingefügt. Die Konturen von Stirn, Nase, Lippen und Kinn orientieren sich zwar an diesem geometrischen Raster, besitzen aber noch die Freiheit, davon abzuweichen. Mit dieser Formulierung fand Meyer-Amden eine künstlerische Lösung, die besonders von Oskar Schlemmer übernommen wurde und auch bei Willi Baumeister in den Jahren 1912 und 1913, in seiner Amdener Zeit, eine wichtige Rolle spielte. Ein Plakat von Oskar Schlemmer zum Neuen Kunstsalon am Neckartor von 1913 baute auf diesem schematisierten Profil Meyers auf.9 arbeiteten. In der Klasse von Adolf Hölzel, in der Baumeister von Oktober 1910 bis April 1912 studierte, trafen verschiedene internationale Freigeister aufeinander, die an der Kunst der Moderne Interesse hatten und die systematische Formen- und Farbenlehre Hölzels als kompositorische Struktur und Haltung gut fanden. Wenngleich sie diese Lehre vielleicht innerlich ablehnten, profitierten sie doch indirekt oder unbewusst mehr davon, als sie sich selbst eingestehen mochten.5 Baumeister stellte in dieser Zeit bereits fleißig aus. Seine erste Ausstellung dürfte 1909 eine Schau von Malereien der Studierenden in der Königlichen Württembergischen Kunstakademie gewesen sein. Dadurch ergab sich der erste Kontakt zu Adolf Hölzel, der ihm ausrichten ließ, dass er seine dort ausgestellten Bilder sehr schätzen würde. Aber auch 1910 war schon ein reges Ausstellungsjahr für Baumeister. Im Februar nahm er an einer Ausstellung im Kunsthaus Schaller in Stuttgart teil, in der Handzeichnungen und farbige Studien von Stuttgarter Künstlern gezeigt wurden. Im März beteiligte er sich an der Jahresgaben-Ausstellung des Vereins Württembergischer Kunstfreunde, im September an der Ausstellung Zeitgenössische französische Künstler (Pariser Independants) im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, in der er als Gast das Bild Junge am Landungssteg von 1909 zeigte, und im Dezember an der Weihnachtsausstellung der Akademieschüler im Museum der Bildenden Künste Stuttgart sowie an einer Gruppenausstellung im Kunstsalon Vollmar. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt im siebten Studiensemester und war noch nicht ganz 21 Jahre alt. Er malte vorwiegend impressionistisch und spätimpressionistisch inspirierte Landschaftsbilder und Porträts. Seinen Stil hatte er offensichtlich zum damaligen Zeitpunkt noch nicht gefunden. Die Freundschaft mit Otto Meyer Im selben Jahr, in dem er zu Gustav Igler wechselte, lernte Willi Baumeister durch Vermittlung eines Freundes, des Architekten Karl Vollmar, den Schweizer Künstler Otto Meyer in einem Café kennen. In einem emotional sehr bewegenden Rückblick, der höchstwahrscheinlich nach dem Tod von Oskar Schlemmer 1943/44 entstanden ist, schildert er diese erste Begegnung: »Eines Tages verabredete Vollmar ein abendliches Treffen in einem Café der Büchsenstraße. Er wolle jemand mitbringen unter bestimmten Bedingungen. Wir dürften mit dem Unbekannten keine Umstände machen, jedoch Zurückhaltung sei angebracht. Er sei beiläufig gesagt der bedeutendste Maler seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts. [...] Vollmar brachte den erstaunlichen Mann abends. Er war ein Mann, denn er hatte zu unserem Erstaunen einen Vollbart. Er war erstaunlich, weil er kein Wort redete, ausgenommen etwas Unverständliches bei der Begrüßung und beim Abschied. Am anderen Tag baten wir Vollmar um Aufklärung. Er berichtete uns, Otto Meyer hätte es in unserer Gesellschaft sehr gefallen. Es war um diese Zeit ungewöhnlich schwer, mit O. M. in einen Kontakt zu kommen. Ein derartiges Maß von Zurückhaltung habe ich nie wieder beobachtet. Was er sprach war nur karge Antworten auf Fragen. Diese Antworten waren zudem sehr leise und in berner Dütsch gegeben! Man musste also wieder und
