GROSSES KINO FILMPLAKATE ALLER ZEITEN THE BIG SCREEN FILM POSTERS OF ALL TIME Für die KUNSTBIBLIOTHEK, for the STAATLICHE MUSEEN ZU BERLIN herausgegeben von CHRISTINA THOMSON & edited by CHRISTINA DEMBNY
Vorworte 6 GROSSES KINO. 10 FILMPLAKATE ALLER ZEITEN Eine Einführung Christina Thomson DAS DOUBLE DER LEINWAND. 18 FILMPLAKATE, IHRE EXPRESSIVITÄT UND DIE »GRÖSSE« DES FILMS Christian Pischel FLÜCHTIG GRANDIOS. 30 DAS PLAKAT IM FILMPLAKAT ALS SELBSTREFLEXIVES MOMENT Christina Thomson PARATEXTE – RÄTSELBILDER – EYECATCHER. 44 DIE AUSDRUCKSKRAFT DER FARBE IM FILMPLAKAT Susanne Marschall BLOSS BEIN UND MUND. 58 FRAGMENTIERTE FRAUENKÖRPER IM FILMPLAKAT Christina Dembny FILMPLAKATE IN DER KUNSTBIBLIOTHEK 76 Christina Thomson ZWISCHEN PAPIER UND PIXEL. 82 DAS FILMPLAKAT HEUTE Ein Interview mit Christiane Feneberg, Caspar Newbolt und Lysann Windisch Preface The Big Screen. Film Posters of All Time An Introduction THE FILM SCREEN’S DOUBLE. FILM POSTERS, THEIR EXPRESSIVE POWERS, AND FILM’S “GRANDEUR” FLEETING FAME. THE POSTER-IN-FILM POSTER AS SELF-REFLEXIVE MOMENT PARATEXTS – PUZZLES – EYECATCHERS. THE EXPRESSIVE POWER OF COLOUR IN FILM POSTERS JUST LEGS AND MOUTHS. FRAGMENTED BODIES OF WOMEN IN FILM POSTERS FILM POSTERS IN THE KUNSTBIBLIOTHEK BETWEEN PAPER AND PIXEL. THE FILM POSTER TODAY An Interview with Christiane Feneberg, Caspar Newbolt and Lysann Windisch INHALT CONTENTS
VOTES Posters Selected by 26 Guests EXHIBITS STORIES GLOSSARY Copyright Acknowledgements Imprint STIMMEN 93 Eine Plakatauswahl von 26 Gästen 100 Ulrike Ottinger 102 Pierre Sanoussi-Bliss 104 Anna Berkenbusch 106 Adrian Curry 108 Vasilis Marmatakis 110 Mariëtte Rissenbeek 112 Verena von Stackelberg 114 Simon Spiegel 116 Helke Misselwitz 118 Elfi Mikesch 120 Aslı Özge 122 Douglas Gordon 124 Maryna Er Gorbach 126 Jasmin Tabatabai 128 Liv Lisa Fries 130 Graf Haufen 132 Maria Fuchs 134 Ella Lee 136 Kida Khodr Ramadan 138 Natalie MacMahon 140 Carlo Chatrian 142 Thea Ehre 144 Albrecht Schuch 146 Christian Bräuer 148 Lemohang Mosese 150 Maximilian Mundt EXPONATE 155 STORYS 179 Christina Dembny Kristina Jaspers Peter Mänz Rainer Rother Christina Thomson GLOSSAR 217 Christina Thomson 227 Bildnachweis 238 Dank 239 Impressum 240
GROSSES KINO. FILMPLAKATE ALLER ZEITEN Eine Einführung Christina Thomson THE BIG SCREEN. FILM POSTERS OF ALL TIME An Introduction
12 Es sind die Plakate auf der Straße, die Charlie Chaplin in der allerersten Szene des 1914 gedrehten Stummfilms A FILM JOHNNIE ins Kino locken und eine lange Kette von Slapstick-Ereignissen auslösen: Nach einem virtuellen Flirt mit dem plakatierten Antlitz der Schauspielerin, deren Lächeln ihn hatte stoppen lassen, investiert er seinen letzten Nickel in den Filmbesuch. Das Erlebnis übertrifft alle Erwartungen und jeder Kurzfilm im Programm ruft eine andere tiefe Emotion in Chaplin hervor, von Schreck und Trauer bis Entzücken und Eifersucht. Ein halbes Jahrhundert später ist Film alltäglicher geworden und die Aufregung abgestumpft: Die Pariser Hausfrau Juliette (Marina Vlady), die Protagonistin in Jean-Luc Godards Film ZWEI ODER DREI DINGE, DIE ICH VON IHR WEISS, bewegt sich in einer emotional unterkühlten Gesellschaft. In einer langen Szene spült sie in ihrer Hochhauswohnung Geschirr, den Betrachtenden den Rücken zugewandt. An der Küchentür hängt das Filmplakat zu DER GENERAL, 1926 mit Buster Keaton gedreht und 1961 zur westdeutschen Wiederaufführung mit einem farbstarken Entwurf von Hans Hillmann (S. 52) beworben. Die Filmszene drückt Distanz zu den großen Gefühlen im Stummfilm aus – denn nicht nur wendet Juliette sich von dem Plakat ab, sondern es hängt zusätzlich auf dem Kopf. Im privaten Raum wird das Filmplakat zum Ausdruck einer seelischen Verfassung. ← FILMSTILL A FILM JOHNNIE (USA 1914, Regie | dir. George Nichols), mit | with Charlie Chaplin FILMSTILL DEUX OU TROIS CHOSES QUE JE SAIS D’ELLE (FR 1966, Regie | dir. Jean-Luc Godard), mit | with Hans Hillmanns Plakat THE GENERAL (USA 1926), wiederaufgeführt als | re-released as DER GENERAL (BRD 1961) In the very first scene of the silent film A FILM JOHNNIE (1914), posters in the street are what lure Charlie Chaplin into the cinema and set into motion a long series of slapstick events. After “flirting” with the actor in the poster—whose smile has stopped him in his tracks—he uses his last nickel to see the film. The experience exceeds all his expectations, and every short film in the showing calls forth another deep emotion, from shock and sorrow to delight and jealousy. Fifty years later, films have grown familiar and their effect muted. The Parisian housewife Juliette (Marina Vlady), the lead in Jean-Luc Godard’s TWO OR THREE THINGS I KNOW ABOUT HER (1966), moves in an emotionally frigid society. A long scene set in her high-rise apartment shows her from behind as she washes up. A poster for THE GENERAL, a 1926 film starring Buster Keaton, hangs on the kitchen door. It is a vibrant design by Hans Hillmann, who created it for the film’s re- release in West Germany in 1961 (p. 12). Godard’s scene in the kitchen shows a sense of distance from the strong emotions of the silent film. Not only is Juliette turned away from the poster, but it is hung upside down too. In the home, the film poster becomes a means of expressing a state of mind. Chaplin, Keaton, Hillmann, Godard—these examples instance the film poster’s broad range of associations and demonstrate its agency, both before and after the film, in public space and in the home. It is an advertisement and a means of conveying emotion, a tool for communication and a collector’s item, a promise and a memory. It encapsulates the film’s plot and is itself a work of art. Every film poster juggles three balls: paid commission, narrative role, and design ambitions. The use of emotion and drama is part of the artistic act performed for its many viewers, as a critic recognized in 1929: “What is the film poster to us? An amusing flash in a crowded street, a faint chuckle, a brief distraction, perhaps even a cause for reflection. In any event, it is a chance for the fine artist to speak to an audience larger than even journalists might enjoy. [...] Van Gogh is said to have wished to see gaudily coloured prints of his paintings hanging in sailors’ pubs. Were he still alive, he would be making film posters.”1
