Leseprobe

ERINNERUNGEN SCHAFFEN CREATING MEMORIES Japanese Photographs Japanische Fotografien

ERINNERUNGEN SCHAFFEN CREATING MEMORIES Japanese Photographs Japanische Fotografien herausgegeben von | edited by Lisa Bauer-Zhao Städtische Museen Freiburg Museum Natur und Mensch Sandstein Verlag

INHALT CONTENT 6 Vorwort Foreword Nicole Landmann-Burghart Jutta Götzmann 9 Reise-Erinnerungen Eine Betrachtung der japanischen Fotografien im Kontext der Entwicklung der Fotografie Travel Memories A Consideration of the Japanese Photographs in the Context of Photography and its Development Lisa Bauer-Zhao 37 Japansehnsucht und Wunschvorstellungen im Spiegel der Fotografie A Longing for Japan and Wishful Thinking in the Mirror of Photography Judith Knippschild 15 Erinnerungen wiederbeleben Die Freiburger Sammlung früher japanischer Fotografien Resurrecting Memories The Freiburg Collection of Early Japanese Photographs Hans Bjarne Thomsen

172 Literaturverzeichnis Bibliography 174 Provenienznachweis Proof of Provenance 174 Abbildungsnachweis Image Credits 175 Autor_innen Authors 176 Impressum Imprint 46 Katalog Catalogue Hans Bjarne Thomsen 48 Landschaften Landscapes 70 Inszenierungen des Alltäglichen Staging the Everyday 90 Nikkō und der Tōshōgū-Schrein Nikkō and the Tōshōgū Shrine 106 Stadtansichten Cityscapes 128 Das Leporello-Album The Leporello Album

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9 REISE- ERINNERUNGEN TRAVEL MEMORIES A Consideration of the Japanese Photographs in the Context of Photography and its Development Eine Betrachtung der japanischen Fotografien im Kontext der Entwicklung der Fotografie Lisa Bauer-Zhao

10 Ein einsames Boot liegt auf dem See, in dem sich der schneebedeckte Fuji spiegelt. Nebel umspielt die Hänge des Berges, Zweige mit leuchtend rotem Ahornlaub ragen ins Bild. Das Abendlicht taucht die poetisch-stille Szene in zarte Farben. Bilder wie dieses verbindet man mit Japan, jenem »mythenumwobenem Land«, das sich mehr als 200 Jahre lang gegenüber dem Westen (außer den Niederlanden) abgeschottet hatte und sich erst 1854 unter dem Druck von Kriegsschiffen der US-Marine dem Handel mit dem Westen öffnete. Auf Militär und Händler folgten bald westliche Tourist_innen. Als sich Mitte des 19. Jahrhunderts der Tourismus rasant entwickelte, wurde Japan zu einem Sehnsuchtsziel, wovon zahlreiche Reiseberichte und Reiseführer zeugen, die schon bald feste Routen und Touren durch Japan vorschlugen. Dabei spielte die noch junge Fotografie eine bedeutende Rolle für die Entwicklung des Tourismus: Handkolorierte Fotografien wurden in Massen für die westlichen Tou- rist_innen produziert. Die Reisenden kauften die Fotos in den zahlreich entstehenden Fotostudios und brachten sie als Erinnerungen nach Hause. Sie verbreiteten so das Bild eines Landes der Kirschblüten und des roten Ahornlaubs, der Tempel und Schreine, Berge und Seen, der Rikschas, Geishas und Samurai in alle Welt. Es sind Bilder, die sich festsetzten, zu einer kollektiven Vorstellung dessen wurden, was Japan sei – und diese Vorstellung bis heute prägen. Auch die Fotografien dieser Ausstellung gelangten durch verschiedene Reisende nach Europa und – größtenteils im frühen 20. Jahrhundert – in die Ethnologische Sammlung der Städtischen Museen Freiburg. Vor dem Hintergrund der visuellen Wirkmacht der Fotografie und ihres enormen Einflusses auf das Bild Japans, das durch den Tourismus weit verbreitet wurde, soll hier ein Blick auf den Entstehungskontext und die Entstehungszeit jener neuen Technik geworfen werden, die Alexander von Humboldt (1769–1859) schon 1839 als eine der »bewunderungswürdigsten Entdeckungen unserer Zeit«1 bezeichnet hatte. DIE ERFINDUNG DER FOTOGRAFIE IM 19. JAHRHUNDERT Die Fotografie war noch jung, als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ausgestellten Fotografien in Japan entstanden – doch war sie schon längst zu einer bedeutenden und viele Lebensbereiche beeinflussenden Technik geworden. Erst wenige Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1826, war es dem französischen Erfinder Joseph Nicéphore Niépce (1765–1833) erstmalig gelungen, ein mit der Camera obscura entstandenes Abbild dauerhaft zu fixieren – ein bahnbrechender Erfolg, nachdem die Lichtempfindlichkeit bestimmter Chemikalien schon seit dem frühen 18. Jahrhundert bekannt A solitary boat sits on the surface of a placid lake, on which snow-clad Mount Fuji is reflected. The slopes of the sacred mountain are gently swathed in mist, the foliage of maple branches in their bright-red autumn livery project into the photograph at the top from the left and right. Early evening light bathes this poetic, reposeful scene in tender colours. One immediately associates photographs like this with Japan, that “myth-shrouded country” which had closed off to the West (except for the Dutch) for over 200 years and only opened up to trade with the West in 1854 under the threat of force from U.S. Navy warships. Following hard on the heels of the military, diplomats and traders came the Western tourists. As tourism rapidly flourished in the mid-nineteenth century, Japan became a place people yearned to visit, to which numerous travel reports and guidebooks bear witness and which would, for their part, soon suggest fixed routes and tours throughout Japan. Photography, still in its relative infancy, played an important role in the development of tourism: hand-coloured photographs were produced in their masses for Western tourists. Travellers bought the photos in the numerous photographic studios that were springing up in the country and brought them home as souvenirs. They effectively disseminated an image all over the world of a land of cherry blossoms and red maple leaves, temples and shrines, mountains and lakes, rickshaws, geishas and samurai. They would become the abiding images in people’s minds in Europe and elsewhere, forming a collective notion of what Japan was like – and they still continue to shape this idea today. The photographs in this exhibition also arrived in Europe via various travellers and – for the most part in the early twentieth century – found their way into the Ethnological Collection of the Städtische Museen Freiburg. Against the backdrop of photography’s visual impact and its prodigious influence on the received image of Japan, the intention of this essay is to examine the origins – the context and the era – of this new technique, which Alexander von Humboldt (1769–1859) had already described as early as 1839 as one of the “most admirable discoveries of our time”.1 THE INVENTION OF PHOTOGRAPHY IN THE NINETEENTH CENTURY Although photography was still a relatively fledgling technology in the second half of the nineteenth century when the photographs in the exhibition were taken, it had long since become a significant technique influencing many areas of life. In 1826, only a few decades earlier, the French inventor Joseph Nicéphore Niépce (1765–1833) was the first to permanently fix an image created using the camera obscura –