27 / 1 / Willi Baumeister Skizze zum Maiglöckchen-Bild (nach Otto Meyer-Amden), undatiert, Bauhaus-Archiv, Berlin Ida Kerkovius 1908 kam die 29-jährige Ida Kerkovius aus ihrer baltischen Heimat Riga nach Deutschland und ging zunächst nach Berlin, wo sie privaten Kunstunterricht im Akt- und Porträtzeichnen bei dem Künstler Adolph Meyer nahm. Sie war jedoch mit seiner akademischen Ausbildungsmethode unzufrieden und verließ noch im Herbst desselben Jahres die Stadt, um nach Stuttgart an die Königliche Akademie der Bildenden Künste zu Adolf Hölzel zu wechseln. Kerkovius kannte Hölzel schon aus ihrer Dachauer Zeit. Denn sie hatte als 23-Jährige im Sommer 1902 fünf Monate lang, von Mai bis September, bei Hölzel in Dachau privaten Malunterricht in seiner dortigen Malschule genommen. Auf der Rückfahrt von Italien mit ihrem Onkel Heinrich und ihrer Tante Minna über Rom, Venedig und Florenz trennte sie sich in Wien von den Verwandten und reiste allein weiter nach Dachau. Sie wurde eine der ersten Schülerinnen von Adolf Hölzel, der sie seinem Malerkollegen Ludwig Dill mit den Worten vorstellte: »Fräulein Kerkovius aus Riga über Rom – eine ganz moderne Malerin.«10 In Stuttgart fand sie Unterkunft im Haus des Württembergischen Malerinnenvereins in der Eugenstraße 17, einer der frühesten Institutionen emanzipierter Künstlerinnenbewegungen.11 Wie aus den Jahresberichten hervorgeht, muss sie bis 1913 in der Eugenstraße 17 gewohnt haben. Sie trat im selben Wintersemester 1910/11 in die Hölzel-Klasse ein, wie Willi Baumeister und Lily Hildebrandt. 1911 wurde Kerkovius Assistentin von Adolf Hölzel und unterrichtete neben anderen Schüler:innen auch den Schweizer Künstler Johannes Itten und die Frankfurter Künstlerin und spätere Galeristin Hanna vom Rath. Von 1913 bis 1915 konnte Kerkovius sehr wahrscheinlich eines der begehrten Meisterschüler-Ateliers in den Unteren Anlagen des Schlossgartens für sich in Anspruch nehmen, die 1901 von dem Architekten Albert Hangleiter erbaut und im Zweiten Weltkrieg durch Bombenangriffe zerstört wurden. Sie besaßen Zentralheizung, fließendes Wasser, elektrischen Strom und Telefon. Neben ihrem Lehrer Adolf Hölzel hatten auch Baumeister, Schlemmer, Stenner und Hildebrandt dort ihre Ateliers. Ab 1915 war Kerkovius in ihrer neuen Wohnung im obersten Stockwerk der Urbanstraße 53 gemeldet, in der sie bis zur Bombardierung im März 1944 arbeitete und lebte.12 Hermann Stenner Zum Sommersemester 1910 kam der in Bielefeld geborene Maler Hermann Stenner aus München nach Stuttgart. Er trat in die Malklasse von Christian Landenberger ein, in der zuvor auch Oskar Schlemmer studiert hatte. Im Wintersemester 1911/12 wechselte Stenner in die Klasse von Adolf Hölzel. Er war nun Komponierschüler und blieb sechs Semester lang bei Adolf Hölzel. Im März 1912 erhielt er eines der quadratischen und 49 Quadratmeter großen Meisterschüler-Ateliers. Es gab fünf Ateliers im Obergeschoss, die von den Malern belegt waren, und fünf Ateliers vorwiegend für Bildhauer im Erdgeschoss.13 Stenner fuhr auf alle Sommerexkursionen Hölzels mit, 1912 nach Montjoie (ab 1918 Monschau) im Kreis Aachen, 1913 nach Schleißheim bei München und 1914 nach Meersburg am Bodensee. 1913 stellten Baumeister, Schlemmer und Stenner gemeinsam im Neuen Kunstsalon am Neckartor, den Oskar Schlemmer zusammen mit seinem Bruder Karl leitete, aus. Der Ausstellung schlug ein Sturm der Entrüstung durch den Kritiker des Stuttgarter Neuen Tagblatts, Hermann Tafel, entgegen, der die ausstellenden Künstler als »arme verirrte Unglückliche« bezeichnete.14 Auch bei dem Wandbilderauftrag für die Deutsche Werkbund-Ausstellung in Köln 1914 arbeitete Stenner mit Oskar Schlemmer und Willi Baumeister zusammen an einem Zyklus zum Leben der Heiligen Ursula.