13 Zwischen Chaplin, Keaton, Hillmann und Godard tut sich das breite Aktionsfeld des Filmplakats auf: Das Plakat agiert vor dem Film und nach dem Film, im öffentlichen Raum wie im häuslichen Umfeld. Es ist zugleich Werbung und Emotionsträger, Kommunikationsmedium und Sammelobjekt, Versprechen und Erinnerung. Es komprimiert die Erzählung des Films und stellt eine ästhetische Einheit in sich selbst dar. Jedes Filmplakat jongliert mit drei Bällen: kommerziellem Auftrag, narrativer Funktion und gestalterischem Anspruch. Der Einsatz von Gefühlskitzel oder Dramatik gehört dabei zum artistischen Akt, der – wie ein Kritiker bereits 1929 erkannte – stets vor vielen Zuschauer:innen stattfindet: »Was könnte uns das Filmplakat sein? Ein lustiges Aufblitzen in der Straßentrübsal, ein kleines Gelächter, ein kurzes Aufmerken, vielleicht sogar ein wenig Nachdenklichkeit. Jedenfalls eine Chance für den bildenden Künstler, sich an ein so großes Publikum zu wenden, wie es nicht einmal Journalisten haben. [...] Von Van Gogh heißt es, er habe sich gewünscht, seine Bilder als grellfarbige Drucke in Matrosenkneipen hängen zu sehen. Lebte er, er würde Filmplakate machen.«1 Die Ausstellung Großes Kino. Filmplakate aller Zeiten, die im Winter 2023/24 von der Kunstbibliothek am Berliner Kulturforum präsentiert wird, zeigt rund dreihundert Exponate aus zwölf Jahrzehnten. Der Rundgang ist eine Reise durch die Geschichte des Mediums – von den ersten Werbeaushängen nach der Erfindung des Kinematografen im Jahr 1895 und expressionistischen Entwürfen in der Zeit des Stummfilmkinos über die moderne Grafik für Neue Filmkunst und Atlas Film in den 1960er-Jahren bis zu zeitgenössischem Design zwischen Papier und Pixel. Das älteste Plakat stammt aus dem Jahr 1905, die aktuellsten sind von 2023. Die Ausstellung macht sichtbar, dass die drei »Jonglierbälle« Kommerz, Narrativ, Kunst die Gestaltung des Filmplakats seit jeher begleiten. In jeder Dekade führt die Schere zwischen kommerziellen und künstlerischen Ansprüchen zu hitzigen Diskussionen um Qualität und Schund, in jeder Epoche verändern technische Entwicklungen und neue Sehgewohnheiten die visuellen Erzählformen des Plakats. Faszinierend ist die Vielfalt an kreativen Lösungen, mit der Künstler:innen und Grafikdesigner:innen seit 120 Jahren der komplexen Aufgabe des Filmplakats begegnen – allen gestalterischen Zwängen und Formeln zum Trotz. Gute Gestaltung diesseits und jenseits des Kanons zu sammeln ist seit jeher Auftrag der Kunstbibliothek. So bietet die Sammlung Grafikdesign einen großen Fundus an Filmplakaten (vgl. S. 76–81), aus dem heraus die Ausstellung Großes Kino kuratiert wurde. Ergänzt wird die Sammlungsschau durch ein Werk aus dem Ibero-Amerikanischen Institut, sechs Plakate aus der Sammlung Galerie filmposter.net, Berlin, sowie einigen von der Yorck Kinogruppe bereitgestellten Leinwänden des Plakatmalers Götz Valien. Für diese Leihgaben bedanken wir uns herzlich. Der Auslöser zur Ausstellungsidee war die große Begeisterung für eines der größten Objekte überhaupt in den Sammlungen der Kunstbibliothek: das METROPOLIS-Plakat von Boris Bilinsky, ein Erstaufführungsplakat für den französischen Vertriebsmarkt In Winter 2023/24, the Kunstbibliothek presents the exhibition The Big Screen: Film Posters of All Time at the Kulturforum in Berlin, showcasing roughly three hundred objects from twelve decades. A visit to the exhibition is a journey through the history of the medium, spanning the first advertisements made after the cinematograph’s invention in 1895, the Expressionist designs of the silent film era, the modern New German Cinema graphics made for Neue Filmkunst and Atlas Film in the 1960s, and contemporary designs poised between paper and pixel. The oldest poster dates from 1905 and the newest from 2023. The exhibition shows that the three juggling balls of commerce, narrative, and art have been with the film poster since its genesis. In each decade, the divide between commercial and artistic demands sparks debates over quality versus trash. In every epoch, technological advances and new ways of seeing change the poster’s visual narrative approach. The diversity of creative solutions found by artists and graphic designers when tackling the film poster’s complex demands across the 120 years is fascinating— despite all the design constraints and formulas. Collecting good design within and outside the purview of the canon has always been the Kunstbibliothek’s mission. Accordingly, the Graphic Design department’s expansive holdings of film posters (c.f. p. 76–81 are the source for the vast majority of works on display at The Big Screen. Works from the permanent collection are supplemented by one poster from the Ibero-American Institute; six posters from Galerie filmposter.net, Berlin; and a number of canvases made by poster painter Götz Valien, kindly supplied by the Yorck Kinogruppe. We offer our deep thanks for these loans. This exhibition was sparked by great enthusiasm surrounding one of the largest objects in the Kunstbibliothek collection: the first-release poster for the major German film METROPOLIS, designed for French distributors in 1927 by Boris Bilinsky (pp. 8–9, 184–189). Measuring over two by three metres, the size of the lithograph print—the sole extant copy of this version—demonstrates the megalomania behind Lang’s production. Yet Bilinsky’s nested architectural mountain also succeeds in translating the atmosphere of the utopian city into a visually stunning, minimalistic design. In a manner of speaking, METROPOLIS was our springboard into the pool of movie posters.
