Leseprobe

Herausgegeben von Westrey Page Kunstpalast, Düsseldorf Faszination des Horrors TOD UND TEUFEL

Inhalt Vorwort Tod und Teufel Schaut nicht zurück! Felix Krämer Martin Faass Wolf Eiermann Einführung in die Faszination des Horrors Westrey Page Zur Vorgeschichte des Horrors in den Bildmedien Wolf Eiermann 11 12 34

Born This Way Geschichte Gegenwart Horror in der zeitgenössischen Kultur Catherine Spooner 58 91 186 Verzeichnis der ausgestellten Werke 190 Plattencover 192 Filmplakate 196 Bildnachweis 198 Impressum Westrey Page im Gespäch mit: 100 Sam Dunn 114 Robert Eggers 128 Robert Forst 142 Gareth Pugh 158 Via Lewandowsky 178 King Cobra Interviews Anhang 46

12 Westrey Page Tod und Teufel Einführung in die Faszination des Horrors

12 1b3 In den Messehallen im Herzen von Boston wimmelt es von tätowierten, schwarz gekleideten Händler:innen, die Pentagramm-Mützen, vegane Seifen und lange Kerzen mit GothicMotiven verkaufen. Das Programm des ausverkauften Events umfasst Vorträge, sogenannte Enttaufungszeremonien und Broschüren über sexuelle und reproduktive Rechte sowie Kindererziehung nach dem Motto des außerschulischen Clubs After School Satan. Es ist der 30. April 2023, ein Datum, das einerseits im Hinblick auf die deutsche Tradition der Hexennacht (Walpurgisnacht) gewählt wurde und andererseits den 10. Jahrestag der internationalen Organisation Satanic Temple feiert. Herzlich willkommen auf der SatanCon. Draußen skandieren Demonstrierende und halten Schilder hoch, auf denen sie die Besucher:innen zum Glauben an Jesus missionieren wollen (Abb. 1). Die meisten von ihnen verstehen jedoch nicht, was der Satanic Temple tatsächlich ist – seine Mitglieder opfern weder Ziegen auf Altären, noch beten sie den Teufel als Gottheit an. Wie ein Sprecher auf der SatanCon betonte, »steht Satan als Metapher für individuelle Freiheit, das Streben nach Wissen und Erkenntnis sowie die Rebellion gegen die Willkür von Autoritäten«.1 Diese Menschen nutzen den Satanismus als Bewegung, um dem entgegenzutreten, was sie als religiösen Fanatismus und Heuchelei in der Gesetzgebung ansehen, vor allem in den Vereinigten Staaten, wo eine vermeintliche Religionsfreiheit praktiziert wird, die letztlich das Christentum privilegiert und damit andere Glaubensgemeinschaften und Weltanschauungen ausgrenzt. Der Teufel wird von diesen »neuen Satanist:innen« als Symbolfigur eingesetzt, um sich gegen die von ihnen kritisierten Machtstrukturen zu positionieren. 1 Brian Snyder Satanic Temple holds Satancon 2023 in Boston Fotografie, 28. April 2023, picture alliance / REUTERS

14 Auch andere Figuren und Ästhetiken, die sich unter dem Oberbegriff »Horror« zusammenfassen lassen, haben in der jüngsten Populärkultur eine Renaissance und Neubewertung erfahren: 2010 brachte die Barbie-Marke Mattel Monster-High-Modepuppen heraus, die in Nordamerika zu Bestsellern avancierten. Als »Frankie Stein« und »Draculaura« wurden sie gezielt an Kinder vermarktet und mit dem Slogan »Sei Du selbst, sei einzigartig, sei ein Monster« beworben – ein Plädoyer für Individualität durch Anderssein (Abb. 2). Dieser Ansatz wurde wahrscheinlich von Lady Gaga inspiriert, die dafür bekannt ist, ihre Fans liebevoll »Little Monsters« zu nennen und sich in selbstbewussten, monströsen Outfits zu kleiden. Zur gleichen Zeit brachen die elf Staffeln der Zombie-Hitserie The Walking Dead Fernsehrekorde, und sechs von zehn der in den ersten 24 Stunden meistgestreamten NetflixSerien bedienten sich Horrorthemen.2 Rihanna verlieh ihrer Marke in Kooperation mit dem legendären Metal-Logo-Designer Christophe Szpajdel ein neues Branding (Abb. 3), während die Extreme-Metal-Band Cradle of Filth eine Zusammenarbeit mit dem Popmusiker Ed Sheeran ankündigte. Auch Social-Media-Communitys wie die »Witches of Instagram« gewannen immer mehr Anhänger:innen. Wie lässt sich das Aufblühen dieser Bilder, Themen und Figuren erklären? Einige Theorien besagen, dass der Horror ein Spiegel gesellschaftlicher Ängste ist.3 Zwar mag dieser Ansatz für einige Bereiche der Kunst, Musik, Mode und des Films zutreffen, jedoch erklärt er das Phänomen längst nicht in seiner Gänze. Denn ein Großteil der visuellen Kultur eignet sich die Motive aus völlig anderen Gründen an. So entstand nach der Jahrtausendwende eine größere Diversität an Charakteren und Symbolen als in den späten 1990er-Jahren, obwohl diese durch das nahende Millennium von Weltuntergangsängsten geprägt waren, oder während der Anfänge der Goth- und Metal-Szene in den 1970er- und 1980er-Jahren, die bis heute die Ästhetik des Horrors beeinflussen. Die Möglichkeit zur grenzenlosen Vernetzung von Gemeinschaften durch das Internet hat die Entstehung globaler Dialoge innerhalb und zwischen Subkulturen ermöglicht. Dadurch sind die Genres, die sich aus dem künstlerischen Vokabular des Horrors speisen, viel2 Mattel Frankie Stein™ (Monster-High-Serie) Mixed Media, 2022, 40×30×10 cm (im Karton), Kunstpalast, Düsseldorf 3 Christophe Szpajdel Rihanna-Logo Bleistift und Tinte auf Papier, 2016, Christophe Szpajdel fältiger geworden. Die globalen »Peripherien«, die die westliche Vorstellungskraft einst erschreckten (und dies zum Teil immer noch tun), sind nun in der Lage, auf das sogenannte Zentrum zu reagieren, daran teilzuhaben und dieses zu beeinflussen.4 Soziale Bewegungen, die sich für Antirassismus sowie für Geschlechter- und Klimagerechtigkeit einsetzen, haben die Populärkultur und das kulturelle Schaffen – einschließlich des Horrors – durchdrungen und inspiriert. Diese Fäden haben ihre Vorläufer in der jahrhundertelangen Kunst- und Kulturgeschichte, auch wenn sie nur selten in Kunstpublikationen und lediglich in Ausnahmefällen in Museumsausstellungen artikuliert werden.