Lily Hildebrandt Kubistischer Kopf, 1915
35 Hanna Bekker Selbstporträt mit Hut, 1916
36 Oskar Schlemmer Männlicher Kopf I, Selbstbildnis, 1912
37 Hermann Stenner Selbstbildnis mit roter Jacke, 1911
1919–1928 Schwarz-Weiß-Rot ist elementar Die Stuttgarter Jahre PLATEAU 3 HANS DIETER HUBER / HANNELORE PAFLIK-HUBER
65 In Stuttgart gab es große Unzufriedenheit mit der konservativen Besetzungspolitik der hiesigen Kunstakademie. Gustav Schleicher hatte bei Paul Klee angefragt, ob er für die Nachfolge von Adolf Hölzel bereitstünde und Klee hatte ihm zugesagt. Der konservative Senat der Stuttgarter Kunstakademie versuchte jedoch, den von den Studierenden favorisierten Kandidaten mit negativen Bewertungen und abschätzigen Urteilen zu diskreditieren. Daraufhin erschien am 24. Oktober 1919 im Stuttgarter Neuen Tageblatt ein Aufruf von Studierenden der Akademie unter der Federführung von Oskar Schlemmer und Willi Baumeister wegen der geplanten Neubesetzung der Hölzel-Professur, in der die massive Kritik an der Besetzungspolitik deutlich wurde. »Es ist Streit in den Lagern der Künstler. Der Kampf um die Sache wird einer um die Person. Adolf Hölzel ist von der Akademie geschieden. Visionär der Farbe, Systematiker der Form, Pionier alles Neuen [...]. Es ist eine Lücke. Die Jugend fordert ihr Recht bei der Wahl [...]. Die Wahl ist entschieden. Paul Klee der Erwählte. Darüber Streit in den Lagern.«1 Die Üecht-Gruppe Aufgrund dieser Unzufriedenheit und Enttäuschung gründete sich 1919 die sogenannte Üecht-Gruppe, ein Zusammenschluss von Künstlern wie Gottfried Graf, Edmund Daniel Kinzinger, Albert Müller, Hans Spiegel und Oskar Schlemmer. Auch Camille Graeser, Gustav Schleicher, Richard Türcke und Richard Herre gehörten dazu. Willi Baumeister gestaltete das Plakat für die erste Ausstellung. Üecht war ein Pseudonym von Otto Meyer-Amden. Man traf sich regelmäßig im so getauften Café de la Résistance (vermutlich das Café Marquardt) zu einem Gesprächskreis. Man suchte nach einer Bezeichnung für die Gruppierung, die sowohl das Neuartige, Unkonventionelle als auch die Programmatik der Gruppe betonen sollte. In diesem Sinne forderte Willi Baumeister etwas Modernes, durchschlagend Neues und Irrationales. Die von Oskar Schlemmer vorgeschlagene Bezeichnung Üecht, die er zunächst als tüchtig und wichtig interpretierte, war aber, wie Karin von Maur vermutet, als Hommage an den in der Schweiz lebenden Otto Meyer-Amden gedacht, der während seiner Stuttgarter Zeit unter diesem Pseudonym lebte. Auch die Verwendung des althochdeutschen Wortes »uohta« als Morgendämmerung oder Tagesanbruch könnte eine Rolle bei der Namensgebung gespielt haben. So verband Oskar Schlemmer in einer unveröffentlichten Notiz die Gruppe mit dem Beginn des Tages und dem Erwachen neuer Kräfte.2 Üecht sollte also auch eine Metapher für die Hoffnung auf eine neue Kunst sein. Man wollte eine Gesellschaftsform schaffen, die Erwünschtes und Erwartetes antizipierte. »Eine weitere Bedeutung erhält das Wort im Schwyzerdütsch, wo das Attribut ›unecht‹ wie ›üecht‹ gesprochen wird, womit angedeutet werden sollte, dass es sich hier um eine ›unechte‹ Gruppe handele, die nicht einen gemeinsamen Stil anstrebte, sondern in der die Individualität eines jeden Künstlers voll zur Entfaltung kommen könne.