14 des deutschen Großfilms von 1927 (S. 8–9, 184–189). Mit mehr als zwei mal drei Metern entsprechen die Maße der Lithografie – das einzige erhaltene Exemplar dieser Version – der Megalomanie von Fritz Langs Filmproduktion. Zugleich übersetzt Bilinskys verschachtelter Architekturberg die Atmosphäre der utopischen Stadt in eine bildgewaltig minimalistische Grafik. METROPOLIS war sozusagen unser Sprungbrett in den Pool der Filmplakate. Es entstand der kuratorische Ehrgeiz, den von früheren Sammlungsleiter:innen zusammengetragenen Schatz in das 21. Jahrhundert zu erweitern. Auf den Prüfstand kamen zwei weit verbreitete Meinungen: dass erstens das Filmplakat an sich im digitalen Zeitalter ein Relikt sei und dass es zweitens ohnehin nur noch mediokre Gestaltung in dem Bereich gäbe. Beide Annahmen ließen sich im Verlauf der Recherchen und Akquisen widerlegen. Sicherlich liegt es auf der Hand, dass die Digitalisierung und Diversifizierung des Konsums von Filmen auch die stete mediale Erweiterung entsprechender Werbung mit sich bringt, von riesigen LED-Wänden und bewegten Displays im Stadtraum bis zu Social-MediaClips und responsiven Kacheln auf Streaming-Plattformen in privaten Endgeräten. Doch obwohl es heutzutage seltener zu Papier kommt, bleibt das Plakat eine zentrale Bezugsgröße im Design einer Kampagne, das Standardformat für die Ausarbeitung eines Key Visuals und das klassische Werbemedium für Festival und Kino. Auch die Frage zur gestalterischen Qualität von Filmplakaten scheint auf den ersten Blick berechtigt: Die Filmindustrie gehört einer Massenkultur an, die – im Film wie in der Werbung – vermeintliche Breitengeschmäcker bedient und oft wenig Raum für individuelle Lösungen bietet. Dennoch ist Film nicht nur eine Ware, sondern zugleich eine Kunstform, in der emotionale, soziale, politische und ästhetische Diskurse in einem so reichen Spektrum verhandelt werden wie in keiner anderen visuellen Praxis. Diese Breite, mit allen erdenklichen Nischen, spiegelt sich im Filmplakat wider, insbesondere bei einer Betrachtung aus internationaler Perspektive. Generell lässt sich im Mainstream ebenso wie in kleineren oder eher avantgardistischen Produktionsbereichen spannendes Kommunikationsdesign finden, wenn sich die Definition »guter Grafik« nicht auf »Handgemachtes« beschränkt, sondern alle Formen analogen und digitalen Entwerfens zulässt und die Fotografie als Kunstform einbezieht. Der vorliegende Katalog ist das Ergebnis einer wunderbaren Gemeinschaftsarbeit auf vielen Ebenen. An erster Stelle sind hier unsere Kooperationspartner zu nennen: die Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) und die Deutsche Kinemathek – beides Kulturforums-Nachbarn am Potsdamer Platz. Mit der Ausstellung Großes Kino, die 2024 parallel zu den 74. Filmfestspielen stattfindet, wird eine alte Verbindung wiederaufgenommen: Schon 1959 (anlässlich der IX. Internationalen Filmfestspiele) und 1975 (zu den 25. Festspielen) präsentierte die Kunstbibliothek Filmplakate. Die BerlinaleGeschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek war eine unersetzliche Partnerin bei der Ausarbeitung eines »Gastkonzepts«, nach dem Expert:innen aus der Film- und Kinobranche eingeladen wurden, je ein Exponat auszuwählen. Kristina Jaspers und Peter Mänz von Rapidly, a curatorial zeal set in to expand our predecessors’ treasures for the twenty-first century. Two widely held beliefs were scrutinized: first, that film posters have become relics in the digital era and second, that their designs have become mediocre. Both assumptions were disproven during the process of research and acquisition. Naturally, digitalizing and diversifying film consumption is accompanied by an expansion in advertising media, which now include LED walls and animated displays in public spaces, social media clips, and responsive tiles on digital streaming platforms. Although posters are less frequently encountered in paper form, they remain a key part of ad campaign design, the standard format for disseminating a key visual, and the classic advertising medium for festivals and cinemas. The scepticism around the design standards of film posters also appears valid at first glance. The film industry serves a broad public and—in films as in advertising—caters to the lowest common denominator and often leaves little room for individual solutions. Nevertheless, film is not only a product but also an art, one which more broadly engages with the emotional, social, political, and aesthetic discourses than any other visual form. This spectrum, with all its many niches, is evident in film posters, particularly when viewed internationally. In general, noteworthy examples of communication design can be found both in mainstream, arthouse or avant-garde productions, especially when the definition of “good design” is not limited to “handmade” works, but includes all forms of digital and analogue design as well as photography. This catalogue is the result of a wonderful team effort on many levels. First and foremost, this includes our partners: the Berlin International Film Festival (Berlinale) and the Deutsche Kinemathek— both Kulturforum neighbours located at Potsdamer Platz. In 2024, The Big Screen exhibition will be on display in tandem with the 74th Berlinale. This revitalizes a connection, for the Kunstbibliothek has previously exhibited film posters in 1959 (on the occasion of the 9th film festival) and in 1975 (for the 25th film festival). Berlinale CEO Mariëtte Rissenbeek was an indispensable partner in the process when developing the concept of inviting film and cinema experts to each choose one poster. Kristina Jaspers and Peter Mänz from Kinemathek provided valuable guidance and expertise for all our film history research inquiries. We are very grateful to them for the texts they have authored for this catalogue and their curatorial contributions to the topic of re-release posters.