11 war und die Camera obscura Künstler_innen und Wissenschaftler_innen vor allem seit der Renaissance bei ihrem Streben nach einem exakten, naturgetreuen Abbild als Zeichenhilfe diente. Die Weiterentwicklung der Technik durch Louis Daguerre (1787–1851) führte zur nach ihm benannten Daguerreotypie. Der französische Staat kaufte 1839 das Patent dieses ersten relevanten Fotografieverfahrens an und stellte es, quasi als Open Source, der Weltöffentlichkeit zur Verfügung: Eine Geste, die die Bedeutung zeigt, die der neuen Technik beigemessen wurde. Technische Fortschritte folgten rasch und ließen die noch äußerst unhandliche Technik bald immer besser nutzbar werden. Belichtungszeiten, die bei Niépces erster Fotografie noch acht Stunden betragen hatten, konnten schon zu Beginn der 1840er Jahre auf wenige Sekunden reduziert werden.2 So ließ sich die Fotografie bald vielfältig einsetzen, und das neue Medium verbreitete sich rasend schnell weltweit. Zeitgleich mit der Daguerreotypie gab in England William Henry Fox Talbot (1800–1877) ein weiteres fotografisches Verfahren bekannt. Während die Daguerreotypien Unikate waren, ermöglichte Talbots Positiv-Negativ-Verfahren die Vervielfältigung des Bildes, ein wichtiger Schritt hin zum Massenmedium und der massenhaften Verbreitung visueller Informationen. In seinem Buch The Pencil of Nature versammelte Talbot 1844 fotografische Beobachtungen – ein Regal mit chinesischem Porzellan, eine Straße in Paris oder das Fotogramm eines Spitzengewebes – damit sprach er seiner Erfindung Beweischarakter in der Kriminalistik zu und beschrieb ihre Überlegenheit in der Detailtreue gegenüber Worten.3 DIE WELT SAMMELN Diesen klaren Bezug zu einer als objektive Realität verstandenen Natur sah auch Alexander von Humboldt und schrieb, die Bilder »haben ganz den unnachahmlichen Naturcharakter, den die Natur nur selbst hat aufdrücken können«.4 Er attestierte dem neuen Medium eine »Wahrheit, die kein Kupferstich erreicht«.5 Die Annahme, dass mit der Fotografie das Erzeugen eines »wahren« Abbildes von Welt möglich sei, zeigt, dass die Fotografie von Beginn an im Licht der Dokumentation gesehen wurde, sie als technisch-neutral das Geschehende abbildend verstanden wurde. Sie verlieh so dem Streben nach einer systematischen Erfassung von Welt, für die wohl kaum ein anderer Name so sehr steht wie der Alexander von Humboldts, eine Aura der Authentizität und Objektivität. Ein möglichst allumfassendes Wissen über die Welt zu sammeln – hierfür schien die Fotografie das perfekte Werkzeug zu sein. Die Welt zu entdecken – das war auch der Wunsch der Tourist_innen, die sich im 19. Jahrhundert immer zahlreia ground-breaking success, even though the light sensitivity of certain chemicals had already been understood since the early eighteenth century and the camera obscura had served as a drawing aid for artists and scientists alike, especially since the Renaissance, in their quest for an exact, lifelike image. Louis Daguerre’s (1787–1851) further development of the technique led to the eponymous daguerreotype. In 1839, the French government purchased the patent of this first significant photographic process and introduced it worldwide, as a quasi open source: a gesture that illustrates the importance afforded the new technique. Technical advances quickly followed and would quickly make the still extremely unwieldy technology increasingly usable. Exposure times, which still took eight hours for Niépce’s first photograph, could be reduced to a few seconds by the early 1840s.2 As a result, photography soon found a variety of uses and the new medium spread rapidly around the world. Contemporaneous with the invention of the daguerreotype, the English inventor and polymath, William Henry Fox Talbot (1800–1877) announced another photographic process. While daguerreotypes were one-of-a-kind, Talbot’s positive/negative process enabled the reproduction the image, an important step toward photography becoming a mass medium and in paving the way for the concomitant mass dissemination of visual information. In his book The Pencil of Nature, published in 1844, Talbot assembled various photographic studies he had made – a shelf of Chinese porcelain, a street in Paris, or a photogram of a lace fabric – and thereby granted his invention evidential status within criminology and describing its fidelity to detail vastly superior to that of words.3 COLLECTING THE WORLD Alexander von Humboldt also recognised this clear reference to a natural world understood as objective reality and wrote that the pictures “have wholly the inimitable character of nature, which nature itself alone has been able to imprint”.4 He affirmed that the new medium possessed a “truth that no copperplate engraving can rival”.5 The assumption that photography enabled the creation of a ‘true’ image of the world shows that from the very outset, photography was seen in the light of documentation and, furthermore, was understood as a technically neutral medium, faithfully depicting what was happening at any given time. Thus, it lent an aura of authenticity and objectivity to the aspiration for a systematic charting of the world, for which the name Alexander von Humboldt is almost exclusively synonymous. In the quest to gather the most exhaustive knowledge possible about the world, photography seemed to be the perfect tool.