15 Die Faszination am Horror Anstelle des Versuchs, unterschiedliche Künstler:innen einem einzigen Genre zuzuordnen, soll der ambivalente Begriff »Horror« in diesem Kontext als zeit- und medienübergreifender roter Faden dienen. Er umfasst Gefühle von Angst und Ekel ebenso wie das Unheimliche. Etliche zeitgenössische Werke versuchen, verschiedene Facetten dieser Emotionen hervorzurufen. Wichtig ist jedoch, dass der Ausdruck auch die Handlungen, Motive und Figuren einschließt, die bereits zum Kanon gehören und selbst Gegenstand von Kritik, Inspiration und endloser Reproduktion wurden. In dieser Ausstellung werden daher verschiedene Interpretationen des Horrors zusammengebracht: von der erschreckenden Filmszene, die das Popcorn durch die Luft fliegen lässt, über das Metal-Albumcover mit bluttriefenden Buchstaben bis hin zu einem Pailletten-Skelettkleid auf einem Laufsteg mit den von einer Künstlerin geschaffenen synthetischen Monsterfiguren. Die vom Horror ausgehende Faszination wurde in dieser transhistorischen und transdisziplinären Form kaum erforscht. Und dafür gibt es gute Gründe: Das Wort wird oft mit oberflächlicher und inhaltsleerer Sensationslust gleichgesetzt. Doch die Assoziationen mit scheinbar sinnlosem Grauen und frivolem Spektakel müssen neu hinterfragt und bewertet werden. Um ein besseres Verständnis davon zu bekommen, was Horror für diesen Essay und die Ausstellung bedeutet, ist es notwendig, zwei zentrale Begriffe zu erläutern: Das »Erhabene«, wie es Edmund Burke 1757 in seinem Text Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen erdacht hat, leitete einen tiefgreifenden Wandel im gesellschaftlichen Denken der damaligen Zeit ein. Er legte den Grundstein für die Romantik mit der Annahme, dass persönliche Empfindungen und Wahrnehmungen einen Einfluss auf die Generierung und Verarbeitung von Wissen haben. In seiner Abhandlung stellte Burke das Konzept als Gegensatz zur »Schönheit« dar, die alles ästhetisch Angenehme umfasst. Das »Erhabene« hingegen ist für ihn ein Zustand des Erstaunens und der intensivsten menschlichen Erfahrung. Burke erkannte, dass »Erfahrungen des Schmerzes und der Gefahr, d. h. alles, was in irgendeiner Weise schrecklich ist […] oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt […], eine Quelle des Erhabenen ist«.5 Die Tiefe des Ozeans, das Beben der Erde, die Dunkelheit und sogar physischer Schmerz können in ihrer Gewaltigkeit, in ihrer Dunkelheit und Furchtbarkeit erhaben sein. Auch in John Miltons Gedicht Das verlorene Paradies von 1667, das Satans Geschichte nach seinem Höllensturz erzählt, wird die Figur des Todes als »dunkel, unklar, verworren, schrecklich« beschrieben und als »bis zum letzten Grad erhaben«.6 Bezeichnenderweise entsteht gerade durch die Nähe zwischen Furcht und Erhabenheit die Voraussetzung dafür, dass das Entsetzen mehr ist als nur blutiges Grauen – es kann eine Erfahrung beschreiben, die das herkömmliche Denken übersteigt und dabei stärker und komplexer ist als die Schönheit. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der zum Verständnis von Horror in diesem Zusammenhang beiträgt, ist der Begriff »Gothic«, der historisch betrachtet zuerst abwertend verwendet wurde. Der Ursprung des Wortes geht auf das germanische Volk der Goten zurück, die das spätantike Rom geplündert und zerstört haben sollen, also den Ort, der als Symbol einer hochentwickelten Zivilisation galt. In der Renaissance wurde mit Gotik die Kunst und Architektur des Mittelalters beschrieben, um Formen der Antiquiertheit und Verschwendung anzuzeigen, weil sie eben nicht auf den Grundsätzen der Rationalität und Funktionalität beruhten. Sie wurde deshalb häufig mit Anti-Modernität gleichgesetzt, diente Künstler:innen jedoch später auch als Mittel der Provokation gegenüber dem bestehenden Zeitgeist.7 Heute befasst sich eine große Anzahl an Expert:innen mit dem soziokulturellen Phänomen »Gothic«; allerdings findet diese Forschung vor allem im britischen Raum statt. Dies lässt sich auf die Entstehung des akademischen Fachbereichs Gothic Studies in Großbritannien in den späten 1970er-Jahren zurückführen, der sich im Zuge der zweiten Welle des Feminismus und der postmodernen Kritik entwickelt hat.8 Gothic ist anhand einer Reihe von ästhetischen und thematischen Motiven

16 leicht identifizierbar – dunkle Farben, kryptische Schriftarten, Spukschlösser oder weite arktische Landschaften, um nur einige Beispiele zu nennen. Dennoch gestaltet es sich schwierig, das Wort präzise zu definieren. Im Allgemeinen wird es als Stil verstanden, der Angepasstheit, Rationalität und Mäßigung zugunsten des Mysteriösen, des Irrationalen und Exzessiven ablehnt. Er legt einen Fokus auf Dunkelheit, Tod und die Vergangenheit. Umso erstaunlicher sind die Wandlungsfähigkeit und Ausdehnung des Begriffs, insbesondere in der Zeit nach der Jahrtausendwende, in der er lebensbejahende, skurril-komische und furchteinflößende Werke umfasst: So gehören sowohl der Filmemacher Tim Burton mit seiner spielerischen Herangehensweise als auch hochgruselige Geisterfilme zu dem Genre. Kunsthistoriker:innen und Museen haben sich zwar mit Themen befasst, die in Verbindung zum Horror stehen – wie beispielsweise Monster, Tod, der Apokalypse oder den Schrecken des Krieges –, jedoch haben sie speziell den Phänomenen »Gothic« oder »Horror« wenig kritische Aufmerksamkeit geschenkt. Noch bis in die 1990er-Jahre hinein wurde der Begriff »gotisch« weitestgehend im klassischen kunsthistorischen Sinn verwendet, um Arbeiten einzuordnen, die zwischen 1100 und 1500 auf dem europäischen Kontinent entstanden sind. Es gibt jedoch einige Ausnahmen, in denen das »Gotische« im Sinne von »Horror« Beachtung fand: Dazu zählen Ausstellungen wie Christoph Grunenbergs Schau Gothic am Institute of Contemporary Art in Boston im Jahr 1997, das Projekt Goth: Designing Darkness am Design Museum Den Bosch 2022 und The Horror Show im Londoner Somerset House 2022/23, die multimediale Ansätze aus Kunst, Film, Musik und Design miteinander verbanden. Die Ausstellung Schwarze Romantik im Städel Museum sowie dem Musée d’Orsay in den Jahren 2012/13 kann ebenfalls als einflussreiche intermediale Auseinandersetzung mit moderner Kunst angesehen werden, die von dunklen Träumen, Terror und Irrationalität geprägt ist. Um die vielfältigen Adaptionen des Horrors in der Gegenwart aufzuzeigen, ist es notwendig, eine breite Auswahl an Musik und visueller Kultur einzubeziehen. Ein solcher Beitrag kann jedoch niemals als vollständig angesehen werden. Es gibt zahlreiche Themen, die nicht berücksichtigt werden konnten, sei es in Bezug auf Künstler:innen aus verschiedenen Regionen und Zeiten oder das ganze Spektrum an unterschiedlichen Horrormotiven. Die Auswahl der Themen für diesen Essay und die Ausstellung erfolgten, um bestehende Chronologien zu durchbrechen und historische Veränderungen aufzuzeigen. Die Zusammenstellung der Werke zielt darauf ab, die begrenzten und oft abwertenden Assoziationen mit dem Motiv des Horrors aufzulösen, das Potenzial und die Tiefe dieses Genres hervorzuheben und eine Verbindung zwischen zeitgenössischer visueller Kultur und historischen Vorbildern herzustellen. Tod »Mein bleicher Körper wird bedeckt / Mit Sand und schwarzem Staube / Wird faulen Würmen zum Konfekt / Zum süßen Aas und Raube / Wer weiß ob nicht in diß Gebein / Sich Kröt’ und Eyder nisteln ein? / Ob nicht in diesen Armen / Die Natter wird’ erwarmen?«9 Erasmus Finx (1627–1694), Sterb-Lied / Der eitlen Schönheit Die schiere Unvorstellbarkeit, die Grenzen des Lebens zu überschreiten, ist eine Quelle der Angst und zugleich Ursprung unendlicher Faszination. Der französische Historiker Philippe Ariès hat in seinen Schriften die Beziehung des Westens zum Tod nachgezeichnet und beschrieb sie als einen Wandel von einer alltäglichen Erfahrung, die im häuslichen Umfeld stattfand und mit der Übergabe in Gottes Hände mündete, hin zu einer immer entfremdeteren Beziehung zum Tod, die schließlich tabuisiert wurde.10 Heutzutage sterben wir in Krankenhäusern, ohne notwendigerweise an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Auch Symbole wie Totenköpfe spiegeln diese Entwicklung wider – ihre Verwendung auf Metal-Plattencovern oder Goth-Accessoires wird mit anderen kulturellen Interpretationen in Verbindung gebracht als noch in der Frühen Neuzeit. Obwohl sie mit dem Ableben assoziiert werden, drücken sie heutzutage vor allem die Zugehörigkeit zu einer Subkultur, ein Aufbegehren gegen MainstreamWerte oder sogar einen leichteren, spielerischen