15 der Kinemathek standen uns bei inhaltlichen Fragen rund um die Geschichte des Films zur Seite. Ihnen danken wir zudem für Texte im Katalog und kuratorische Beiträge zum Thema »Wiederaufführungsplakat«. Christina Dembny hat das Projekt als Ko-Kuratorin wie als Mitherausgeberin des Katalogs entschieden bereichert. In ihrem Text über fragmentierte Frauenkörper wirft sie eine wertvolle genderkritische Perspektive auf das Filmplakat, die wir in einem der Ausstellung angeschlossenen Symposium vertiefen und auf andere kritische Aspekte ausweiten werden. Der Filmhistoriker Christian Pischel spürt in seinem Essay der imaginären »Größe« und Affektstrategie des Films im Plakat nach, die Medienwissenschaftlerin Susanne Marschall hat einen Beitrag über Farbpsychologie im Filmplakat aus aktueller und kunsthistorischer Sicht beigesteuert. Auch der Text zum Plakat im Filmplakat identifiziert einen bislang nicht untersuchten Aspekt des Werbemediums. Großfilm, Selbstreferenz, Farbe, Körper – all diese Seiten spielen eine Rolle beim essenziellen Beitrag des Plakats zur Kreation des »großen Kinos«, eines Mediums, das den »Mythos des Films« auf die Straße bringt. Die zeitgenössische Dimension der Gestaltung von Filmplakaten wird in einem Interview mit drei Fachleuten vertieft diskutiert: Herzlicher Dank geht an die Grafikdesigner:innen Christiane Feneberg und Caspar Newbolt sowie die Filmvermarktungsexpertin Lysann Windisch für ein überaus spannendes Gespräch, das in Auszügen im Katalog abgedruckt ist. Auch das Herzstück des Buches repräsentiert eine großartige Kollektivarbeit: Wir konnten 26 Gäste aus den Bereichen Schauspiel, Regie, Kinobetrieb, Filmwissenschaft, Kunst und Grafikdesign dafür gewinnen, je ein Filmplakat aus der Sammlung der Kunstbibliothek auszuwählen. Wer dabei war und was warum ausgesucht wurde, erfahren Sie im Kapitel »Stimmen« (S. 93–151). Allen Mitwirkenden gilt ein riesiges Dankeschön – denn ohne sie hätte das kooperative Konzept von Ausstellung und Katalog nicht umgesetzt werden können. Vom Thinktank eines initialen Round Table bis zum Praktikantinnen-Team haben viele Menschen zum Gelingen dieses Buches beigetragen. Eine vollständige Auflistung der Beteiligten, unter denen unsere Lektorin Almut Otto und Übersetzerin Sylee Gore besonders hervorzuheben sind, ist auf S. 239–240 zu finden. Übrigens, falls Sie beim Lesen über unbekannte Fachbegriffe stolpern sollten: Ein bebildertes »Glossar« – auf Deutsch das erste seiner Art – erklärt alles zum Filmplakat (S. 217–235). Damit und mit den »Storys« zu einzelnen Plakaten (S. 179–213) runden wir den Anspruch des Katalogs ab, uns dem Thema »Filmplakat« nicht anhand einer rein filmgeschichtlichen Erzählung zu nähern, sondern gezielt und tief in das Medium selbst und seine (werbe-) grafische Dimension einzusteigen. 1 Walter Herzfeld, »Filmplakate«, in: Die Weltbühne 25, 1929, S. 786–788, hier S. 786. Christina Dembny made an important contribution to the project in her role as co-curator and catalogue co-editor. Her essay on fragmented women’s bodies offers a valuable gender-critical perspective of film posters, which will be further explored during a symposium tied to the exhibition. Film historian Christian Pischel traces the imagined “grandeur” and affective strategies of film posters, while media studies scholar Susanne Marschall considers colour psychology in film posters from a current art historical perspective. The essay on Posters in Film Posters also identifies a hitherto neglected aspect of the advertising medium. Big films, self- referentiality, colour, the body—all these aspects play a role in the essential contribution posters make to the “big screen”, a medium that brings film’s mythic dimension to the streets. Contemporary dimensions of film poster design are treated in an interview with three experts: our thanks go to graphic designers Christiane Feneberg and Caspar Newbolt as well as film marketing expert Lysann Windisch for an engaging discussion excerpted in this catalogue. This book itself is also a tremendous joint effort. We were delighted to bring on board twenty- six guests from the fields of acting, directing, cinema management, film studies, art, and graphic design to each choose a poster from the Graphic Design collection. You can discover who they are and why they were chosen in the “Votes” chapter (pp. 93–151). Our deep gratitude goes to all those involved, because the collaborative idea behind the exhibition and its catalogue could not have been realized without them. Many individuals contributed to the success of this book, from the expert group at the initial round table to our team of interns. A complete list can be found at the end of the present book (p. 239–240), among whom our Copy Editor, Almut Otto, and our translator, Sylee Gore, deserve special mention. Incidentally, in case you find yourself stumbling over specialist terms while reading, an illustrated glossary explains everything about film posters (pp. 217–235). The German version is the first of its kind. This and the “Stories” behind selected posters (pp. 179–213) allow us to round out our claim: to create a catalogue that treats the topic of film posters not on the basis of a narrative grounded solely in film history, but rather to delve specifically and deeply into the medium itself and its dimensions, both as advertising and artwork. 1 Walter Herzfeld, “Filmplakate,” Die Weltbühne 25 (1929): 786–88, here 786.
PARATEXTE – RÄTSELBILDER – EYECATCHER. DIE AUSDRUCKSKRAFT DER FARBE IM FILMPLAKAT PARATEXTS – PUZZLES – EYECATCHERS. THE EXPRESSIVE POWER OF COLOUR IN FILM POSTERS Susanne Marschall
46 Ein blondes Mädchen blickt provokant in die Kamera, den Vorbeilaufenden auf der Straße direkt in die Augen. Ihre rosarote Kapuzenjacke wirkt als stereotyp mädchenhaftes Kleidungsstück auf den ersten Blick harmlos, aber der grellrote, verwischte Filmtitel »SYSTEMSPRENGER«, die wässrige Farbe und der am rechten unteren Bildrand fast verdeckte, schreiende Kopf im Profil erzählen eine andere Geschichte. Ein Kind schreit aus voller Kehle, von Rot umflossen wie von einem großen Blutfleck. Nora Fingscheidts Film SYSTEMSPRENGER (DE 2019) ist ein zutiefst erschütterndes, letztlich auswegloses Drama. Das Plakat zum Film wurde von der Hamburger Grafikdesignerin Pauline Branke gestaltet, die seit 2014 regelmäßig für Film und Fernsehen arbeitet. Eng auf die Schlüsselszenen des Films bezogen, macht das Plakat dem Publikum klar, dass es im Kino wohl laut und unangenehm werden wird. Visuell, akustisch, gedanklich ist der herausragende Film kaum auszuhalten, davon gibt Brankes Plakat einen Vorgeschmack. Die Gestalterin verzichtet auf Abstraktion oder verspielte Schnörkelei, sie konzentriert sich ganz auf das Gesicht der weiblichen Hauptfigur Benni, die von der Kinderdarstellerin Helena Zengel gespielt wird. Ebenfalls verantwortlich für das Titeldesign im Vorspann des Films greift Branke die Leitfarbe Rosa aus dem Kostümdesign auf und lässt sie auf diejenigen, die das Plakat ansehen, fast flächendeckend los. Pauline Branke SYSTEMSPRENGER DE 2019 Offset FILM SYSTEMSPRENGER DE 2019 Regie | dir. Nora Fingscheidt ← DER GENERAL Detail, S. | p. 52 A blonde girl stares challengingly into the camera, straight into the eyes of those passing her on the street (ill.). At first, her pink hoodie looks like a