12 cher von Europa aus in alle Welt aufmachten. Reisen, die zuvor vor allem männlichen Adligen möglich waren und im 18. Jahrhundert allmählich auch dem sich herausbildenden Bürgertum, das in der Bildungsreise im Sinne der Aufklärung »Welt- und Menschenkenntnis«6 zu erwerben strebte, wurden spätestens im Jahr 1841, als Thomas Cook in England die erste Pauschalreise anbot, für eine breitere Bevölkerungsschicht möglich. Rasch entwickelte sich eine Industrie, und bald bot Thomas Cook Reisen nach ganz Europa und 1872/73 die erste Weltreise an. Auch Japan stand auf dem detailliert ausgearbeiteten Reiseplan – inklusive Besuchen in Fotoateliers.7 Dass die Stopps in Fotoateliers eingeplant waren, zeigt, welche Bedeutung der Fotografie als Erinnerung, als essenzieller Teil einer jeden Reise schon damals beigemessen wurde. DIE WELT VERMESSEN Doch nicht nur auf Forschungsreisen und touristischen Reisen, sondern auch auf europäischen und US-amerikanischen militärischen Expeditionen waren Fotografen nun immer dabei und fotografierten das, was zuvor nur in Worten, Zeichnungen oder mithilfe druckgrafischer Verfahren festgehalten und verbreitet werden konnte. Von einer erstaunlichen zeitlichen Überschneidung zwischen der Entwicklung der Fotografie und dem Aufbau kolonialer Strukturen spricht der Frankfurter Ethnologe Hans Peter Hahn.8 Diese Feststellung verweist darauf, dass es nicht nur das forschende und touristische Sammeln von Wissen und Erinnerungen war, das durch die Fotografie gestärkt wurde, sondern dass die Fotografie das Vermessen, Kartieren und buchstäbliche Ergreifen der Welt ermöglichte – ein Unterfangen, das zutiefst imperialistische Züge trägt. Auch auf jenen Kriegsschiffen der US-Marine unter Commodore Matthew Calbraith Perry (1794–1858), die 1854 Japans Öffnung für den Handel erzwangen, war mit Eliphalet M. Brown Jr. (1816–1886) ein Fotograf mit an Bord und lieferte dem Westen die wahrscheinlich ersten Fotografien Japans.9 Vor diesem Hintergrund ist auch ein Blick auf das Leben des Fotografen Felice Beatos (1832–1909), von dem einige Fotografien in der Ausstellung stammen (vgl. S. 82, Abb. 16– 18; S. 85, Abb. 23–24), aufschlussreich. Als einer der ersten ausländischen Fotografen unterhielt er von 1862/63 bis 187710 in Yokohama ein florierendes Fotostudio. Heute wird sein Name hauptsächlich mit zarten, fast malerischen Bildern von Japan assoziiert, mit Genreszenen, die umfassend das Leben der Menschen in Japan in den 1860er und 1870er Jahren darstellen. Doch bevor er nach Japan ging, war Beato einer der ersten Kriegsfotografen, fotografierte von 1855 bis 1856 den Krimkrieg11 und dokumentierte 1857 in Indien den Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft. Er folgte dem britischen Militär auf seinem Weg der Kolonialisierung Discovering the world was also the ardent desire of tourists, who set forth from Europe during the nineteenth century in ever increasing numbers to explore the world. Foreign travel, which had previously largely been the preserve of male aristocrats and, in the eighteenth century, gradually as well for the emerging bourgeoisie, which strove to acquire “knowledge of the world and its people”6 through educational travel in the spirit of the Enlightenment, also became viable for a broader section of the populace in 1841 by the latest, when Thomas Cook offered the first package tour in England. An industry quickly took off and soon Thomas Cook was offering trips all over Europe followed by the first world tour in 1872/73. Japan was also on the detailed itinerary – including visits to photographic studios.7 The fact that these visits to the studios were scheduled illustrates the importance that photography already enjoyed as a mode of remembrance, a souvenir no less, and as an essential component of any trip. SURVEYING THE WORLD However, photographers were now not only present on research trips and tourist excursions, but also on European and U.S. military expeditions, photographing what could previously only be recorded and disseminated in words, drawings or with the help of printmaking processes. The Frankfurt ethnologist Hans Peter Hahn speaks of an astonishing temporal overlap between the development of photography and the establishment of colonial structures.8 This observation points to the fact that it was not only the exploratory and touristic gathering of knowledge and memories that was underpinned by photography, but also that photography actually facilitated the surveying, mapping and literal assimilation of the world – an endeavour imbued with a profoundly imperialistic mindset. Indeed, even the U.S. Navy warships under the command of Commodore Matthew Calbraith Perry (1794–1858) that were instrumental in coercing Japan to open up to trade in 1854, had a photographer on board, namely Eliphalet M. Brown Jr. (1816–1886), who provided the West with what were probably the first photographs of Japan.9 Against this background, an appraisal of the life of the photographer Felice Beato (1832–1909), from whom several photographs in the exhibition originate (cf. p. 82, fig. 16–18; p. 85, fig. 23–24), is also worthwhile. One of the first foreign photographers, he maintained a flourishing photographic studio in Yokohama from 1862/63 until 1877.10 Today, his name is associated mainly with delicate, almost painterly images of Japan, with genre scenes that comprehensively depict the lives and milieu of the Japanese during the 1860s and 1870s. However, before going to Japan, Beato was one of the first war photographers, taking pictures of events in the Crimean War11 from 1855 until 1856 and documenting the uprising