17 Gebrauch aus, während sie in der Frühen Neuzeit primär ernste, moralisierende Botschaften transportierten. Vom Spätmittelalter bis in die Barockzeit wurden Skelette, Schädel und verweste Körper abgebildet, um die Betrachtenden zum Nachdenken über Vergänglichkeit des irdischen Daseins anzuregen und vor einem vermeintlichen Sündenfall zu warnen. Diese Motive erlangten große Beliebtheit während Phasen weitreichender Zerstörungen und Katastrophen, in denen der Tod und das Grauen allgegenwärtig waren – neben der Schwarzen Pest, die ein Drittel der europäischen Bevölkerung als Opfer forderte, gab es verheerende Hungersnöte und den Dreißigjährigen Krieg. Die Hauptbotschaft dieser sogenannten Memento-mori-Bilder bestand darin, die weltlichen Eitelkeiten loszulassen und sich an die Unausweichlichkeit des Grabes zu erinnern, unabhängig von Klasse, Alter, Geschlecht oder Beruf. Insbesondere im 14. und 15. Jahrhundert erlebte das Thema des Totentanzes einen Höhepunkt. Im Französischen bekannt als »danse macabre«, wurde das Motiv auf Friedhofsmauern gemalt und in Form von Drucken über ganz Europa verbreitet. Eines der frühesten und einflussreichsten Beispiele in der bildenden Kunst entstand auf einem Baseler Friedhof kurz nach dem Ausbruch der Schwarzen Pest in der Region um 1440. Das Wandgemälde stellte den Tod personifiziert als Skelett dar, begleitet von 39 Personen, die er zu ihrem Grab führt oder vielmehr »tanzt« (Abb. 4). Die Szene, die wie ein Comic-Strip wirkt, erstreckte sich über eine Länge von 60 Metern. Obwohl das Original 1805 zerstört wurde, überlebten die Tanzpaare dank der Kupferstiche von Matthäus Merian dem Älteren, die ab 1649 in Buchform 4 Johann Rudolf Feierabend Kopie des Basler Totentanzes als Aquarell 1806, Original (Tempera auf Gips) aus dem 15. Jahrhundert mit späteren Überarbeitungen, 200×6000 cm, Historisches Museum Basel

Wolf Eiermann Zur Vorgeschichte des Horrors in den Bildmedien Schaut nicht

35 Horror? Im Kopfkino öffnet sich eine Tür und bald sitzt man in einem abgedunkelten Saal, wo sogleich die tiefsten Abgründe der Welt, die Urängste und alle Schrecken der Menschheit erscheinen werden. Aus Schauspielern und Schauspielerinnen werden Monster oder sie kämpfen zumindest gegen solche, springen auf uns zu und … nun, der Kinosperrsitz gibt Halt (Abb. 1). Einer gut gemachten filmischen Aufarbeitung der Horrorthematiken kann man sich seit den Tagen des expressionistischen und psychologisierenden Films, seit Nosferatu und Frankenstein, kaum noch entziehen. Dass manchem Drehbuch eines Actionthrillers eigentlich ein 200 Jahre alter Schauerroman der Romantik zugrunde liegt, ist zumindest in der Filmbranche bekannt. Und wie an den altertümlichen Namen postmoderner Superhelden abzulesen ist, greifen selbst Filme des frühen 21. Jahrhunderts Themen auf, die eigentlich aus der Antike oder gar der Sagenwelt stammen. Horror, ist das nicht oft nur ein Remake von Themen, kombiniert mit einer sozusagen vererbten Gefühlsreaktion? Denn ohne die einkalkulierte Reaktion des Publikums, ohne den bezweckten Affekt beim Zuschauenden, würde nichts von dem, was sich Filmschaffende erhoffen, funktionieren. Die Stimmung kann schnell ins Gegenteil kippen: Remakes bergen nicht nur in der Welt der Mode die Gefahr einer Abnutzung. Ein schlechter Horrorfilm löst Heiterkeit aus; dafür gibt es inzwischen Klassiker in der B-Movie-­ Sparte. Spaß und Schrecken liegen als mögliche Publikumsreaktion also nah beieinander. Das gilt auch außerhalb des Kinos. Wer wird den mexikanischen Tag der Toten (dia de los muertos) mit seinen Totenschädeln aus Zucker nicht sogleich unter Spaß einordnen – seine jährliche Wiederkehr hat ihm den Schrecken genommen. Ähnlich verhält es sich mit den Initiationsritualen historischer (Geheim-)Gesellschaften – 1 Friedrich Wilhelm Murnau Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens Filmstill, 1922

36 nur für den Anfänger entfalten sie ihre erschreckende Wirkung, die Ordensmitglieder sind nach der zweiten Vorstellung bereits abgestumpft. Was aber macht den Horror so attraktiv, dass er in den verschiedenen Genres und Medien zum kulturellen Leben mit dazugehört? Generell funktioniert das Erschrecken mittels einer unscharfen Trennung von Realität und künstlerischer Darstellung; doch noch besser funktioniert es, wenn die Grenzlinie dabei gänzlich unsichtbar wird, der reale Horror für die Betrachtenden zum Greifen nah scheint. Realität und Fiktion können dabei ineinander gehen: Die Antike konstruierte mit den offenen Theatern und Arenen Bühnen, auf denen alles, was dort geschah, für die Zuschauenden zum Schauspiel wurde – selbst wenn es sich vor ihren Augen um reale, blutige, oft tödlich endende Überlebenskämpfe von Menschen (und Tieren) handelte. Das Drama scheint selbst in den grauenvollsten Szenen ein zwar bewegendes, aber fernes Drama zu bleiben, wenn nur unsere Stellung als »Zuschauende« definiert ist. Das gilt nicht nur für das Internet, sondern auch für die Welt der gemalten Bilder, vor denen die Betrachtenden stehen. Und es gilt ebenso für die Welt der auf Texten beruhenden Illustrationen, wobei diese Bilder nicht minder tief die eigene Psyche beeinflussen können als die von den Entwerfenden frei erfundenen Wesen. Die geschilderten Bestien, Monster und künstlichen Wesen nagen sich geradezu in die Psyche (Abb. 2). Kämpfe Schockierend ist ebenso das Aufzeigen des Unmenschlichen im Menschen, sein Ringen mit inneren Bestien und dem Bösen. Schockierend kann auch sein Kampf mit dem Tod sein. Der Tod liegt der Realität statistisch gesehen sowieso näher als die Begegnung mit Ungeheuern der Urzeit oder Aliens aus fernen Galaxien. Die Kunst- und Kulturgeschichte hat aber noch Bildwelten parat, die vom Horror in früheren Zeiten berichten. Sie können zudem mit Helden und Antihelden aufwarten, die in einer Welt agieren, von der wir nicht durch eine Lesebrille oder eine Zuschauerlinie getrennt sind: Diese Welt existiert in uns selbst. Dabei geht es, historisch gesehen, anfangs noch nicht um das Ich, um Psychoanalyse, sondern um die Seelenzustände und kollektiven Ängste einer Gesellschaft. Wie aber die subjektive Er2 Franz Nadorp Nedhögr, der Menschenwürger Feder/Tusche, Pinsel/Sepia und Deckweiß auf braungrauem Papier, 1833, 19,2 × 27,2 cm, Museum Georg Schäfer, Schweinfurt