stereotypically girlish and harmless item of clothing, but the messily written bright red film title, “SYSTEMSPRENGER”, the watercolour shading, and the half-concealed, screaming face shown in profile in the bottom right frame tell another story. A child cries out at the top of her lungs, surrounded by red as if in an immense pool of blood. Nora Fingscheidt’s film SYSTEMSPRENGER (SYSTEM CRASHER, DE, 2019) is a deeply harrowing and ultimately hopeless drama. Hamburg-based graphic designer Pauline Branke, who designed the poster, has worked in the film and TV industry since 2014. The composition highlights key scenes in the film and makes it clear to audiences that an ear-splittingly uncomfortable cinematic experience awaits them. Visually, acoustically, and in terms of subject matter, this unusual film is hard to bear, and Branke’s poster gives us a taste of what is to come. The designer has eschewed abstractions and whimsical flourishes, instead concentrating solely on the face of the female lead, Benni, played by child actor Helena Zengel. Branke was also responsible for the title design in the opening credits. She takes pink, a colour central to the costume design, and unleashes it across almost the entire surface of the poster. Colour Composition and Context This, among many other film poster examples, demonstrates the power of context when interpreting colour. The pink seen in SYSTEM CRASHER is neither cute nor delicate. The saturated bright pink dominating the monochrome film poster for Rosa von Praunheim’s Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (IT IS NOT THE HOMOSEXUAL WHO IS PERVERSE, BUT THE SOCIETY IN WHICH HE LIVES, FRG, 1971; ill.) sees the favourite colour of queer culture interrupted only by pale pink writing in the centre. The reduced design draws on the sober content of a typographical book cover where the colour acts as a visual attack. A Japanese cherry blossom pink dominates Katja Clos’ poster for Doris Dörrie’s Kirschblüten—Hanami (CHERRY BLOSSOMS, DE, 2008; p. 139). These flowers are celebrated in Japan each year as symbols of ephemeral beauty. As with Systemsprenger, this poster also features a central scene in the film. Here, the artificial, almost indestructible materiality of the blue plastic tarp and the white-painted face of the Butoh dancer, Yu (Aya Irizuki), are at the centre of the mise-en-scene. These three posters are all dominated by pink, but they are strikingly different in their symbolism and
48 Farbkomposition und Kontext An diesem und vielen weiteren Beispielen aus der Plakatkunst lässt sich die Macht der Kontexte bei der Interpretation von Farbtönen ablesen. Das Rosa aus SYSTEMSPRENGER ist weder lieblich noch sanft. In dem gesättigt gedruckten, monochrom rosaroten, ins Pinke spielenden Filmplakat zu Rosa von Praunheims NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT (BRD 1971) jedoch wird eine Lieblingsfarbe queerer Lebenskultur lediglich durch eine mittig gesetzte, weiß-rosafarbene Schrift durchbrochen. Das Plakat lehnt sich in seiner reduzierten Gestaltung an die sachliche Optik eines typografischen Buchcovers an, wobei die Farbe als Akteur einer visuellen Attacke auftritt. Drei Rosen werden von der Schrift verdeckt und lassen sich darum leicht übersehen. In dem von Katja Clos entworfenen Plakat zu Doris Dörries KIRSCHBLÜTEN – HANAMI (DE 2008; S. 139) dominiert der Rosaton der japanischen Kirschblüte, deren vergängliche Schönheit in Japan jährlich in großem Stil gefeiert wird. Wie bei SYSTEMSPRENGER zeigt auch dieses Plakat eine der zentralen Szenen des Films, in der das Szenenbild von der künstcontext. The poster for Kirschblüten—Hanami is marked by a stark contrast between the two bright colours, even though Dörrie’s melancholy film is mostly about mourning and death. The bright colours underscore the director’s attitude to these existential experiences. Mourning lifts the main character Rudi (Elmar Wepper) out of his lethargy. Step by step, he reengages with life, which he had grown weary of, in contrast to his wife, Trudi (Hannelore Elsner). The natural petal pink is juxtaposed with the artificial plastic blue. Moreover, the interplay between pink and blue more generally (for instance in the design of Trudi’s delicate and frivolous dressing gown) is the most important leitmotif, marking Rudi’s transformation. NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT BRD 1973 Siebdruck | Screenprint FILM NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT BRD 1971 Regie | dir. Rosa von Praunheim
49 lichen und nahezu unvergänglichen Materialität der blauen Plastikfolie und dem weiß geschminkten Gesicht der Butoh-Tänzerin Yu (Aya Irizuki) bestimmt wird. Symbolisch und kontextuell unterscheiden sich diese drei von Rosatönen geprägten Plakate markant. So ist das Plakat zu KIRSCHBLÜTEN – HANAMI von einem starken Kontrast zwischen zwei leuchtend bunten Farben charakterisiert, obwohl Dörries melancholischer Film vor allem von Trauer und Tod handelt. Die bunten Farben unterstreichen die Haltung der Regisseurin zu diesen existenziellen Grenzerfahrungen. Der Hauptcharakter Rudi (Elmar Wepper) wird durch die Verlusterfahrung aus seiner Lethargie gerissen und wendet sich Schritt für Schritt wieder dem Leben zu, dessen er im Gegensatz zu seiner verstorbenen Frau Trudi (Hannelore Elsner) überdrüssig geworden war. Nicht nur der Kontrast zwischen natürlichem Blütenrosa und artifiziellem Plastikblau ist in KIRSCHBLÜTEN – HANAMI symbolisch aufgeladen, sondern generell das Zusammenspiel von Rosa und Blau, zum Beispiel in dem Kostümdesign von Trudis zart-verspieltem Morgenrock, der zum wichtigsten Leitmotiv von Rudis Transformation aufgebaut wird. Farbe – Licht – Materialität Während der Projektion eines Films im Kinosaal verwandeln sich alle Farben des Filmbildes in leuchtende Lichtfarben. Sogar die haptisch greifbaren Lokal- und Oberflächenfarben des Sets verlieren im Lichtbild ihre Materialität. Die Filmwissenschaftlerin Christine N. Brinckmann nennt diese Fluidität der Lichtfarben den »Aquariumseffekt« der Kinoprojektion, bei dem auf der Leinwand ein imaginärer Luftraum aus farbiger Reflexion entstehe, der die immersiven Effekte des Films intensiviere.1 Kein Druckerzeugnis kann diese Wirkung des Films nachahmen, vor allem dann nicht, wenn stark gesättigte Farbflächen das Druckergebnis bestimmen, denn diese verschließen den Bildraum, erden den Farbeindruck und erzeugen somit eine wahrnehmungsästhetische Gegenwelt zur Filmprojektion. Manchmal jedoch imitieren Filmszenen diese besondere Wirkung gedruckter Farbflächen, beispielsweise in der Hochphase von Technicolor Nr. 4 zwischen 1932 und 1955, nicht zuletzt aufgrund des zu diesem Farbverfahren gehörenden DyeTransfer-Prozesses. Als qualitativ hochwertiges, aber kostspieliges Farbverfahren brachte Technicolor den Durchbruch für die Farbe im Kinofilm und erzeugte einen bestimmten Farblook, der von der Produktionsfirma sehr genau komponiert wurde. Vor allem im Genre des Musicals entstanden viele Filme, deren Farbästhetik an Malerei und Grafik erinnern soll. Diese Wirkung kam auch der Ästhetik des Zeichentrickfilms entgegen.2 Aber schließlich gilt auch für Technicolor-Filme, dass sich der opake Effekt der Farben durch die Projektion während der Kinovorführung entmaterialisiert. Die Farbe im Film wurde und wird im Kinosaal immer