Leseprobe

202 1990 – heute Vielzahl von Nutzungsvergangenheiten aufweisen. Als erinnerungswürdig im Sinne einer Memorialisierung in Gedenkstätten gelten allerdings nur die Vergangenheitsschichten ab 1933. Darauf bezieht sich die »Vergangenheitszählung« im gedenkpolitischen Kontext, die im Begriff der »doppelten Vergangenheit« kumuliert. In eine gleiche argumentative Richtung weist der Topos von der »zweiten deutschen Diktatur«, mit dem – nach der ersten, der NS-Diktatur – die SED-Diktatur gemeint ist. Das ist durchaus problematisch, da hier eine qualitative Gleichwertigkeit von NS- und SED-Diktatur suggeriert wird, die es nicht gab. Die SED-Diktatur ist weder für einen Angriffs- und Vernichtungskrieg noch für einen Völkermord oder tausendfachen politischen Mord verantwortlich. Sinnvoller, um aus solchen Zahlenspielen herauszukommen, ist es, von Orten mit mehrfacher Vergangenheit zu sprechen. Davon existieren eine Vielzahl von Gedenkstätten und Gedenkorten.9 Herausgehobene, vom Bund mitgeförderte Gedenkstätten mit mehrfacher Vergangenheit sind die Gedenkstätte Buchenwald in Thüringen, in Brandenburg die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen (beide jeweils KZ und Speziallager) und die Gedenkstätte Zuchthaus Brandenburg-Görden (Erinnerungsort für die Nutzung während der NS- und der DDR-Zeit, Ausstellungsteil zum Strafvollzug heute) sowie in Sachsen der Erinnerungsort Torgau (Erinnerungsort für das Wehrmachtsgefängnis, das Speziallager sowie den DDR-Strafvollzug) und die Gedenkstätte Bautzen (Erinnerungsort für NS-Strafvollzug, Speziallager und MfS-Sonderhaftanstalt). Die eben genannten institutionalisierten Gedenkstätten zeigen gemäß dem in den 1990er-Jahren herausgebildeten Standard im Umgang mit ihrer Geschichte die historisch-politischen Zäsuren an und machen so die unterschiedlichen Nutzungsepochen transparent.10 Minimalkonsens dieses Standards war auch die nach Bernd Faulenbach benannte »Faulenbach’sche Formel«, welche einer Relativierung der NS- und Bagatellisierung der stalinistischen Verbrechen vorbeugen will.11 Neben Gedenkorten mit explizit erinnerter »zweifacher« oder »dreifacher« Vergangenheit im Rahmen der institutionellen Gedenkstättenförderung existieren allerdings weitere Gedenkorte, die ebenfalls mehrere Unrechtsschichten aufweisen, aber an denen nur der SBZ- und/oder DDR-Vergangenheit gedacht wird. In ehemaligen Zuchthaus Hoheneck, zur Zeit der DDR eine Haftanstalt für Frauen, wird gerade eine neue Dauerausstellung realisiert, die sich auf diese Zeitschicht konzentriert. Hoheneck wurde allerdings in der NS-Zeit unter anderem als Haftanstalt für Männer genutzt. Wenn man davon ausgeht, dass der Strafvollzug im Nationalsozialismus nicht abgekoppelt vom NS-Unrecht zu sehen ist, sondern ein Teil des nationalsozialistischen Normstaats war, ist es fragwürdig, warum dieser Aspekt nicht ausreichend berücksichtigt wird, wenn der Ort als solcher neu konzipiert wird.12 Insbesondere in Buchenwald, Sachsenhausen, Bautzen und Torgau entzündeten sich in den frühen 1990er-Jahren geschichtspolitische Konflikte um den schwierigen Umgang mit den interferierenden Zeitschichten – beispielhaft für Bautzen auch in diesem Sammelband analysiert von Carola S. Rudnick. Opferverbände, Wissenschaftler:innen (der Gedenkstätten) und Vertreter:innen aus der Politik rangen um Repräsentation, Analyse

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