37 fahrung vom gemeinsamen kultischen Angsterlebnis trennen? Hier ist ein Blick zurück in die Bildgeschichte hilfreich. Dieser Rückblick versteht sich folglich nicht als Einführung in die Traumata der Moderne oder in die neue, am Beginn stehende Kunstepoche einer Algorithmusmatrix der KI (Künstliche Intelligenz). Er will nur kurz und exemplarisch zurück in Zeiten führen, in denen Horror und Liebe, Tugend und Sünde, Erschrecken und Staunen, Fühlen und Sterben etwas prägten, was nicht gespielt, sondern für immer real war: das Leben. Beginnen wir mit dem inneren Kampf. Er ließ sich kaum vermeiden. Im Leben jedes früheren Menschen kam es zu dieser Auseinandersetzung. Dass dies ein hoher römischer Beamter formulierte, dem sein bisheriges Leben als Provinzgouverneur unter Kaiser Theodosius unwichtig erschien und der sich stattdessen dem Glauben zuwandte, mag überraschen. Aurelius Prudentius Clemens (ca. 348 – um 405 n. Chr.) verfasste um 400 keinen Heldenbericht zu Schlachten oder zu Gladiatorenkämpfen in Amphitheatern. Vielmehr schilderte er in der Psychomachia einen länger andauernden Kampf, wobei er offenlässt, ob es ein Kampf der Seele, ein Kampf in der Seele oder um die Seele ist.1 Diese Schrift avancierte ab dem 10. Jahrhundert zum Schulbuch und wurde tausendfach gelesen. Worum geht es: Geschildert wird der Kampf der Tugenden mit den ihnen jeweils entgegengesetzten Lastern. Wer auflacht, das könne ja so dramatisch nicht gewesen sein, der spürt den Affekt, die Angstwirkung, nicht mehr. Sie beruhte auch auf den Illustrationen seiner Texte. In einem bebilderten Manuskript des 12. Jahrhunderts wird nun gleich eine weibliche Tugendverteidigerin im Kettenhemd den Körper der fackelschwingenden Personifikation der Unzucht durchbohren (Abb. 3). Doch der bildliche Horror existierte im Mittelalter nicht nur im »Daumenkino« der Codices, er schockierte auch in größerem Format. Ob an den Chorwänden der Kirchen, ob kleinformatig auf Pergament gemalt oder auf Papier gedruckt: Die Psychomachia stellte jahrhundertelang eine für die Gläubigen überaus wichtige Frage, nämlich die nach den richtigen Entscheidungen im Leben. Und zwar vor allem dann, wenn das private moralische Verhalten gegen den Kodex einer Gruppe, gegen ihren Tugendkanon verstieß. Das Dasein wurde dabei in der christlichen Gemeinschaft als immerwährende ethische Prüfung verstanden; überwogen die Sünden, dann war die sofortige Abschreckung das Eine, die nachfolgende ewige Strafe das Andere. Das Prinzip der psychologischen Abschreckung setzte als Protagonisten Tod und Teufel ein.2 Während die Seelen nach der damaligen Vorstellung gleich nach dem Tod ins Fegefeuer wechselten, kam das Weltgericht erst nach der Auferstehung des Leibes/der Toten am Jüngsten Tag. Das Itinerar des Jenseits umfasste mehrere Gerichtstermine.3 Doch die Teufel zerrten viele Menschen auch wegen recht kleiner Sünden direkt hinein in die Vorhölle. Der Dichter Dante Alighieri (1265–1321) beschrieb das bei seinem Gang durch die unterschiedlichen Höllenkreise im Buch der Göttlichen Komödie. Dort sah er die Strafen für die Todsünden der Törichten, Hochmütigen, Neidischen, Jähzornigen, Geizigen und Unzüchtigen, die mitunter auch noch dem Laster luxuriöser Völlerei frönten. Heute unbegreiflich: Man sah in der Hölle aber auch Verliebte, die sich wie Francesca und Paolo den Gesellschaftsregeln zur Ehe entzogen hatten, und man traf auf die Selbstmörder, ohne dabei ihre Tat, ihre Verzweiflung, zu hinterfragen (vgl. unten Abb. 10). Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden in allen verfügbaren Medien Bilder geschaffen, die der Illustration von Tugenden, Sünden und Lastern dienten – mit pädagogischem Auftrag. Im 20. Jahrhundert wurden manche dieser Darstellungen dagegen bereits als »unterhaltend« und »amüsant« sowie als Sittenspiegel und Karikaturen eingestuft.4 3 Nach Prudentius Psychomachia, (Kampf der Geister) bemaltes Manuskript, um 1120, British Library, London