zu Licht. Das gedruckte Filmplakat steht dagegen auf der Seite des festen Materials, ist Papier und Farbstoff, Oberfläche und Pigment. Die ästhetische Differenz zum Film entsteht durch den Materialeindruck der im Farbdruck entstandenen Oberflächen der Colour—Light—Materiality When a film is projected in a movie theatre, all the colours of the film image transform into glowing coloured lights. Even the haptic textures of coloured surfaces and local colours found on set shed their materiality in the light image. Film studies scholar Christine N. Brinckmann has termed the fluidity of colours of light the “aquarium effect” of the cinema projector, in which an imaginary space of coloured reflections is created on the projection screen which intensifies the immersive effect of the film.1 No print product can imitate this effect, certainly not when it is determined by the deeply saturated colour areas, because such surfaces seal off the pictorial space, grounding the colour impression and thus creating a perceptual, aesthetic world that contrasts with the film projection. But sometimes film scenes imitate exactly this effect of printed colour surfaces, for instance in the heyday of Technicolor no. 4, between 1932 and 1955—not least because this colour technology used the dye-transfer process. Technicolor was a top-quality yet expensive process that brought colour film to cinemas, creating a specific chromatic appearance that was carefully calibrated by production companies. In particular, musicals were filmed with a chromatic aesthetic intended to evoke painting and graphic design, an aesthetic that also resembled that of animated films.2 But ultimately, the opaque effect of Technicolor films also dematerialized when projected during screenings. In the cinema, film colour will always be turned into light. In contrast, the printed film poster comprises paper, dye, a surface treatment, and pigments. The aesthetic difference between a poster and a film is the result of the impression made by the surface of the colour-printed poster. The poster stuck to the wall attracts an audience, ideally causing passers-by to stop and gaze full of anticipation at this still image, which is intended to open a door into an alluring world of temptation and emotions. And even if such a colourful film poster chiefly serves to support the fascinating world of the moving image— where audiences may lose themselves in the depths of a darkened cinema for at least an hour and a half—it nevertheless has developed its own value over the long period of its existence and gained autonomy from the aesthetic of the moving image. The poster’s aesthetic is determined by the inks on the paper’s surface. Yet the era of the printed film poster is perhaps a relic of the past, given the new technologies used to present films in public spaces, such as the oversized monitors that broadcast their messages onto the streets in bright lights. Since the dawn of film, the specific aesthetic of film posters has moved from the street to the museum as exemplars of applied art, and are acquired both by institutions and serious private individuals.
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FILMPLAKATE IN DER KUNSTBIBLIOTHEK Christina Thomson FILM POSTERS IN THE KUNSTBIBLIOTHEK
77 Als Artefakte vorbildlicher Gestaltung und druckgrafischer Innovationen gehören Plakate seit dem Beginn ihres über 150-jährigen Bestehens zum Sammelbereich der Kunstbibliothek. Die heutige Sammlung Grafikdesign hat sowohl das Plakat als Schwerpunkt beibehalten als auch die anfänglichen Hauptkriterien für seinen Zugang: Es handelt sich vorrangig um künstlerische, grafische und gestalterische Perspektiven, weniger um historische oder dokumentarische Aspekte. Da eine öffentliche Sammlung nie Vollständigkeit erreichen kann, folgen Erwerb und Bearbeitung gewissen Setzungen. In der Kunstbibliothek liegt das Augenmerk vor allem auf dem kulturellen Gebiet – zu dem auch der Film gehört. Rund 5 000 Filmplakate umfasst der Bestand, das älteste stammt aus dem Jahr 1905, die jüngsten sind 2023 entstanden. Eine Inventur zu Beginn der Ausstellungsplanung für Großes Kino ließ die Strategien und Schwerpunkte der Vergangenheit erkennen. Die Sammlung ist nicht filmhistorisch orientiert, strebt also keinen Überblick über Entwicklungen im Filmschaffen an. Stattdessen wurde auch bei den Filmplakaten nach gestalterischen Tendenzen und besonderem Design ausgewählt. Das Gros stammt aus Deutschland: Es sind Plakate für deutsche Filme wie auch Entwürfe deutscher Gestalter:innen für internationale Filme – von Lithografien für frühe UFA-Produktionen über Werbegrafik für den Progress-Verleih (DDR) und Walter Kirchners Neue Filmkunst (BRD) bis hin zu Individuallösungen für New Hollywood und den Neuen Deutschen Film. Andere Länder sind vor allem dann stärker vertreten, wenn sie für gutes Design bekannt waren, etwa Polen und die Tschechoslowakei. US-amerikanische, italienische, französische, belgische, englische, schweizerische, indische und weitere internationale Plakate bilden kleine Werkgruppen, während andere wichtige Entwicklungen der Filmplakatgestaltung mit einzelnen Arbeiten repräsentiert sind, zum Beispiel der russische Konstruktivismus, die kubanische Pop-Art oder der japanische Minimalismus. Originalentwürfe für Filmplakate stellen mit rund einem Dutzend Exemplaren einen sehr wertvollen Teilbestand dar. As artefacts of exemplary design and printing innovation, posters have been a part of the collection of the Kunstbibliothek since its inception over 150 years ago. They continue to be central to the Graphic Design Collection today. Then as now, the same criteria are applied when considering acquisitions, with artistic, graphic, and design aspects taking precedence over historical and documentary ones. Since no public collection can ever be comprehensive, acquisitions and reorganizations follow certain principles. The Kunstbibliothek is focused on the cultural realm—which includes film. Its holdings comprise roughly 5,000 film posters, the oldest dating from 1905 and the most recent from 2023. The inventory conducted at the beginning of the planning phase for The Big Screen revealed the approaches to acquisition taken in the past and the core areas of the holdings. The focus of the collection is not on film history, so there is no attempt to map developments in filmmaking. Rather, the film posters were selected based on creative trends and for their exceptional designs. The bulk are from Germany, including posters for German films as well as German designers’ work for international films: lithographs for early UFA productions, distribution posters for the East German distributor Progress and the West German distributor Neue Filmkunst Walter Kirchner, as well as unique designs for New Hollywood and New German Film. Other countries which are well represented are those known for good design, such as Poland and Czechoslovakia. There are smaller groups of posters from the United States, Italy, France, Belgium, England, Switzerland, India, and other countries outside Germany, individual works capture important developments in film poster design, for instance Russian Constructivism, Cuban Pop Art, and Japanese minimalism. Another important part of the collection are the roughly dozen original artworks for film posters.
