Leseprobe

93 drei Viertel der Häftlinge, die nach Artikel 6 der DDR-Verfassung bzw. der Kontrollratsdirektive 38 abgeurteilt wurden.5 Beide Strafnormen wurden in der Frühzeit der DDR überaus flexibel eingesetzt und werden in der DDR-Forschung allgemein dem politischen Strafrecht zugerechnet. Die Heranziehung des Artikels 6 der DDR-Verfassung von 1949 im Strafrecht war dem Umstand geschuldet, dass in Ostdeutschland nach teilweiser Außerkraftsetzung des Reichstrafgesetzbuchs bis zur Strafrechtsreform von 1957 keine Staatsschutzparagrafen zur Verfügung standen. Inhaltlich formulierte der Artikel »Kriegs- und Boykotthetze«, was als Generalklausel für die Aburteilung einer großen Bandbreite von Meinungsäußerungsdelikten bis hin zu Sabotage und Spionage herangezogen werden konnte. Die ebenfalls von den DDR-Gerichten bemühte Kontrollratsdirektive 38 war Teil des 1946 erlassenen Besatzungsrechts. Zunächst für die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechern in Nachkriegsdeutschland gedacht, wurde sie in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der frühen DDR vermehrt zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Besatzungsmacht herangezogen, was konkret beispielsweise kritische Meinungsäußerungen oder Spionagedelikte einschließen konnte. Zusammen mit dem Artikel 6 der Verfassung bildete die Kontrollratsdirektive die Grundlage der Staatsschutzjustiz. Mit Aufhebung des Besatzungsstatuts in der DDR wurde die Anwendung der Kontrollratsdirektive 38 am 20. September 1955 außer Kraft gesetzt.6 Für die Präzisierung der Tatvorwürfe wurden im Wesentlichen drei zusätzliche Überlieferungen herangezogen. Zum einen die gegen die Verurteilten verhängten Urteile, die zum Teil in den Sammlungen der Generalstaatsanwaltschaft bzw. des Justizministeriums überliefert sind. Außerdem standen knappe Zusammenfassungen der Fälle zur Verfügung, die beispielsweise auf den im Stasi-Unterlagen-Archiv verwahrten Strafregisterauszügen, Beschuldigtenkarteien oder in Sammelakten über Begnadigungsverfahren notiert wurden. Vertiefend wurden in einigen Fällen Untersuchungs- bzw. Beobachtungsvorgänge der Staatssicherheit ausgewertet. Hinsichtlich der ebenfalls in Bautzen II inhaftierten ehemaligen MfS-Mitarbeiter standen Unterlagen aus der Personalverwaltung der Geheimpolizei zur Verfügung. Dabei handelte es sich überwiegend um Karteierfassungen, da Personalakten aus der Frühzeit nicht systematisch überliefert sind. Bis auf vier Personen konnten auf diese Weise weitergehende Angaben zum konkreten Tatvorwurf ermittelt werden. 1 Karl Wilhelm Fricke/Silke Klewin, Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle. 1956 bis 1989, Bericht und Dokumentation, Leipzig 2002. 2 Siehe dazu auch den Beitrag von Tobias Wunschik in diesem Band. 3 Soweit es die Bestimmungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes bzw. des Bundesarchivgesetzes zulassen, wurden die Namen offengelegt. 4 Über die konkrete Zahl der Haftplätze in den 1950er-Jahren liegen keine gesicherten Angaben vor. Bei der Erbauung verfügte das Gerichtsgefängnis über 145 Einzelzellen. In den 1960er-Jahren wurden 134 Räume zur Unterbringung von Gefangenen genutzt, die zu diesem Zeitpunkt mehrfach belegt wurden. 1956 ist wie in Brandenburg-Görden von Isolationshaft auszugehen, sodass eine Unterbringungskapazität von rund 135 Hafträumen angenommen werden kann. Fricke/Klewin, Sonderhaftanstalt, S. 236. Es zeigt sich, dass aufgrund von Verlegungen bzw. Entlassungen auch unter Einbeziehung der Neuzugänge bis Jahresende diese angenommene Kapazität nicht vollständig ausgelastet wurde. 5 Eingerechnet jene Fälle, in denen auch andere Straftatbestände herangezogen wurden. 6 Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur verdeckten Repression, Berlin 1995; Roger Engelmann/Clemens Vollnhals (Hrsg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999.

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