38 Tod und Teufel Sichtete und verführte der Teufel bereits im Diesseits die schwachen Seelen und quälte sie, so war er doch nicht die alleinige Figur des Schreckens. Früh drängte sich auch die Vorstellung einer Figur des Todes in die Vorstellung vom allgemeinen Lebenskampf. Der Tod konnte schon bei der Geburt der Kinder die Hand ausstrecken, wie er auch zum ständigen Begleiter der Greise wurde. Und in einem ähnelten sich beide, denn der Tod konnte ebenso lachen, scherzen und trotz seines Knochengerüsts so ausgelassen tanzen wie ein Teufel. Agierten Tod und Teufel als lustige Gigolos des Makabren in der Bildwelt oft zusammen, so stand der Tod in der Vorstellung der spätmittelalterlichen Gesellschaft mehr dem natürlichen Versterben im Sinne von Vorsehung und Schicksal nahe als einem von Menschen verursachten Gewaltakt. Er war zudem kein Henker, kein Mörder. Das wird deutlich, wenn es um alttestamentarische Szenen geht. Das Tanzen galt den Christen und Christinnen zwar im orgiastischen Einzeltanz der biblischen Salome, der Tochter des Herodes, als ein sündiges Treiben, als Laster. Doch ein geradezu teuflischer Zweck ihres Tanzes war es, vom König den abzuschlagenden Kopf Johannes des Täufers als Belohnung zu fordern. Wenn trotzdem die Teufelshelfer in der Hölle neben den Höllenhunden und anderen Monstern nicht als gefallene Engel, sondern als Totengerippe erscheinen, verdeutlichen sie nur nebenbei, dass es sich bei den dargestellten Sündern und Sünderinnen bereits um Verstorbene handelte. Zu Lebzeiten des Menschen war die Aufgabe des Todes als Figur im Bild primär die Verdeutlichung der Kürze seiner Lebenszeit. Die Ermahnung von der Sterblichkeit des Menschen, der doch in seiner Verblendung und Hybris zum ewigen Ruhm strebe, geht auf das den römischen Triumphatoren von einem Begleiter zugerufene »Memento mori« zurück: »Bedenke, dass Du sterblich bist!«5 Diese Warnung durchlief mit der Zeit mehrere Wandlungen. Sie bezog sich weniger auf das zu erwartende Weltgericht und damit auf die Frage, wie es um das Weiterleben nach dem Tod bestellt sei. Die Darstellung des Todes lehnte sich vielmehr an die des Menschen an: Die Bilder vom Totentanz zeigen ihn als Untoten, als Gerippe, als menschliches Skelett, der aber noch das Tanzbein schwingt, aber zum Beispiel im Industriezeitalter ebenso als Weichensteller, der den Zusammenstoß zweier Züge herbeiführt.6 Auch seine Darstellung war wandelbar: Mal ein Skelett mit Sense oder Sanduhr, mal wie bei Goya als gefräßiger Chronos, mal wie ein zarter jugendlicher Genius, der eine Fackel hält, oder als weiblicher Tod mit der Warnung an die Königin auf der Zizenhausener Keramikgruppe: »Euer Freud ist aus!«. Und wen er beim Paartanz an die Hand nimmt oder umgreift, den kann er immer noch loslassen (Abb. 4). Die Familie Sohn in Zizenhausen (heute Stockach) schuf im 19. Jahrhundert nach der Zerstörung eines mittelalterlichen Totentanzzyklus an einer Basler Kirche kleine Figurengruppen aus Keramik, die das Thema in populärer Weise hätten in die Moderne tradieren können.7 Doch trotz der soziohistorischen Studien von Philippe Ariès8 ist der Tod auch in seiner bildlichen Ausgestaltung bis heute ein Randthema der Wissenschaft und – für die Mehrheit der Bevölkerung – ein Tabuthema geblieben. 4 Anton Sohn Figurenfolgen Zizenhausener Totentanz Figur Lady, Terrakotta, farbig gefasst, 1822, Höhe 13 cm, Museum für Sepulkralkultur, Kassel 5 Max Slevogt Totentanz/Maskenball Öl auf Leinwand, 1896, 102×123 cm, Museum Georg Schäfer, Schweinfurt 6 Unbekannt Vanitas Mezzotinto/Schabkunst, 17. Jahrhundert, 17,6 × 15,4 cm, Kunstpalast; Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf

39 Das zeigt sich selbst bei dem von Max Slevogt 1896 gemalten Bild Maskenball/Totentanz, das auf einer Beobachtung im Münchner Fasching beruht, als eine Kellnerin einen Gast hinter sich herzog: »Das Leben ist es, das sich den Tod zum Tanze holt. Der Tod mag gar nicht tanzen«, äußerte dazu Slevogt, wobei er auch durch eine Karnevalspassage in Frank Wedekinds Theaterstück Frühlings Erwachen inspiriert worden sein könnte, in welcher der Tod die Frau bedroht, die in mehrere Rollen zu schlüpfen hat (Abb. 5).9 Das Memento mori als Warnung zu Lebzeiten wurde nach dem Ende der mittelalterlichen Horrorszenen in eine subtilere Form gegossen: Nun finden sich in der bildenden Kunst Totenschädel in arrangierten Tischstillleben als geradezu notwendige Accessoires einer scheinbar dem Genuss und den schönen Dingen des diesseitigen Lebens gewidmeten Bildgattung (Abb. 6). Der Totenschädel avancierte aber nicht nur zum Attribut für opulent ausgestattete Verdeutlichungen der beiden Todsünden Luxus und Völlerei; man findet ihn auch als Zugabe zur frugalen Schonkost in der Höhle oder Zelle eines Eremiten. Er taucht zudem als häufiges Motiv in den Exlibris von Buchbesitzern und -besitzerinnen auf.10 Insofern verflacht sich die Bedeutung vom einstigen Todbringer, er wird zum Memorandum der Sterblichkeit. Der Totenkopf mag auch den bereits überschrittenen Zenit des Lebensglücks andeuten. Sündiger Mensch oder edler Ritter? Doch was ist eigentlich mit dem Menschen, in welcher Gestalt wurde er den Figuren Tod und Teufel entgegengesetzt? Zuerst muss man erläutern, welcher Mensch: Die mittelalterlichen Bilder zeigen die Menschheit hierarchisch streng geordnet nach ihrem Stand und Rang. Konnte der menschliche Held im Diesseits, im alltäglichen Kampf des Guten gegen das Böse nicht sogar ein edler, ein idealer letzter Ritter sein, also so, wie selbst der damals ranghöchste Mensch, Kaiser Maximilian I. aus dem Haus Habsburg (1459–1519), von den Poeten seiner Zeit bezeichnet wurde? Ritter, Tod und Teufel

46 Catherine Spooner Horror in der zeitgenössischen Kultur Born This Way

47 Der seltsame Fall von Stefani Germanotta und Lady Gaga Das Video zu Lady Gagas 2011 veröffentlichtem Song Born This Way beginnt mit einer Szene, in der eine seltsam anmutende, janusköpfige Lady Gaga sich selbst gebärt, während eine Stimme verkündet: »Dies ist das Manifest von Mutter Monster.« (Abb. 1) 1 Parallel dazu findet im weiteren Verlauf der Szene eine zweite Geburt statt, bei der Lady Gaga das Böse in der Gestalt eines Maschinengewehrs zur Welt bringt, mit dem sie anschließend Lichtstrahlen abfeuert. Die Ausschnitte erinnern an Robert Louis Stevensons Horror-Klassiker Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1986), in dem ein Arzt zwei unabhängige Existenzen verkörpert, ein »gutes« und ein »böses« Ich; eine gespaltene Persönlichkeit, die bereits im Titel des Films benannt wird. Lady Gaga verdeutlicht mit ihrem Video jedoch, dass die beiden Ichs, die sie zur Welt bringt, nicht nur »unendlich« sind und sich über eine traditionelle Pluralität der Geschlechter hinwegsetzen, sondern auch, dass das »Böse« in einem Selbst nicht einfach abgelegt werden kann, sondern notwendig ist, um das »Gute« zu beschützen. Später im Video erscheint Gaga in einer Vielzahl von monströsen Kostümen, die an sogenannte Freakshows aus dem 19. Jahrhundert erinnern – darunter ein Alien-Klon und ein lebendes Skelett –, während sie mit ihrem Gesang zugleich die diskriminierende Sprache derartiger Shows konterkariert: »Gott ist unfehlbar […] ich wurde so geboren.«2 Gleichzeitig verwendet Gaga, die mit bürgerlichem Namen Stefani Germanotta heißt, aufwendig gestaltete Prothesen, Schminke, Perücken, Kostüme und digitale Spezialeffekte, um die von ihr geschaffene Performance-Identität zu verkörpern; Born This Way bedeutet im Falle Gagas, buchstäblich nicht durch das eigene Fleisch beschränkt zu sein. Das »Manifest«, das der Song proklamiert, ist eines, das monströse Bilder im Dienste marginalisierter Gruppen befreit und damit Inklusion, Pluralität und Diversität zelebriert. Der Song Born This Way ist vielleicht das deutlichste und prominenteste Beispiel für das künstlerisches Spiel mit der Bildwelt des Horrors im 21. Jahrhundert, das seine Motive aufgreift und neu einsetzt, um sich der vorherrschenden Kultur zu widersetzen. Für Lady Gaga ist diese Kultur von Normen domi1 Lady Gaga Born This Way Musikvideostill, 2011