78 Independent of era and country, renowned designers were an important criterion in shaping the collection. Whenever possible, multiple works by particularly esteemed designers were acquired, including film posters. Fine artists who created poster designs were also of special interest. Moreover, most of the early-twentieth-century film posters in the Kunstbibliothek were part of groups of items acquired from printing presses, galleries, and private owners. Shortly after 1945 and the division of Berlin, the city’s museums were also split, but film posters continued to be collected on both sides of the Wall. Following German reunification, examples of East German film advertising held at the Kupferstichkabinett in the eastern part of the city were merged with the holdings of the Kunstbibliothek in West Berlin. The latter mounted an exhibition on the occasion of the 9th Berlin International Film Festival (Berlinale) in 1959, followed by a second exhibition marking the festival’s twenty-fifth anniversary, in 1975. Both collaborations resulted in numerous acquisitions for the collection that were as international in nature as the films selected for the Berlinale over those two years. The inventory taken in 2021 brought to light the outstanding strengths of the Kunstbibliothek’s film poster collection while also revealing some gaps. For one thing, the focus on “good design” means that fewer film posters are held that show everyday film advertising (which initially were often painted, later frequently digitally generated), unless they were created by well-known poster artists or advertising designers. This focus necessarily limits the international reach of the collection, which is most noticeable vis-à-vis countries with established film centres: Italy, England, and Hungary, as well as Hollywood in the United States. Global film productions from China, India, Japan, Mexico, Argentina, Egypt, Iran, and many other countries are represented at most with single posters. Women are notably underrepresented—in poster design as well as in production and direction. While this may occasionally be due to past curatorial decisions, it reflects above all the enormous dominance of men in film and design, which, despite a few exceptions, characterized the entire twentieth century and still prevails today. Unabhängig von Epochen und Ländern wurde stark nach Namen gesammelt: Von besonders geschätzten Gestalter:innen gelangten, wenn es möglich war, zahlreiche Arbeiten in die Sammlung, unter denen sich auch Filmplakate befinden. Bildenden Künstler:innen, die Plakate entwarfen, galt ebenfalls besonderes Interesse. Darüber hinaus fanden Filmplakate des frühen 20. Jahrhunderts meist mit Konvoluterwerbungen von Druckereien, Galerien oder aus Privatbesitz Aufnahme in die Kunstbibliothek. Bald nach 1945 wurden im geteilten Berlin auch die Museen gespalten, Filmplakate auf beiden Seiten der Mauer jedoch weiter gesammelt. Der im Ostteil der Stadt am Kupferstichkabinett zusammengetragene Bestand an DDR-Filmwerbung wurde nach der Wende mit jenem an der Kunstbibliothek in West-Berlin vereint. Hier war 1959 anlässlich der IX. Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) eine Ausstellung veranstaltet worden, eine zweite folgte 1975 zur 25. Ausgabe des Festivals. Beide Kooperationen zogen zahlreiche Erwerbungen für die Sammlung nach sich: Deren Internationalität spiegelt die Auswahl der Filme für die Berlinale der jeweiligen Jahre. Jan Tschichold NAPOLEON DE 1927 Buchdruck | letterpress FILM NAPOLÉON FR 1927 Regie | dir. Abel Gance
Armand Massonet NAPOLÉON BE 1909/10 Lithogr. FILM NAPOLÉON FR 1909 Prod. Gaumont Film Michael de Maizière ADIEU BONAPARTE DDR 1988 Offset FILM ADIEU BONAPARTE FR 1985 Regie | dir. Youssef Chahine 79 Die Inventur im Jahr 2021 brachte die herausragenden Stärken der Filmplakatsammlung in der Kunstbibliothek ans Licht, zeigte aber auch vereinzelt Fehlstellen auf. Zum einen bedeutet die Konzentration auf »gute Grafik«, dass das Filmplakat der alltäglichen Masse an (oft gemalter, später häufig digital generierter) Kinowerbung, wenig vertreten ist – es sei denn, es handelt sich um bekannte Namen aus der Kinomalerei oder Werbegrafik. Dieser Schwerpunkt bringt weiterhin eine begrenzte Internationalität mit sich, was vor allem bei Ländern mit historisch wichtigen Filmzentren auffällt: Italien, England oder Ungarn sowie Hollywood und die USA. Die globale Filmproduktion, mit China, Indien, Japan, Mexiko, Argentinien, Ägypten, dem Iran und vielen weiteren Schauplätzen, scheint höchstens mit Einzelblättern auf. Festzustellen ist auch eine Unterrepräsentanz von Frauen – in der Plakatgestaltung ebenso wie in Produktion und Regie. Sie mag vereinzelt kuratorische Ursachen haben, spiegelt aber vor allem die enorme männliche Dominanz in der Film- und Designbranche, die trotz einzelner Ausbrüche das ganze 20. Jahrhundert durchzieht und bis heute wirkt. Zum anderen wurde bei der Inventur deutlich, dass der Bestand ab den 1980er-Jahren ausdünnte: Aus den letzten drei Dekaden waren kaum noch Filmplakate vertreten. Obwohl das Interesse an diesem Sammlungsbereich nie erlosch, mangelte es schlicht an zeitgenössischen Designs, die erwerbungswürdig erschienen. Die Gründe liegen in der Entwicklung der Filmwerbung: In den 1990er-Jahren traf eine verstärkt internationale Kommerzialisierung der Filmbranche auf den Einzug computergestützten Designs. Das Filmplakat wurde mehr denn je dem vermeintlichen Massengeschmack unterworfen, stiefmütterlich behandelt und gewann hinsichtlich seiner Gestaltung einen schlechten Ruf, der ihm bis heute anhaftet. Auf dem Gebiet des Spielfilms waren kaum noch individuelle künstlerische und grafische Entwürfe zu finden, das »Generische« nahm überhand.