«3 Die Künstler hatten das Ziel, aus ihrer gesellschaftlichen Isolation in die Gesellschaft hineinwirken zu können. »Wir stürzten uns nicht auf Vereinsparagraphen, auf Vorstandschaft, Mitgliedschaft sondern auf die gleichartige Gesinnung und Kameradschaft und fanden diese geeigneter als die juristische eines eingetragenen Vereins«.4 Im November 1919 erschien das erste und einzige Mappenwerk der Gruppe in einer Auflage von 31 Exemplaren. Das Inhaltsverzeichnis wurde von Oskar Schlemmer gestaltet.5 Eine Mitgliederliste der Gruppe von 1925 verzeichnete die Hölzel-Schüler Albert Müller, Willi Baumeister, Oskar Schlemmer und Gottfried Graf sowie den Landenberger-Schüler Hans Spiegel. Erste Bühnenbilder Im selben Jahr begann Willi Baumeister, für das Theater zu arbeiten. Er entwarf das Bühnenbild und die Kostüme für das unmittelbar von den Eindrücken des Ersten Weltkriegs inspirierte Theaterstück Gas von Georg Kaiser am Stuttgarter Theater. Es war der Beginn einer lebenslangen Tätigkeit für das Theater. 1920 begann er mit Gemälden, die er Flächenkräfte nannte und in denen er sich sehr stark dem russischen Konstruktivismus speziell der Prägung von Kasimir Malewitsch annäherte. Aus dieser Phase ist auch das erste und früheste Gemälde aus der Sammlung Gunzenhauser zu sehen, eine Arbeit mit dem Titel Flächenkräfte (Abb. S. 73), in der ein großes schwarzes Rechteck dynamisch von bunten Flächen und Linien hinterfangen wird.6 Margarete Oehm 1923 lernte Willi Baumeister über seinen Schulfreund Gustav Schleicher und dessen Schwester Berta die 1898 in Stuttgart geborene Künstlerin Margarete Emma Anna Maria Oehm kennen. Berta und Margarete hatten gemeinsam privaten Malunterunterricht genommen. Margarete Oehm war als Künstlerin mit großer Begabung seit 1912 tätig (Abb. 1). 1919 heiratete sie einen Adolf Palm, von dem sie bereits im Jahr darauf wieder geschieden wurde. Sie nahm Privatunterricht bei verschiedenen Malerinnen wie Frieda Mürdter, Fräulein Koeppel oder Fräulein May. Seit 1920 war sie Mitglied der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF). Im selben Jahr absolvierte sie einen Studienaufenthalt in Worpswede. Sie fragte Willi Baumeister, ob er ihr Malunterricht geben und ihre Kunst korrigieren würde. Daraus wurde erst ein verliebtes Paar und später eine lebenslange Ehe mit zwei Kindern. / ← / Richard Docker (?) Hochzeit von Margrit und Willi Baumeister am 20. November 1926, Stuttgart, Hacklanderstraße 19
66 Auf einer Fotografie, die von Willi Baumeister um 1923 in seinem Atelier in der Werastraße 15 aufgenommen wurde, sieht man Margarete Oehm in einem weißen Kittel und mit hohen Schnürstiefeln auf einem Sofa sitzen, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand haltend und in die Kamera blickend (Abb. 2). Rechts von ihr befindet sich ein kleiner runder Beistelltisch mit weißer Tischdecke. Auf ihm steht in der Mitte eine große weiße Kaffeekanne aus Porzellan mit drei Rosenblüten, links davon eine kleinere Teekanne mit chinesischem Dekor. Dahinter, auf einem mit einer Tagesdecke abgedeckten Bett lehnt ein größerer japanischer Lackteller mit zwei Lilienmotiven. Auf dem Tisch rechts stehen zwei japanische Lackdosen. Im Hintergrund rechts auf dem Bett ist ein japanischer Flechtkorb mit zwei Henkeln zu erkennen. Bis dahin würde man die Fotografie für einen typischen Atelierschnappschuss halten. Aber es gibt noch eine zweite Fotografie. Und plötzlich erzählen diese beiden Fotografien zusammen die Geschichte einer gezielten und absichtlichen Inszenierung. Die zweite Fotografie stammt von der Hand Margarete Oehms (Abb. 