13 durch Asien und dokumentierte, vermittelte und prägte in seinen Fotografien, mit denen er wirtschaftlich äußerst erfolgreich war, das damalige Weltgeschehen aus europäischer und kolonialer Sicht.12 Es ist dieser Blick, der sich auch in seiner – zwar nicht streng wissenschaftlichen, jedoch systematischen – Erfassung von Transportmitteln, Berufsgruppen, Bräuchen in Japan widerspiegelt. Auch wenn die Kompositionen, Motive und die Farbgestaltung die Ästhetik der in Europa bekannten und beliebten Holzschnitte teilweise aufgreifen und sich die Fotografien damit dem Dokumentarischen zu entziehen scheinen, so ist es doch eine Art visuelle Enzyklopädie Japans, die Beato schuf. Seine Fotografien von Japan können sicherlich nicht als direkt imperialistisch bezeichnet werden, gleichwohl setzten sie Standards in der fotografischen Darstellung des Landes, denen ein exotisierender, von europäischen Vorstellungen geprägter Blick zugrunde liegt. Es ist ein Blick, der sich in den Fotografien seiner Nachfolger fortsetzte und immer wieder reproduziert wurde. ERINNERUNGEN SCHAFFEN Wenn wir diese Ausstellung nun »Erinnerungen schaffen« nennen, so ist damit auch immer impliziert, dass Erinnern ein aktiver, gestaltender Prozess ist – und das Fotografieren nicht einfach ein Festhalten des Gesehenen, des Geschehenen ist, sondern Vorstellungen aktiv produziert. So zeigt sich in den ausgestellten Fotografien, dass der sich entwickelnde Tourismus, die Erfindung der Fotografie und der Imperialismus des 19. Jahrhunderts engstens miteinander verflochten sind und dass die Fotografie als Technik und damit auch die Fotografien als ihr Produkt immer kritisch in ihrer Entstehungszeit und ihrem Entstehungskontext verstanden werden müssen. Massenhaft wurden Fotografien, wie die hier gezeigten, durch westliche Reisende verbreitet, die auszogen, die »Welt zu entdecken«: Sie brachten Bilder eines »fremden, exotischen Landes« mit. Bilder im doppelten Wortsinn: Fotografien und Vorstellungsbilder. Oder anders gesagt: Fotografien von Vorstellungsbildern. Es ist ein Bild von Japan, das bis heute fortbesteht. Reisewerbungen oder hochmoderne Sushi-Restaurants: Alle werden mit Bildern, deren Farben, Kompositionen und Motiven jenen hier ähneln, beworben. Und, ach übrigens, auch das Bild, das anfänglich beschrieben wurde, finden Sie weder in der Ausstellung noch in der Ethnologischen Sammlung. Es ist von iStock, Ergebnis der Google-Suche »Japan Foto«. against British colonial rule in India in 1857. He followed the British Army throughout its mission to colonise Asia and in his photographs, with which he was extremely successful commercially, documented, communicated and shaped world events at the time from a European and colonial perspective.12 It is this view that is also reflected in his – not strictly-speaking scientific, but systematic – recording of the means of transportation, occupational groups and customs in Japan. Even if the compositions, motifs and tonal palettes partially adopt the aesthetics of Japanese woodcuts known and popular in Europe, and thus seem to diverge from the documentary, Beato effectively created a kind of visual encyclopaedia of Japan. His photographs of Japan certainly cannot be described as directly imperialistic, but they nevertheless set standards in the photographic representation of the country and which are predicated upon an exoticising perspective influenced by European ideas. Indeed, this perspective was perpetuated and reproduced over and over again in the photographs of his successors. CREATING MEMORIES When we call this exhibition “Creating Memories,” then there is always the implicit suggestion that remembering is an active, formative process – and that photography is not simply an authentic record of what we have seen, of what has happened, but actively produces a vision or an imagined idea. Thus, the photographs on display in the exhibition show that the developing tourism, the invention of photography and nineteenth-century imperialism are closely intertwined, and that photography as a technique, and thus photographs as the outcome, must always be understood and evaluated critically in terms of the time and context in which they were made. Photographs, such as the ones shown here, were disseminated en masse by Western travellers who set out to “discover the world”: they brought back images of a “foreign, exotic land”. Images in a double sense of the word: photographs and imagined ideas. Or put in a different way: photographs of imagined ideas. It is an image of Japan that persists to this day. Travel advertisements or ultra-modern sushi restaurants: all are advertised with images, the colours, compositions and motifs of which echoing those arrayed here. And, oh by the way, you won’t find the image described at the outset in the exhibition, nor in the Ethnological Collection. It is from iStock by Getty Images, the result of a Google search for “Japan photo”. 1 Zitiert nach Baier 1975, S. 116. 2 Vgl. Taschen 2005, S. 42. 3 Vgl. ebd., S. 90–93. 4 Zitiert nach Baier 1975, S. 116. 5 Schwarz 2009, S. 12. 6 Habinger 2021, S. 33. 7 Scheutz 2018, S. 144–148. 8 Vgl. Hahn 2018, S. 89. 9 Vgl. Bennett 2006, S. 26–28. 10 Vgl. Philipp 1991, S. 7. 11 Vgl. Ritchin 2010, S. 120. 12 Vgl. Lacoste 2010, S. 5. 1 Quoted from Baier 1975, p. 116. 2 Cf. Taschen 2005, p. 42. 3 Cf. ebd., p. 90–93. 4 Quoted from Baier 1975, p. 116. 5 Alexander von Humboldt in a letter to Carl Gustav Carus, Berlin, 25 February 1839, in: Schwarz 2009, p. 12. 6 Habinger 2021, S. 33. 7 Scheutz 2018, S. 144–148. 8 Cf. Hahn 2018, p. 89. 9 Cf. Bennett 2006, p. 26–28. 10 Cf. Philipp 1991, p. 7. 11 Cf. Ritchin 2010, p. 120. 12 Cf. Lacoste 2010, p. 5.