94 Eine Plakatauswahl von 26 Gästen Was ein gutes Filmplakat ausmacht, liegt im Auge der Betrachtenden. Es hat mit Geschmack zu tun, aber auch mit persönlichen Erfahrungen und Filmerlebnissen. Wie sollte es also möglich sein, aus den rund 5 000 Filmplakaten der Sammlung Grafikdesign eine wirklich repräsentative Auswahl zu treffen? Den Kuratorinnen der Ausstellung Großes Kino widerstrebte der Gedanke, die Aufgabe allein aus der eigenen, museal geprägten Perspektive zu bestreiten. Sie entschieden sich stattdessen für ein kollektives Konzept: 26 Menschen aus der Film- und Kinobranche wurden eingeladen, bei der Auswahl der Exponate zu helfen. Die Gäste aus den Bereichen Schauspiel, Regie, Kinobetrieb, Filmwissenschaft, Kunst und Grafikdesign, ganz unterschiedlich in Alter und Herkunft, wurden gemeinsam mit Mariëtte Rissenbeek, Geschäftsführerin der Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale), nominiert. Jeder Gast durfte ein Plakat für die Ausstellung aussuchen. Warum genau dieses eine das jeweilige Lieblingsplakat ist, wird den Besucher:innen und Leser:innen persönlich erläutert – per Audioguide in der Ausstellung, schriftlich auf den hier folgenden Katalogseiten. Die ausgewählten Plakate werden in chronologischer Reihenfolge vorgestellt. Sie ergeben ein hundert Jahre umspannendes Kaleidoskop der Filmgeschichte, die sie begleitenden Stimmen ein polyphones Konzert diverser Beschreibungen, Gefühle und Erinnerungen. Manche trafen ihre Wahl nach den eigenen Designvorlieben oder Forschungsschwerpunkten, andere wurden durch persönliche Begegnungen angeregt. Allen gemeinsam ist, dass ihre Geschichten und Gedanken enorm inspirieren. Posters Selected by 26 Guests What constitutes a good film poster is in the eye of the beholder. Individual taste plays a role, as do one’s personal and cinematic experiences. How then could one possibly cull a truly representative selection from the 5,000-odd film posters in the Graphic Design Collection? The curators of the exhibition Big Screen were reluctant to tackle this task exclusively from their own museological perspective. Instead, they developed a collective curation concept, inviting twenty-six individuals from the film industry to help select the posters for display. Representing a wide range of ages and backgrounds, these guests from the worlds of acting, directing, cinema management, film theory, art, and graphic design were chosen in cooperation with Berlinale CEO Mariëtte Rissenbeek. They were each allowed to select their favourite poster for inclusion in the exhibition. And they explain the reasons for their selection in their own words: in writing on the following pages of this catalogue and via audio guide in the exhibition. The posters selected offer a kaleidoscopic view of a hundred years of film history, while the accompanying voices comprise a polyphonic concert of diverse descriptions, feelings, and memories. While some made their selection based on their individual design preferences or main areas of research, others were moved by personal encounters. What they all share is the fact that their stories and thoughts are immensely inspiring.
95 Anna Berkenbusch gestaltete zahlreiche Kinoplakate, u. a. für Filme von Wim Wenders, Werner Herzog und Francois Truffaut. Die emeritierte Professorin für Kommunikationsgestaltung ist Mitglied in der Jury des Bundespreises Ecodesign, im Kunstbeirat des Bundesfinanzministeriums für Postwertzeichen und im Type Directors Club of New York. Anna Berkenbusch designed numerous cinema posters, including for films by Wim Wenders, Werner Herzog and Francois Truffaut. The emerita professor of communication design is a member of the jury of the Ecodesign Award, the art advisory board of the Federal Ministry of Finance for postage stamps and the Type Directors Club of New York. Christian Bräuer ist promovierter Politikwissenschaftler. Seit 2007 leitet er die Yorck Kinogruppe, den größten Verbund von Arthouse-Kinos in Deutschland. Zudem ist er seit 2019 Präsident des internationalen Filmkunstverbandes CICAE und Vorsitzender der AG Kino – Gilde deutscher Filmkunsttheater. Er lebt in Berlin. Christian Bräuer holds a doctorate in political science. Since 2007, he managed Yorck Kino, the largest association of arthouse cinemas in Germany. In addition, he has served as president of the International Confederation of Arthouse Cinemas (CICAE) and chairman of AG Kino– Gilde deutscher Filmkunsttheater since 2019. He lives in Berlin. Adrian Curry schreibt seit 2008 über Filmplakatdesign für die Filmplattform MUBI und die Zeitschrift Film Comment. Er kuratiert den Instagram-Account @movieposterofthday und ist Designdirektor für die US-amerikanischen Verleihe Kino Lorber und Zeitgeist Films. Er lebt in New York. Adrian Curry has written about film poster design for the film platform MUBI and Film Comment magazine since 2008. He runs the Instagram account @movieposterofthday and is the design director for US distribution companies Kino Lorber and Zeitgeist Films. He lives in New York. Carlo Chatrian ist seit 2019 künstlerischer Leiter der Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale). Zuvor war er in selber Funktion für das Locarno Film Festival tätig, etwa als Kurator von Retrospektiven zum japanischen Anime. 2020 wurde er in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences, USA, berufen. Carlo Chatrian has been the artistic director of the Berlin International Film Festival (Berlinale) since 2019. Previously, he held the same position for the Locarno Film Festival, curating retrospectives on such topics as Japanese anime. In 2020, he was appointed to the Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS), US. ANNA BERKENBUSCH * 1955 in Erwitte, BRD Designerin | designer CARLO CHATRIAN * 1971 in Turin, IT Filmkritiker, künstlerischer Leiter der Internationalen Filmfestspiele Berlin | film critic, artistic director of the International Film Festival Berlin CHRISTIAN BRÄUER * 1971 in Weißenburg, BRD Geschäftsführer | managing director ADRIAN CURRY * 1964 in Kent, GB Autor, Grafikdesigner | author, graphic designer Maryna Er Gorbach studierte Filmregie in Kyjiw und Warschau. Seit 2017 ist sie Mitglied der Europäischen Filmakademie. Ihr Film KLONDIKE (UA, TR 2022) wurde auf dem Sundance Festival (Utah, USA) und den Internationalen Filmfestspielen Berlin (Berlinale) ausgezeichnet und vertrat die Ukraine bei den Academy Awards 2023. Maryna Er Gorbach studied film directing in Kyiv and Warsaw. She has been a member of the European Film Academy since 2017. Her film KLONDIKE (UA, TR, 2022) won awards at the Sundance Festival (Utah, US) and the Berlin International Film Festival (Berlinale); it also represented Ukraine at the Academy Awards in 2023. Thea Ehre studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Wien. Sie ist Schauspielerin, Performerin und Trans-Aktivistin. Für ihr Spielfilmdebüt in BIS ANS ENDE DER NACHT (DE 2023) erhielt sie den Silbernen Bären der Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale). Thea Ehre studied theatre, film, and media studies in Vienna. She is an actor, performer, and trans activist. She received the Silver Bear at the Berlin International Film Festival (Berlinale) for her feature film debut in BIS ANS ENDE DER NACHT (TILL THE END OF THE NIGHT, DE, 2023). THEA EHRE * 1999 in Wels, AT Schauspielerin | actress MARYNA ER GORBACH * 1981 in Kiew, UdSSR (heute Kyjiw | today Kyiv, UA) Filmregisseurin, Drehbuchautorin | director, screenwriter
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