3). Jetzt sitzt Willi Baumeister in weißem Hemd mit Zigarette auf dem Sofa und schaut nachdenklich in die Ferne: der Bohème-Künstler beim Nachdenken. Born Under Saturn. Das Arrangement auf dem Tisch und dahinter ist dasselbe. Aber nun ist der Bildausschnitt wesentlich größer. Der Blick fällt auf ein rechts am Boden stehendes Gemälde auf Leinwand, welches exakt den fotografierten Tisch mit einer der beiden Lackdosen, der Porzellankanne mit den beiden Rosenblüten und dem dahinter befindlichen japanischen Lackteller zeigt. Es handelt sich um ein verschollenes Stillleben von der Hand Margaretes. Im Hintergrund an der Wand hängt links auf schwarzem Untergrund das Mauerreliefbild Figur mit Streifen II von 1920 (Abb. S. 82).7 Es ist aber nicht irgendein Bild, sondern es ist genau dasjenige, welches Willi Baumeister Margarete am 18. August 1923 schenkte. Dieses wurde im Jahr zuvor in der Berliner Galerie Der Sturm zusammen mit Bildern von Fernand Léger und anschließend in der Einzelausstellung Baumeisters in der Galerie von Garvens in Hannover gezeigt. / 1 / Willi Baumeister Margarete Oehm vor den Badenden, März 1924 / 2 / Willi Baumeister Margarete Oehm im Atelier Werastraße 15, um 1923
67 Die Bauhaus-Ausstellung von 1923 Am 15. August 1923 fuhren beide zusammen zur Eröffnung der berühmten ersten Gesamtausstellung des Bauhauses nach Weimar, wo ja mittlerweile auch seine beiden Stuttgarter Studienfreunde Oskar Schlemmer und Johannes Itten unterrichteten und Ida Kerkovius studierte (Abb. 4). Es existiert eine Fotografie von der Eröffnung der Ausstellung, auf der Wassily Kandinsky, Reichskunstwart Dr. Edwin Redslob, Kultusminister Greil, Willi Baumeister und Margarete Oehm in weißem Kleid rechts im Vordergrund zu sehen sind. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie bei diesem Anlass auch die anderen Bauhaus-Professoren wie Walter Gropius, Georg Muche, Paul Klee, Wassily Kandinsky und Lyonel Feininger kennengelernt haben. Wahrscheinlich trafen sie dort außerdem zum ersten Mal den Typografen Jan Tschichold aus Leipzig, der ebenfalls angereist war. Das Bauhaus wurde von der thüringischen Landespolitik gebeten, Rechenschaft über seine bisherige Arbeit abzulegen. In den folgenden Jahren gab es immer wieder verschiedene Treffen und briefliche Korrespondenz zwischen Kandinsky und Baumeister. Im März 1932 tauschten die beiden Künstler schließlich Arbeiten mit gegenseitigen Widmungen (Abb. S. 102). Typografische Arbeiten Es erstaunt aus heutiger Sicht, dass Willi Baumeister 1919 begann, im Bereich der Typografie und Reklamegestaltung zu arbeiten. Unseres Wissens nach war er völliger Autodidakt auf diesem Gebiet. Sein erstes Plakat war das Plakat zur 1. Herbstschau Neuer Kunst. Sturm, Berlin, Üecht-Gruppe, Paul Klee im Stuttgarter Kunstgebäude vom 26. Oktober bis zum 19. November 1919 (Abb. 5). Auch das Begleitheft zur Ausstellung greift auf dem Titelblatt von Oskar Schlemmer die in der Auseinandersetzung mit Otto Meyer-Amden entwickelten, stilbildenden schematischen Profilköpfe auf. Zur Aufführung von Ernst Tollers Schauspiel Die Wandlung im Deutschen Theater in Stuttgart am 20. Januar 1920, zu dem er die Ausstattung anfertigte, entstanden ein Plakat und ein Umschlag von der Hand Baumeisters für die Blätter des Deutschen Theaters Stuttgart.8 Auch der Umschlag des Ausstellungskatalogs der Galerie von Garvens in Hannover (1922) wurde von Baumeister gestaltet. Besonders umfangreich wird