JAPAN- SEHNSUCHT UND WUNSCHVORSTELLUNGEN im Spiegel der Fotografie Judith Knippschild A LONGING FOR JAPAN AND WISHFUL THINKING in the Mirror of Photography

38 Japan – Land der Tempel und Teehäuser, Land der schönen Geishas und mutigen Samurai. Seit in Europa die Existenz Japans bekannt war, wurde der Inselstaat zu einem Ort der Sehnsucht und Exotik stilisiert. Schon mit Marco Polo (1254–1324), der das Land nie betreten hatte und es nur aus chinesischen und mongolischen Erzählungen kannte, entflammte die Imagination seiner europäischen Landsleute.1 Dabei eignete sich der Inselstaat durch seine geografische Lage in besonderer Weise zur Heraufbeschwörung dieses idealisierten Vorstellungsbildes. Japan lag von der eigenen Heimat aus gesehen am anderen Ende der Welt, war von Wasser umgeben und dadurch vom Festland isoliert. Wo, wenn nicht dort, lebten die Menschen noch fernab von der westlichen Modernisierung, im Einklang mit der Natur und mit ihren jahrhundertealten Traditionen? Angesichts der industriellen Revolution, der Mechanisierung und Verstädterung, die das Leben im 19. Jahrhundert rasant veränderten, sehnten sich viele Menschen nach einer friedvollen, einfacheren und idyllischen Welt. Japan wurde zu einem imaginären Zufluchtsort vor der Realität, in welchen die eigenen Wünsche projiziert werden konnten. Oscar Wilde (1854–1900) kommentierte die in Europa allgegenwärtige Japanbegeisterung und das damit einhergehende Vorstellungsbild als »reine Erfindung«. »Die wirklichen Menschen in Japan gleichen dem Durchschnittstyp der Engländer; was nichts anderes heißt, als das sie äußerst trivial sind und nichts Bemerkenswertes oder Außergewöhnliches an sich haben. Eigentlich ist das ganze Japan eine reine Erfindung. Es gibt kein solches Land, keine solchen Menschen.«² Doch wie genau sah das imaginierte Japan-Bild aus? Die kunstvollen Fotografien, die der Ausstellung zugrunde liegen, nehmen uns mit in die romantisierte Vorstellungswelt. Sie offenbaren, wie japanbegeisterte Europäer_innen das Leben im fernen Inselstaat sehen wollten, denn von Beginn an waren die Lichtbilder vieler Fotoateliers gezielt für ein euroamerikanisches Publikum angefertigt worden. Einerseits spiegelten sie die vorhandenen Japan-Klischees der Adressat_innen wider, anderseits potenzierten sie das Sehnsuchtsbild, da sie allgegenwärtig waren. Seit den späten 1860er Jahren erfreuten sich die Souvenir-Fotografien in Europa immer größerer Beliebtheit und wurden zu einem wichtigen Exportartikel. Vielbeachtete Reiseschriftsteller_innen, u.a. Aimé Hubert (1819–1900) und Curt Netto (1847–1909), verwendeten die Lichtbilder zur Illustration ihrer Texte.3 In den 1920er/1930er Jahren druckten deutsche illustrierte Zeitschriften Japan-Fotografien bereits zu Millionen ab.4 Es verwundert nicht, dass die Lichtbilder ein Must-have für europäische Tourist_innen waren. Schließlich verlangten die Japan-Reisenden nach materiellen Andenken an die kostspielige Unternehmung, die sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung leisten konnte. Die Vorzüge, welche die Fotografien boten, liegen auf der Hand: Sie waren klein, Japan – the land of the rising sun, temples and teahouses, beautiful geishas and courageous samurai. Ever since the existence of Japan entered European consciousness, this island nation has been stylised as a place of longing and exoticism. Along with Marco Polo (1254–1324), who never set foot in the country and was only aware of it via received Chinese and Mongolian stories, the imaginations of his European compatriots were veritably kindled.1 The island nation’s geographical location made it particularly suitable for invoking this idealised image. Viewed from European homelands, Japan was remote, situated at the other end of the world, surrounded by water and thus isolated from the mainland. Where else, if not there, did people still live – far-flung from Western modernisation – in harmony with nature and with their centuries-old traditions? In the wake of the Industrial Revolution, mechanisation and urbanisation, which rapidly transformed living conditions in the nineteenth century in the West, many people longed for a peaceful, less complicated and idyllic world. Japan became an imaginary refuge from reality onto which individual desires and imaginings could be projected. Oscar Wilde (1854–1900) dubbed this seemingly endemic enthusiasm for Japan in Europe, as well as the concomitant image it conjured up in people’s minds, as “pure invention”: “The actual people who live in Japan are not unlike the general run of English people; that is to say, they are extremely commonplace, and have nothing curious or extraordinary about them [...]. In fact the whole of Japan is a pure invention. There is no such country, there are no such people.”² But what exactly did this image of Japan in people’s minds actually look like? The artistic photographs on which the exhibition is based introduce us to this romanticised, imaginary world. They reveal how those Europeans, who were enthusiastic about Japan, actually wanted to see life in this remote island state, because from the very outset, the photographs in many photographic studios were made specifically for a Euro-American audience. On the one hand, they reflected pervasive clichés regarding Japan in the minds of the addressees; on the other, they effectively amplified the image of longing, since they were omnipresent. From the late 1860s onward, souvenir photographs enjoyed increasing popularity in Europe and became a significant export item. Well-known travel writers, such as Aimé Hubert (1819–1900) and Curt Netto (1847–1909) used the photographs to illustrate their texts.3 In the 1920s and 1930s, German illustrated magazines literally printed millions of photographs of Japan.4 It is not surprising then that the photographs became a ‘must-have’ for European tourists. After all, visitors to Japan demanded material souvenirs to commemorate such an expensive undertaking, which only a fraction of the population could afford. The advantages offered by photographs are obvious: they were small, handy and therefore easy to transport, and they also visually captured fleeting impres-