48 niert, die all diejenigen ausgrenzt, die sich als anders wahrnehmen – ein Gefühl, das sich auf verschiedenste Weise intersektional deuten lässt. Als »Mutter Monster« schafft Lady Gaga eine Gemeinschaft von Außenseiter:innen und Außenseitern unter einer Horde von Fans, die sie liebevoll »Kleine Monster« nennt.3 Die Ironie liegt hier selbstverständlich darin, dass Lady Gaga selbst keinesfalls eine Außenseiterin ist. Die Sängerin zählt zu den größten Stars des 21. Jahrhunderts, Born This Way wurde in 25 Ländern zu einem Nummer-eins-Hit, der sich über acht Millionen Mal verkaufte und damit zu einer der meistverkauften Singles weltweit gehört. Wir alle, so scheint es, sind jetzt Monster. In diesem Widerspruch liegt eine der fundamentalen Paradoxien des zeitgenössischen Horrors. In der zweiten Hälfte des 20. und bis in das 21. Jahrhundert hinein wurde Horror als Motiv zunehmend als Form des Widerstands gegen hegemoniale Normen konstruiert, sei es in Form von Fan-Kulten, fiktionaler Erforschung kultureller Krisen oder in Stilen der Subkultur. Wie der Tod im Tarot, der auf paradoxe Weise für das Ende und den Neuanfang zugleich steht, steckt auch im Horror eine potenziell revolutionäre Kraft. Horrorbilder lösen körperliche Reaktionen des Schocks, der Abscheu oder der Angst aus und laden uns auf diese Weise ein, unsere Einstellung zu dem, was wir kennen, zu überdenken. Ästhetiken des Horrors machen fluide Körperbilder sichtbar; sie zeigen solche, die kaputt und im Verfall begriffen sind und solche, die der Welt offen gegenüberstehen. Schaurige Körperdarstellungen sind konfrontativ und fordern uns auf, unser Verhältnis von Innen und Außen neu wahrzunehmen und auch unsere Umwelt zu hinterfragen. Horror gibt uns Rückhalt dabei, dem sauberen, perfekten, erstrebenswerten Körper, der gern mit dem westlichen Kapitalismus assoziiert wird, andere Daseinsformen und Körperbilder entgegenzusetzen. So wird Horror auch zum Instrument für die Kritik von Feminist:innen, BIPoCs, queeren Personen, Menschen mit Behinderung oder umweltpolitischen Aktivist:innen. Gleichzeitig jedoch verhält sich der Horror aufgrund seiner inhärenten Bedrohlichkeit, Unberechenbarkeit und seiner Fähigkeit, Monster auftauchen und verschwinden zu lassen, wenn man am wenigsten damit rechnet, nicht immer gemäß unseren Erwartungen. Horror kann für progressive ebenso wie für konservative Interessen in Anspruch genommen werden; auf den globalen Märkten des 21. Jahrhunderts scheint er den Bedürfnissen des neoliberalen Kapitalismus ebenso zu dienen wie seinen Gegner:innen. Diese Spannung zwischen Kommerzialisierung und Widerstand ist eines der markantesten Merkmale des Horrors im 21. Jahrhundert, was besonders an Massenmedien wie Film, Popmusik und Mode sichtbar wird, wie das folgende Kapitel zeigen soll. 2 Jennifer Kent The Babadook Filmplakat, 2014

49 Sympathie mit dem Teufel Der Protagonist aus Jennifer Kents Film Der Babadook (2014) hat eine kuriose Rezeption erfahren (Abb. 2). Die groteske Kreatur mit Zylinder, die eine alleinerziehende Mutter und ihren Sohn terrorisiert, ist ganz offensichtlich eine Metapher für die Trauer der beiden. Auf Social Media jedoch wurde der Babadook aus unerklärlichen Gründen zu einer queeren Ikone, Gegenstand unzähliger Memes und Vorbild für Pride-Cosplays. Diese Form der queeren Aneignung hat eine lange Tradition: Mit Erscheinen der Universal-Klassiker Frankenstein (1931) und Frankensteins Braut (1935), bei denen der offen schwule James Whale Regie führte, entdeckte die alternative Szene das Monster als queeres Motiv erstmals für sich. In ihrem Essay Powers of Horror entwickelte die französische Theoretikerin Julia Kristeva 1980 die Theorie der Abjektion: ein Ansatz, zu erklären, warum Dinge, die »dazwischen […] ambivalent […] zusammengesetzt« erscheinen, häufig als abstoßend erlebt werden.4 Sie beschreibt, wie der Detritus – Exkremente und Erbrochenes, abgeschnittene Nägel und totes Haar – gleichzeitig als Teil des eigenen Körpers, aber auch als Fremdkörper wahrgenommen werden kann, weshalb wir ihn ablegen, um ein sauberes und ordentliches Selbst zu wahren. Diese Ablehnung beschränke sich nicht auf das Individuum, sondern sei auch innerhalb des sozialen Korpus zu beobachten, wenn eine Gesellschaft Personen als abnormal ablehnt und sie mit einer Rhetorik des Ekels belegt, um sich beispielsweise von Jüd:innen, Menschen mit Behinderung, Homosexuellen oder Geflüchteten abzugrenzen. In diesen Fällen wird eine fundamentale Beziehung zwischen Merkmalen des Horrors und dem Umgang mit Marginalisierten sichtbar. Horror funktioniert traditionell über die Strategie des »Othering« (von engl. »other«, »andersartig«), indem eine Art Monster geschaffen wird, das Eigenschaften verkörpert, die die Gemeinschaft bedrohen und anwidern, und das deshalb abgelehnt und zerstört werden muss. Frankensteins Monster, das in Whales Film von Dorfbewohner:innen mit Fackeln und Heugabeln verfolgt wird, gilt als ikonisches Beispiel für dieses Phänomen. In den 1960erJahren begann sich das Motiv des Horrors schließlich zu verändern, ausgelöst von einer positiven Umdeutung des Andersseins in Gegenkulturen, einem erstarkenden Kampf für soziale Gerechtigkeit sowie dem Aufkommen der Identitätspolitik. Gab es bereits zuvor einzelne Beispiele für freundliche Monster, wie die wortgewandte Kreatur in Mary Shellys Frankenstein (1818/1831), so wurde Monstern nun immer häufiger mit Sympathie oder gar mit Empathie begegnet, während das Außenseiter:innentum aufgewertet und Monster zum Symbol des Widerstands gegen bürgerliche Heterogenität wurden. Dieses Neudefinition im späten 20. Jahrhundert brachte auch eine moralische Neubewertung der Struktur von Horrorerzählungen mit sich. Gut und Böse waren nicht länger lediglich Schwarz oder Weiß; Monster und Dämonen konnten eine Vielzahl an komplexen und widersprüchlichen Motiven verkörpern. Shelleys Frankenstein spielt auf die Kreatur in John Miltons epischem Gedicht Paradise Lost (1667/1674) an, die sich selbst als »fallen angel«5 (»abtrünniger Engel«) bezeichnet. Luzifer war einst der strahlendste aller Engel, wurde jedoch aus dem Himmel vertrieben, weil er es wagte, sich gegen Gott aufzulehnen. Berüchtigterweise ist Luzifer für viele Leser:innen der spannendste Charakter des Gedichts; der romantische Dichter William Blake bemerkte über Milton, dieser stünde »auf der Seite des Teufels, ohne es zu wissen.«6 Die Ikonografie des Teufels als Rebell prägte auch das sich wandelnde Verständnis von Horror in den 1960er-Jahren. Der Song Sympathy for the Devil der Rolling Stones von 1968 verkörpert diesen Wandel, indem er die Position des Teufels legitimiert und den Hörenden eine Mitschuld an den besungenen Gräueltaten gibt: »Ich schrie: ›Wer tötete die Kennedys?‹ / Wenn es am Ende doch du oder ich waren«.7 Eine Coverversion des Songs von der Band Guns N’Roses wurde 1994 zum Soundtrack für Neil Jordans Filmadaption von Anne Rices Bestseller Interview mit einem Vampir (1976). In der Romanvorlage wie auch im Film erzählt ein Vampir einem jungen Journalisten seine Lebensgeschichte als Untoter und überredet ihn dadurch unbewusst dazu, selbst ein Vampirleben zu führen. Die Insze-