seine Designtätigkeit schließlich für die Bau-Ausstellung Stuttgart 1924. Dafür entwarf er die Ausstellungsbeschriftung, die Raumgestaltung und die Typografie der Drucksachen. Er gestaltete nicht nur eine Anzeige, sondern verschiedene Briefbögen, die Einladungskarte und das Logo für die Zeitschrift Das Baujahr. Eine Schrift zur Bau-Ausstellung 1924. Typisch für ihn sind zu dieser Zeit die Nutzung übergroßer Initialen und die konsequente Verwendung einer Grotesk-Schrift im Briefkopf und in der Titelei. Als Künstler ist er selbst mit einem Mauerbild mit Wandbeschriftung in der Ausstellung vertreten.9 Auch der Katalog der Werkbund-Ausstellung Die Form, Stuttgart, Juni bis August 1924, wird von ihm im Stil der sogenannten Neuen Typografie gestaltet. Sie beschränkt sich auf die Farben Schwarz, Weiß und Rot. Dazu benutzt er meistens die Schrift der Akidenz-Grotesk. In einem später verfassten, undatierten Text Zimmer- und Wandgeister spricht er diesen Dreiklang an: »Es stimmt auch, daß ich selbst immer für Schwarz-Weiß-Rot plädiert habe. Ich tue es noch. Schwarz-Weiß-Rot ist großartig elementar. Das zeigt sich besonders in der Typografie. Bei den Bildern bevorzuge ich differenziertere Farbabstufungen.«10 / 3 / Margarete Oehm Willi Baumeister im Atelier Werastraße 15, um 1923
76 Willi Baumeister Maschine, 1925
77 Amédée Ozenfant Nature mort en gris à la bouteille verte, 1920
78 Margarete Oehm Badende, 1923
79 Willi Baumeister Sportler in Ruhestellung, 1927
1936–1944 Modulationen der Oberfläche Das Wuppertaler Maltechnikum PLATEAU 6 HANS DIETER HUBER / HANNELORE PAFLIK-HUBER
131 In dieser schwierigen Zeit erhält Willi Baumeister durch Vermittlung seines langjährigen Freundes, des Stuttgarter Architekten Heinz Rasch (Abb. 1), einige Aufträge für die Lackfabrik Dr. Kurt Herberts in Wuppertal. Im März 1936 hatte Heinz Rasch Willi Baumeister um einige Zeichnungen und Grafiken für die Sammlung des Vaters von Kurt Herberts gebeten. Im Mai desselben Jahres entstand die Idee, an der Außenwand eines Neubaus der Firma, dem sogenannten Bürogarten, ein Mauerbild von Willi Baumeister anzubringen. Baumeister entwarf daraufhin 1937/38 ein Sgraffito für diese Mauer, das Chemiker, Farbenreiber und Lackarbeiter darstellen sollte. Das Fresko selbst wurde in vereinfachter Form 1938 von dem Wuppertaler Maler Ernst Oberhoff ausgeführt und im Krieg durch einen Bombenangriff zerstört.1 1939 entstand die folgenreiche Idee, für das Treppenhaus des neuen, von Heinz Rasch erbauten Laborgebäudes einen Wandtafelzyklus aus 18 Bildern anzufertigen, der 1939/40 in verschiedenen historischen Techniken ausgeführt wurde. Die Wandbilder sollten über vier Treppenläufe hinweg in die Wände eingelassen werden. Sie wurden in Stuttgart in der Malerabteilung der Kunstgewerbeschule am Killesberg unter Beteiligung des Werkstattleiters a. D. Adolf Reile2 und des Fachlehrers Kunert3 ausgeführt (Abb. 2).4 Baumeister berichtete darüber 1946 in einem Brief an seinen Kollegen Adolf Schneck: »Es wurde ein Wandbild-Ziklus [sic] von 18 Bildern mit 18 verschiedenen Techniken bearbeitet, wofür mir die KunstgewerbeSchule den Mitgebrauch ihrer Malerabteilung gewährte. Es wurde besonderen Wert auf die schwierigen, weniger gebräuchlichen, teils noch umstrittenen Techniken gelegt, samt dem Untergrundaufbau und dessen spezialisierten Stoffen. [...] Schulrat a. D. Reile wurde zur teilweisen Mitarbeit herangezogen, ebenso Fachlehrer Kunert. Die Werkstoffe wurden von mir beigebracht, der Schulbetrieb nicht gestört. [...] Die Resultate wurden in einer Buchveröffentlichung unter Mitarbeit des Maltechnikums Herberts in Wuppertal niedergelegt.