39 handlich, dadurch gut zu transportieren und fixierten die flüchtigen Eindrücke auf ein visuelles Bild. Reisende hatten so eine bleibende Erinnerung, und Daheimgebliebene erhielten einen Eindruck von dem fernen Land, das sie selbst nicht sahen. Die teils kunstvoll kolorierten Fotografien konnten direkt bei der Ankunft im Hafen von Yokohama erworben werden. Bemerkenswert ist, dass die Bilder tatsächlich vor Beginn der eigentlichen Rundreise begutachtet wurden. Auf diese Weise konnten sich Tourist_innen bereits vorab einen Überblick über die Sehenswürdigkeiten verschaffen.5 Neben der Funktion als Reisesouvenir fungierten die Fotografien also auch als eine Art Reiseführer. Betrachtet man die Fotografien näher, so fällt auf, dass sie ausschließlich das »alte« Japan, wie es schon lange nicht mehr existierte, zeigen. Die Fotoaufnahmen der Samurai mussten beispielsweise nachgestellt werden, existierte der Kriegeradel zu der Zeit doch schon gar nicht mehr (S. 82, Abb.15; S. 85, Abb. 22). Spuren der Modernisierung und Verwestlichung sind äußerst selten zu finden. Lediglich einzelne Telegrafenmasten, die nicht aus den Straßenansichten wegretuschiert werden konnten, verweisen auf die Veränderungen des Landes im Zuge der Meiji-Restauration (S. 110, Abb. 1; S. 113, Abb. 8).6 Dabei hatte erst die infrastrukturelle Erschließung Japans den modernen Tourismus ermöglicht. Dampfschiffe der großen Reedereien transportierten Reisende von allerlei Destinationen zum Inselstaat. In Japan angekommen, fuhr man mit der Eisenbahn bequem und schnell zu den beliebten Sehenswürdigkeiten; die Nachtruhe erfolgte in nach westlichem Vorbild errichteten Hotels. Die Welt des Tourismus, also die eigene Realität, wurde jedoch nicht in das Themenrepertoire der Souvenir-Fotografien aufgenommen. Ebenso wenig wie aktuelle Ereignisse und Missstände im Land. Stattdessen wurden zeitlose und friedvolle Szenerien konstruiert. Wohl wichtigstes Moment der so entstandenen Bilder war die Darstellung der Frau. Abgelichtet wurden vornehmlich junge, attraktive Japanerinnen im traditionellen Gewand; Alter und körperliche Makel wurden negiert. Augenfällig spiegeln die Darstellungen die subjektive Sichtweise der männlichen Reisenden, ihre Fantasien und Sehnsüchte wider: Im westlichen Vorstellungbild von Japan spielte das Motiv der Geisha eine zentrale Rolle. Sie wurde in Europa als Japanerin per se wahrgenommen und mit Attributen wie Weiblichkeit, Erotik, Gefügigkeit, Rechtlosigkeit und Unterwürfigkeit bedacht. Sie wurde aber auch mit Künstlertum, Schönheit, Galanterie, Kultiviertheit und Modebewusstsein in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zu der eigenen Wirklichkeit, in der Frauen immer aktiver in der Öffentlichkeit auftraten, politische Mitbestimmung, das Recht auf Erwerbstätigkeit und die Teilnahme an Wahlen einforderten, sah man in der Japanerin eine Bewahrerin des traditionellen Rollenbildes. sions. For their part, visitors thus retained an enduring memory, whereas those at home received an impression of this distant land that they themselves had not had the pleasure of seeing first hand. The photographs, some of which were artistically coloured, could be purchased directly upon arrival at the port of Yokohama. It is remarkable that the pictures were actually studied by visitors before the actual round trip began. Thus, tourists were able to gain an overview of the sights in advance of their visit.5 In addition to their role as souvenirs, the photographs also functioned as a kind of travel guide. If one takes a closer look at the photographs, it is noticeable that they more or less exclusively tend to depict an ‘old’ Japan that had long since ceased to exist. The photographs of samurai, for example, had to be recreated, since this noble warrior clan no longer existed at the time (p. 82, fig. 15; p. 85, fig. 22). Traces of modernisation and westernisation are extremely rare. The odd telegraph pole here and there, which could not be retouched from street views, for example, was indicative of the changes that had taken place in the country during the Meiji Restoration (p. 110, fig. 1; p. 113, fig. 8).6 Ironically, it was Japan’s very infrastructural development that had made modern tourism possible in the first place. Steamships of the major shipping lines transported visitors from myriad destinations to Japan. Upon arrival on the islands, they travelled swiftly and comfortably by train to the popular sights; they sojourned in hotels built specifically in keeping with Western expectations. However, the actual world of tourism – i.e., the reality tourists experienced on a daily basis – was not represented in the motivic repertoire of souvenir photographs. Neither were current events nor grievances in the country. Instead, timeless, serene, harmonious scenarios were constructed and purveyed. The salient aspect of the photographs produced under this aegis was undoubtedly the depiction of women. The subjects of the photographs were primarily young, attractive Japanese women in traditional costume; older women and physical imperfections were strictly ruled out. Strikingly, the depictions reflect the subjective view of male visitors – their fantasies and yearnings: in the Western image of Japan, the motif of the geisha played a central role. In Europe, geishas were perceived as quintessentially Japanese and endowed with attributes, such as femininity, eroticism, compliance, licence and submissiveness. But geishas were also associated with artistry, beauty, gallantry, sophistication and a decided fashion consciousness. In contrast to the visitor’s reality at home, in which women were increasingly active in the public sphere, demanding political participation, the right to gainful employment and universal suffrage, Japanese women were seen as custodians of the traditional female role model.