50 nierung des Monsters als abtrünniger Engel, der wahlweise zur Identifikationsfigur für die Lesenden oder Zuschauenden wird, könnte nicht deutlicher ausfallen. Ähnliche Motive des Horrors finden sich auch im 21. Jahrhundert und werden auf immer raffiniertere Weise erforscht. Im Zuge der Globalisierung werden dabei vermeintlich ethische Lebensweisen zunehmend infrage gestellt. So erleben Adam und Eve (Tom Hiddleston und Tilda Swinton) Vampirismus in Jim Jarmuschs Only Lovers Left Alive von 2013 als eine Art ewige Auszeit, in der sie entweder um die Welt reisen (Eve) oder im abgedunkelten Schlafzimmer liegen und Musik hören (Adam) (S. 133). Die Vampire überleben durch illegale Einkäufe bei oder Diebstahl von Blutbanken und ernähren sich nicht, wie traditionell üblich, direkt vom Menschen. Die Klimax des Films ist erreicht, als die beiden, gestrandet im marokkanischen Tanger und einer Blutquelle beraubt, entscheiden müssen, ob sie ein junges Menschenpaar erbeuten und so auf Kosten anderer überleben. Wenngleich das Publikum filmisch dazu verleitet wird, diese Szene als eine Hommage an die Liebe und das Leben zu lesen, so steht diese auch symbolisch für die westliche Ausbeutung des Globalen Südens, die traditionell koloniale Machtstrukturen affirmiert. Einen anderen Ansatz verfolgt der im Iran spielende Film A Girl Walks Home Alone at Night (2014) der Regisseurin Ana Lily Amirpour, der die klassische Erwartungshaltung an einen Horrorfilm ironisch bricht, indem die Tschador tragende Protagonistin in ihrer Rolle als Vampir das im Titel suggerierte Klischee von der Frau als Opfer widerlegt (Abb. 3). Jarmuschs und Amirpours Filme verdeutlichen den globalen Charakter des Horrorfilms im 21. Jahrhundert: Bei beiden handelt es sich um internationale Co-Produktionen, die ohne den Austausch von Ideen, Talenten, Finanzierung und Ressourcen über Kulturen und Kontinente hinweg nicht existieren würden. Wie Glennis Byron in Globalgothic schreibt, überwindet die Globalisierung des Horrorfilms die koloniale Tradition, westliche kulturelle Normen in den globalen Süden zu exportieren, und lebt stattdessen von einem Austausch in verschiedene Richtungen.8 So schafft es ein japanischer Horrorfilm wie Hideo Nakatas Ring – das Original (1998), westliche Techniken des Horrorfilms mit der japanischen folkloristischen Tradition des »onryō« (zorniger weiblicher Geist) sowie speziellen kulturellen Anliegen des »hikikomori«, einer Form des extremen sozialen Rückzugs im modernen Japan, und den Motiven einer globalen Angst vor neuen Technologien zu verbinden. Nachdem der Film internationalen Erfolg feierte, wurde er 2002 in Hollywood von Gore Verbinski unter dem Titel The Ring neu aufgelegt. Dies zeugt von einem Prozess des Austauschs, bei dem der nichtwestliche Horror neu angeeignet, absorbiert und wieder exportiert wird. Das amerikanische Remake war an den Kinokassen sogar erfolgreicher als das Original. Die im Film suggerierte, unmittelbare Gefahr für das Publikum durch den abstoßenden, kriechenden Körper der ermordeten Sadako, der den Fernsehbildschirm vermeintlich zu durchdringen vermag, deutet auf unheimliche Weise auf die Grenzen überwindende Übertragung des Horrors hin. 3 Ana Lily Amirpour A Girl Walks Home Alone at Night Filmplakat, 2014

51 Volksteufel und Satansschuhe Es ist kein Zufall, dass in westlichen Kulturen freundliche Monster und Subkulturen zur gleichen Zeit entstanden. Ab den 1950er-Jahren erlebten Horrorfilme und Comics einen ähnlich großen Hype, und die Ablehnung, die sogenannte Schundliteratur und -filme bei der Elterngeneration sowie beim Establishment erzeugten, verlieh beiden Phänomenen eine gewisse Coolness. Als der utopische Traum in den 1960er-Jahren zu platzen drohte, rollte eine Welle von Jugendkulturen heran, die Horrorbilder in verschiedener Weise aufnahmen und sich damit selbstbewusst von den Lebensstilen und den Werten des Mainstreams absetzten. Diese Subkulturen galten in den Medien hinlänglich als »Volksteufel« – ein Begriff, der von Stanley Cohen geprägt wurde und als Bezeichnung diente für Menschen, die in modernen Gesellschaften zu Träger:innen gesellschaftlicher Ängste mutierten, während die von ihnen ausgehende Gefahr über alle Maßen übertrieben dargestellt wurde.9 Zwar befasste sich Cohen in seinen Schriften von 1970 speziell mit den Auseinandersetzungen zwischen Mods und Rocker:innen auf den Straßen Großbritanniens, doch seine Begriffe lassen sich problemlos auch auf die zu diesem Zeitpunkt gerade erst entstehenden Subkulturen wie Heavy Metal, Punk oder Goth übertragen. Diese größtenteils aus der Weißen Arbeiter:innenklasse und der unteren Mittelschicht des postindustriellen Großbritanniens hervorgegangenen Gegenkulturen verbreiteten sich rasch in Europa und den USA und eigneten sich die Motive des Andersseins und der Monstrosität an, um ihrer Entfremdung vom Mainstream Ausdruck zu verleihen. Sie machten sich damit das zu eigen, was in Kristevas Worten »die Identität, das System, die Ordnung stört […] und keine Grenzen, Positionen, Regeln achtet«.10 Die Ikonografie von Tod und Teufel bringt in diesem Zusammenhang etwas zum Ausdruck, das über die buchstäbliche Bedeutung dieser Worte hinausging: Widerspruch, Widerstand, Verweigerung. Die Subkulturen der 1970er-Jahre werfen noch heute einen Schlagschatten auf die Jugendkultur des 21. Jahrhunderts. Vor allem Heavy Metal und Goth weisen nach wie vor eine international florierende Szene auf, die durch die globale Vernetzung mit dem World Wide Web noch begünstigt wurde. Viele der populärsten Bands der 1970er- und 1980erJahre sind immer noch auf Tournee und produzieren Platten. Eine neue Welle von Künstler:innen macht jedoch Musik, die verschiedene Genres miteinander verbindet, um etwas Anderes zu schaffen, das die zunehmende Vielfalt der globalen Kultur des 21. Jahrhunderts widerspiegelt. Alien Weaponrys Kai Tangata (2018) beispielsweise bedient sich in seiner Musik der Māori-Symbolik. Bloodywoods Debütalbum Rakshak (»Beschützer:in«), von einem Bandmitglied als »Metal mit Masala« beschrieben, verbindet Hindi und Englisch sowie westlichen Metal und indische Volksmusik.11 In ähnlicher Weise verschmelzen Künstler:innen wie Zola Jesus, Chelsea Wolfe und Myrkur Folk, Elektronik, Chor- und Orchestermusik mit Metal, um eindringliche, sphärische Klangwelten zu schaffen und damit das traditionell stark testosterongesteuerte Genre von innen heraus zu unterwandern. Trotz der Neuerungen von Künstler:innen des 21. Jahrhunderts jedoch werden Metal und Gothic noch immer weitestgehend von Weißen Musiker:innen geprägt. In ihrem literarischen Hybrid aus Memoiren und Kulturkritik mit dem Titel Darkly (2019) beschreibt die Schriftstellerin Leyla Taylor ihr Aufwachsen als Schwarze Goth-Anhängerin im mittleren Westen der USA als doppelte Isolation und als Notwendigkeit, sich zurechtzufinden in »einer Welt, in der man gleich doppelt ausgegrenzt wird, wenn man der oder die Einzige im Raum ist.«12 Merkwürdig zu sein, sei ein Vorrecht der Weißen, da »eine zusätzliche Portion Eigenartigkeit zusätzlich zum Verhalten einer bereits marginalisierten Gruppe gegen die ›Politik der Seriosität‹ verstößt und das Schwarzsein in seiner Authentizität infrage stellt […]. Wenn einem Normalität jahrhundertelang verweigert wurde, ist die Verweigerung von Normalität eine radikale Entscheidung.«12b Ein solcher Widerstand zeigt sich auch in der Aneignung von Horrorsymbolik durch den Hip-Hop-Künstler Lil Nas X, der damit eine queere Identität ausdrückt, die innerhalb des Hip-Hop nach wie vor eine Randerscheinung ist. In dem kontrovers diskutierten Video zu seinem Song Montero

