Leseprobe

200 1990 – heute Sarah Bornhorst HISTORISCH-POLITISCHE BILDUNGSARBEIT IN GEDENKSTÄTTEN MIT »DOPPELTER VERGANGENHEIT« »Das ist ja wie im KZ hier.« Diesen Satz kennen viele, die in der historisch-politischen Bildungsarbeit an Gedenkorten zur SBZ-/DDR-Vergangenheit arbeiten.1 Wenn Besucher:innen mit ihrem Vorwissen aus den Gedenkstätten zum Nationalsozialismus in eine der Gedenkstätten zur SBZ- oder DDR-Zeit kommen und dort karge Zellen, baufällige Gebäude oder Lagerstrukturen vorfinden, beziehen sie ihre Erfahrungen darauf und verknüpfen beide Komplexe.2 Äußerungen wie die des ehemaligen Direktors der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, Hohenschönhausen sei das »Dachau des Kommunismus«, beförderten eine solche Sichtweise und popularisierten sie früh.3 Auch im weiteren Bildgedächtnis dient »KZ« als Chiffre, die monströses Unrecht beziffern soll und deren Wirkmächtigkeit immer wieder zur Darstellung von Missständen herangezogen und instrumentalisiert wird. Das gilt nicht ausschließlich für geschichtspolitische Diskurse bezogen auf NS- und DDR-Geschichte. Ein besonders geschmackloses Beispiel war die Medienkampagne der Tierrechtsorganisation PETA von 2003 unter dem makabren Motto »Der Holocaust auf Ihrem Teller«. PETA entwarf Analogien unter anderem zwischen einem Foto ausgemergelter KZ-Häftlinge in den Stockbetten einer Baracke nach der Befreiung des Lagers Buchenwald4 mit einem Foto von Legehennen in den Käfigen einer Legebatterie. Die Überschrift dieses Plakats lautete: »Wenn es um Tiere geht, wird jeder zum Nazi«. Die Kampagne wurde nach Klage von Holocaust-Überlebenden in Deutschland gerichtlich verboten, auch der Europäische Gerichtshof bestätigte diese Entscheidung 2012.5 Die Geschichte des SED-Regimes produziert ebenfalls ahistorische und effekthaschende Chiffren, die allerdings weniger ortsgebunden sind, als dass sie Praktiken aufrufen. »Stasimethoden« oder »Stasi 2.0« sind Bilder und Assoziationen, die in der Diskussion über den Einsatz moderner Überwachungstechniken scheinbare Parallelen zur Überwachung der Bevölkerung der DDR durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) herstellen, etwa vom Chaos Computer Club (CCC), um so das eigene Anliegen überzeugender zu vertreten.6 Auch während der Corona-Pandemie bemühten Gegner:innen der von der Politik erlassenen Corona-Maßnahmen Vergleiche mit der NS- oder der DDR-Zeit, um die scheinbare Unrechtmäßigkeit der Maßnahmen zu zeigen. Gleichzeitig ging es darum, sich als Maßnahmengegner:innen zu Opfern politischer Verfolgung zu stilisieren.7

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