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41 Aus diesem Grund zeigen zahlreiche Lichtbilder Frauen bei der Ausübung einer als weiblich konnotierten Aktivität – bei der Toilette, im Bad, beim Tanz, beim Musizieren oder beim Bedienen (S. 80, Abb.11; S. 82, Abb.14; S. 85, Abb. 23, sowie im Leporello). Die Fotografien griffen einerseits die Wunschvorstellungen und andererseits bereits vorhandene Bilder auf. Schöne, stereotypisierte Frauen zierten bereits die in Europa populär gewordenen japanischen Farbholzschnitte der Ukiyo-e (Abb.1). Beliebt waren ferner Bordell-Fotografien, wo die Frau im explizit erotischen Kontext stand (S. 145, Abb. 33). Im Gegensatz zu Europa war Prostitution in Japan legal. Sie fand in prachtvollen Bauten statt; Frauen wurden hinter Gitterstäben präsentiert. Einschlägige Reiseführer priesen das Tokyoter Rotlichtviertel Yoshiwara als »besondere Sparte der Soziologie«.7 Man kann sich vorstellen, welchen Reiz der Besuch eines solchen Viertels auf Reisende ausübte. Generell lässt sich feststellen, dass die abgebildeten Japanerinnen auf ihr äußeres Erscheinungsbild reduziert wurden. Mit für das europäische Auge reizvollen Kimonos und kunstvollen Frisuren drapiert, folgten sie den Anweisungen der Fotografen, stellten Szenen des Alltags nach und befriedigten so die Schaulust der Adressat_innen (S. 74, Abb. 1; S. 75, Abb. 4; S. 79, Abb. 9). Gerne wurde dies mit der Zurschaustellung einer ethnologisch interessanten Tätigkeit verbunden. Die kolorierte Fotografie der Abbildung auf S. 74 (Abb. 1) zeigt beispielsweise einen Rikschafahrer, der mit Muskelkraft zwei mädchenhafte Lerngeishas in seinem zweirädrigen Lastenkarren transportiert. Die Rikscha war für europäische Tourist_innen das japanische Fortbewegungsmittel schlechthin, konträr zu den vertrauten europäischen Transportmitteln, und daher in unzähligen Darstellungen und Berichten wiedergegeben.8 Der in voller Pracht stehende Blauregen verleiht der Fotografie eine malerische Atmosphäre. Die Assoziation von »Frau« mit »Blüte« wurde von vielen Fotografen aufgenommen, wodurch die dargestellten Personen regelrecht verniedlicht und in letzter Konsequenz degradiert wurden (z. B. S. 78, Abb. 8; S.111, Abb. 3). Denn was klein und niedlich ist, kann erstaunen oder bezaubern, aber keineswegs bedrohen.9 Japans Bevölkerung wurde gemäß dem europäischen Diskurs gemeinhin als Naturvolk bezeichnet. Es bestand die Vorstellung, dass sie im Einklang mit ihrer Umwelt, im Wechsel der Jahreszeiten und in tiefer Verehrung der Natur lebten.10 Laut Vincent Van Gogh lebte die japanische Bevölkerung gar in der Natur, als seien sie Blumen.11 Das Vorstellungsbild wird bei Betrachtung der Fotografien deutlich, die den Irisgarten in Horikiri in Tokyo ablichten (S. 111, Abb. 3–4). Meisterlich wurde hier das Blütenmeer der Schwertlilien mit zarten Pastelltönen koloriert und dadurch akzentuiert. Farbe erhielten ebenso die in Kimonos gekleideten Kellnerinnen des Teehauses. Einerseits beleben die jungen Frauen das Bild als dekorative Elemente, ande1 Torii Kiyonaga, Entertainers of the Tachibana, aus der Serie A Collection of Contemporary Beauties of the Pleasure Quarters (Tosei yuri bijin awase), 1777–1787, Farbholzschnitt, Art Institute Chicago, Clarence Buckingham Collection Torii Kiyonaga, Entertainers of the Tachibana, from the series A Collection of Contemporary Beauties of the Pleasure Quarters (Tosei yuri bijin awase), 1777–1787, colour woodblock print, Art Institute Chicago, Clarence Buckingham Collection For this reason, numerous photographs depict women performing activities heavily connoted with the feminine – in the powder room, in the bathroom, dancing, making music, or serving tea, et cetera (p. 80, fig. 11; p. 82, fig. 14; p. 85, fig. 23 as well as in the Leporello). The photographs enshrined wishful thinking on the one hand, and on the other, drew upon pre-existing images. Beautiful, stereotypical women already adorned Japanese ukiyo-e woodblock prints that had become popular in Europe (fig. 1). Photographs of brothels, where women were placed in explicitly erotic contexts (p. 145, fig. 33), were also popular. In contrast to Europe, prostitution was legal in Japan. It took place in magnificent buildings; women were presented behind bars. Relevant travel guides praised Tokyo’s red-light district – Yoshiwara – as a “special branch of sociology”.7 One can imagine the appeal that a visit to such a district must have held for western visitors. In general, it can be said that the depiction of Japanese women was reductive, focusing wholly on their external appearance. Dressed in elegant kimonos and sporting elaborate hairstyles attractive to the European eye, they followed the instructions of the photographers, recreating scenes of everyday life and thus satisfying the curiosity of the addressees (p. 74, fig. 1; p. 75, fig. 4; p. 79, fig. 9). This was often combined with the depiction of a specific activity, incurring ethnological interest. The coloured photograph in p. 74, fig. 1, for example, shows a rickshaw driver using sheer muscle power to transport two young apprentice geishas in his two-wheeled conveyance. For European tourists, the rickshaw was the Japanese means of transportation par excellence, wholly at variance with familiar modes of transportation in Europe, and therefore reproduced in countless depictions and personal reportage.8 The wisteria standing in its magisterial splendour lends the photographic setting a painterly atmosphere. The association of ‘woman’ with ‘blossom’ has been adopted by many photographers as a motif, thereby more or less trivialising and, ultimately, degrading the individuals depicted (e. g., p. 78, fig. 8; p. 111, fig. 3), inasmuch as diminutive, pretty things can amaze or charm one, but by no means pose a threat.9 According to the prevalent discourse in Europe at the time, Japan’s population was commonly referred to as a people in tune with the natural world. In the popular