«5 Dieser Wandbilderzyklus gliederte sich in drei Teile, nämlich I. Die Naturkräfte, II. Der Mensch als Gestalter und III. Aus der Welt des Sehens und der Farben.6 Drei farbige Entwurfsskizzen des Zyklus wurden 1941 in dem Buch Untersuchungen über die Anwendbarkeit in historischen Malverfahren reproduziert (Abb. 3, 4, 5). Mit Rücksicht auf die zunehmenden Bombardierungen Wuppertals durch die britische Luftwaffe wurde der Zyklus jedoch nicht mehr im Treppenhaus angebracht. Diese Entscheidung hat die Wandbilder letztlich gerettet, da das neue Laborgebäude 1943 durch einen Bombenangriff völlig zerstört wurde. Dabei ging auch die umfangreiche Lacksammlung von Dr. Kurt Herberts verloren mit den von Baumeister, Schlemmer und Krause gestalteten Lackkästchen, die heute nur noch durch Farbabbildungen erschließbar sind. Zwölf der 18 Wandtafeln haben sich erhalten. Sie befinden sich im Besitz der Universität Wuppertal und sind im Foyer des Hörsaalzentrums des Campus Freudenberg angebracht. / ← / Willi Baumeister, Wuppertal, um 1940 / 1 / Heinz Rasch, Wuppertal, um 1933
132 / 2 / Willi Baumeister Felicitas und Krista Baumeister im Malersaal der Kunstgewerbeschule Stuttgart vor den Tafeln des Wandbilderzyklus für Dr. Kurt Herberts, 1940
133 Die Rekonstruktion historischer Maltechniken Vom 1. Januar 1940 bis 1944 erhielt Baumeister offenbar eine Festanstellung bei der Lackfabrik Dr. Kurt Herberts7 und arbeitete zusammen mit Oskar Schlemmer, Franz Krause und gelegentlich auch mit Georg Muche an historischen Wandtechniken und experimentellen Farbaufträgen. Hier kam ihm seine Lehre als Dekorationsmaler bei seinem Onkel Gustav Kämmerer sehr zugute. Herberts erinnert sich 1979: »Hier muss man wissen, dass Baumeister, der bei Beginn seiner beruflichen Laufbahn durch handwerkliche Lehre und Schulung gegangen war, eine fast unvorstellbare Universalität in der Beherrschung aller denkbaren Maltechniken besaß. Jeden BildVorwurf konnte er sofort umsetzen in konkrete Vorstellungen, wie man Vorwurf, Stilform und Maltechnik gestalten könne. [...] Insgesamt besaß Baumeister nicht nur eine umfassende äußere Kenntnis der Maltechnik, er hatte eben auch, wie angedeutet, ein sicheres intuitives Gefühl, wo die Grenzen eines Materials und seiner Verwendungsmöglichkeiten liegen.«8 Auch der Stuttgarter Kunsthistoriker Hans Hildebrandt, der Ehemann von Lily Hildebrandt, wurde in einige dieser kollektiven Projekte, vor allem für die kunsthistorischen Teile, eingebunden. Seine Art und Weise, Texte zu schreiben und zu korrigieren, war jedoch weder bei Heinz Rasch noch bei Willi Baumeister besonders beliebt. In der Zeit von 1938 bis 1942 wurden sieben verschiedene Bücher unter dem Namen von Dr. Kurt Herberts publiziert, bei denen Willi Baumeister entweder grafische Gestaltungsaufgaben, bestimmte Abbildungen, Teile der Texte oder die praktische Ausführung der verschiedenen maltechnischen Experimente übernommen hatte. Es handelt sich um folgende Bücher: 10 000 Jahre Malerei und ihre Werkstoffe (1938), Geschichtliches vom Malwerkstoff (1939), Dokumente zur Malstoffgeschichte (1940), Untersuchungen über die Anwendbarkeit historischer Malverfahren (1941), Anfänge der Malerei. Die Fragen ihrer Maltechniken und das Rätsel der Erhaltung (1941) und Aus der Maltechnik geboren. Eine Studie (1942). Drei weitere, umfangreiche Typoskripte, die 1942 offenbar bereits druckfertig waren, konnten wegen der letzten Kriegsjahre erst nach 1945 erscheinen. Unter der Mitarbeit bzw. Autorschaft von Willi Baumeister entstanden die Manuskripte Die Wandbildtechniken und ihre baulichen und sonstigen Voraussetzungen, Die Maltechniken. Mittler zwischen Idee und Gestaltung und Modulation und Patina, von Baumeister salopp mod & pat genannt. Sie blieben jedoch aufgrund des Krieges unvollendet und wurden 1947 von dem Züricher Verlag, der die beiden Bücher herausbringen sollte, an Kurt Herberts zurückgegeben. Letztendlich erschienen sie erst 1953, 1957 und 1989.9 Wände und Wandbild Das erste dieser beiden Typoskripte mit dem Arbeitstitel Die Wandbildtechniken und ihre baulichen und sonstigen Voraussetzungen ist 1940/41 unter der Mitarbeit von Willi Baumeister, Heinz Rasch, Prof. Dr. Hans Hildebrandt und Prof. Hugo Keuerleber entstanden.10 Erste Ideen von Heinz Rasch, der sehr bald die Publikation der in Zusammenhang mit der Herstellung des Wandbilderzyklus entstandenen Textfragmente und Briefe anregte, stammen bereits vom August 1940. Sie stehen unter dem unmittelbaren Eindruck der vollendeten Wandmalereien von Willi Baumeister.11 Unter dem Titel Wände und Wandbild. Die Wandbildtechniken, ihre baulichen Voraussetzungen und geschichtlichen Zusammenhänge erschien es schließlich zehn Jahre später 1953 in Stuttgart. Immerhin wird Baumeister im Vorwort kurz namentlich erwähnt. Aber weder taucht sein Name im Personenregister noch bei den Bildnachweisen auf. Die Arbeiten lassen sich aber aufgrund einer stilistischen Einordnung eindeutig als Werke von seiner Hand bestimmen. Bei vielen Fotografien der verschiedenen Arbeitsprozesse sind außerdem seine markanten und kräftigen Hände deutlich zu erkennen. Es erscheint aus heutiger Sicht immer noch unverständlich, warum Baumeister nicht wenigstens in den drei Büchern, die nach 1945 erschienen und in denen seine Mitarbeit einen signifikanten Anteil hatte, korrekt als Mit-Autor dieser Werke genannt wurde.12 Das Buch Wände und Wandbild ist auch heute noch ein echter Geheimtipp für Baumeister-Fans. Man kann dem Künstler praktisch über die Schulter blicken und ihm beim Anfertigen der unterschiedlichsten Werke in den verschiedensten Techniken zuschauen. In vielen Abbildungen erkennt man seine markanten Hände während der einzelnen Herstellungsphasen. Aber auch seinen typischen Strich, seine sehr persönliche Farb- und Formgebung und seine Schrift registriert man sofort. Dieses Buch hat bisher kaum eine ausreichende Würdigung erfahren. Es ist wirklich verblüffend, wie vielfältig und technisch versiert Baumeister war. Doch ebenso sind einige Arbeiten von Oskar Schlemmer in diesem Buch zu finden. Auch sie erkennt man sofort an ihrem besonderen Malstil. Die kunsthistorischen Teile stammen von dem Stuttgarter Kunsthistoriker Hans Hildebrandt. Es erstaunt, dass selbst acht Jahre nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur dieses Buch immer noch ohne jeglichen Hinweis auf eine Autorschaft oder Mitarbeit von Willi Baumeister erscheinen konnte. In seinem Schreiben an Adolf Schneck merkt er an, dass es diese Bände noch gäbe und sie in Zürich gedruckt liegen würden. Aber sie erschienen wie erwähnt erst 1953 in Stuttgart im Stähle & Friedel Verlag.
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