66 Unbekannt Memento Mori Vorder- und Rückseite ca. 1550 Hendrick Goltzius Der Drache tötet den Gefährten des Cadmus 1588

68 Umkreis Elisabetta Sirani Die büßende Maria Magdalena 1660–1665

69 Unbekannt Sarg von Ernestina Friderica von Stockhausen 1776

96 Luca Guadagnino Bones and All 2022 Bruce LaBruce Otto; or, Up with Dead People 2008

98 Peter Beste True Norwegian Black Metal (Nattefrost’s Sink) 2002 True Norwegian Black Metal (Abbath of Immortal) 2002 True Norwegian Black Metal (Kvitrafn of Wardruna, Bergen, Norway) 2002

100 Metal setzt sich aus vielen heterogenen Subgenres zusammen. Welche musikalischen und stilistischen Berührungspunkte gibt es trotz aller Unterschiede zwischen ihnen? Besonders in den letzten zehn bis 20 Jahren sind zahlreiche neue Subgenres entstanden, indem sie sich mit anderen Musikstilen vermischt haben. Es wird also zunehmend schwieriger, Gemeinsamkeiten zwischen ihnen zu finden. Meiner Meinung nach ist das einzige Element, das alle Subgenres des Heavy Metal vereint, die Power. Und diese Kraft kommt im Sound, in den Visuals und in dem unfassbaren Gefühl zum Ausdruck, das man beim Hören oder Spielen dieser Musik bekommt. Der Sound soll sich so kraftvoll anfühlen, wie es im Rahmen einer musikalischen Darbietung eben möglich ist. Diese Power geht einher mit subversiven Tendenzen, mit einer Düsternis, mit Rebellion. Eines meiner Lieblingszitate über Heavy Metal besagt, dass es oft eher um das Gefühl als um die Gedanken dabei geht. Das soll nicht heißen, dass Metal nicht zum Nachdenken anregt – im Gegenteil –, aber es ist eine Musik, die ein tiefes, intuitives Gefühl anspricht. Und trotz der Schwere, der manchmal recht intensiven Finsternis und der Beschäftigung mit unbequemen Themen vermittelt Heavy Metal ein ungeheuer ermutigendes und erhebendes Gefühl. Das gilt sowohl für die Musizierenden als auch für das Publikum. Im Metal werden häufig diabolische Motive verwendet. Warum ist Satan eine so wichtige Figur in der Metal-Musik? Metal ist ohne Frage die Musikrichtung der Gegenwart, die die Idee und Kraft des Teufels mehr als jedes andere Genre aufgegriffen hat. Weil der Teufel für Kraft oder Macht steht, aber in einem opaken und letztlich rebellischen Sinne. Die Faszination für den Teufel reicht in der Musikgeschichte weit zurück. In den 1960er-Jahren etwa begannen Musizierende, den Teufel als Symbol der Tapferkeit und als rebellischen Helden zu feiern. Sie haben Miltons Konzept des TeuMusik fels aus dem Verlorenen Paradies wiederbelebt, der eigentlich das Wesen war, das den Mut hatte, Nein zu sagen. Und ich glaube, der Metal ist im Laufe der Jahre einen bewussten oder unbewussten Pakt mit dem Teufel eingegangen, weil dieser die Kraft verkörpert, die es wagt, sich zu widersetzen. Natürlich gab es in der Geschichte des Metals auch Zeiten, in denen die Sache ziemlich ernst wurde. Als in den 1990er-­ Jahren in Norwegen mehrere Kirchen niedergebrannt wurden, war das ein Moment, in dem die Grenze von der spielerischen Erkundung von Symbolen zu tatsächlich christentumsfeindlichen, satanistischen Handlungen überschritten wurde. Aber in der Geschichte des Metals ist das eher eine Ausnahme, und ich glaube, der Teufel hat in der Metal-Musik weiterhin Bestand, weil es immer einen Grund gibt, Nein zu sagen, sich der Norm zu verweigern, gegen den Strom zu schwimmen. Der Teufel ist letztlich eine Figur, die unsere Gesellschaft und unsere Realität grundlegend infrage stellt. Welche Bedeutung hat der Tod im Metal? Im Metal wird der Tod seit Jahrzehnten durch Liedtexte, Bilder und die Art und Weise, wie die Musik klingt, thematisiert. Dies fällt in die breitere Tradition des Metals als eine Musikform, die die Tabus unserer Gesellschaft offenlegt. Wir distanzieren uns zunehmend von Tod und Sterben, da die Lebensqualität und -erwartung steigen, die Kindersterblichkeit sinkt, die Menschen immer urbaner leben und wir uns von der Erfahrung des Todes entfremdet haben. Metal fungiert als Ventil, als ästhetischer Bewältigungsmechanismus, um sich mit Tod und Sterben auseinanderzusetzen. Und ganz nebenbei entstehen natürlich grandiose Kunstwerke. Manche assoziieren Metal-Musik mit rechtsradikalem Nationalismus und Misogynie. Inzwischen gibt es aber immer mehr Frauen, die die heutige Metal-Musik prägen, und die Texte sind zum Teil offen politisch links orientiert. Was sagst Du zu diesen aktuellen Entwicklungen? Westrey Page:

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