LAND- SCHAFTEN LANDSCAPES

Viele Reisende, die Holzschnitte von Utagawa Hiroshige und Katsushika Hokusai kannten oder sogar sammelten, kamen mit der Erwartung nach Japan, dort entsprechende Landschaften in natura vorzufinden. Allerdings war diese Erwartungshaltung in Bezug auf ein Land, das sich rasant modernisierte, etwas unrealistisch. Die Fotografen und Kolorist_innen ihrerseits bemühten sich, mit ihren Kompositionen dem Wunsch nach lyrischen Landschaften nachzukommen. Folglich lassen sich zwischen Fotografien und Holzschnitten mit ähnlichen Motiven zahlreiche Parallelen feststellen. Zu den bevorzugten Bildgegenständen gehörten ikonische Ansichten wie die des Berges Fuji oder populäre Orte. Die Absicht war wohl, bei den Käufer_innen Erinnerungen heraufzubeschwören – an etwas, das sie entweder auf Drucken, in der Wirklichkeit oder auch nur in ihrer Fantasie gesehen hatten. Many visitors, having seen and even collected woodblock prints by Utagawa Hiroshige and Katsushika Hokusai, came to Japan expecting to see similar landscapes in the flesh, as it were. Of course, this was a somewhat unrealistic prospect in a country that was rapidly undergoing modernisation. The photographers and the colourists, in turn, did their best to satisfy this desire for lyrical landscapes when creating their compositions. As a result, a number of parallels can be drawn between the photographs and woodblock prints of similar locations. Iconic views, such as that of Mount Fuji, as well as popular locations were favoured – the intention seems to have been to strike a chord in the memory of the given buyer, of seeing something that he or she might have seen, either in prints, in reality, or in his or her imagination.

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65 1 Pilger auf dem Berg Kōya 1860–1890, handkolorierter Lichtdruck, 15,2×10,6 cm, Fotograf unbekannt, Inv. XHF/IV/0268 Das spirituelle Zentrum auf dem Berg Kōya wurde 819 gegründet und entwickelte sich zu einem bedeutenden religiösen Zentrum, das auch heute noch lebendig ist. Es wurde zu einer der heiligsten Stätten Japans und hat eine bemerkenswerte Begräbnistradition. Man findet hier Hunderttausende von Gräbern, Reihen von imposanten Bäumen und schier endlos scheinende Reihen von Steinlaternen, die von Gläubigen gespendet wurden. 2 Kiefer mit Blick auf den Berg Fuji 1860–1890, handkolorierter Lichtdruck, 14,8×10,3 cm, Fotograf unbekannt, Inv. XHF/IV/0275 Dieser Fotografie vom Berg Fuji wurden dramatische Farben hinzugefügt, um die ansonsten romantische Szenerie zu nuancieren. Der Fotograf nahm das Bild aus erhöhter Position auf, von der man auf den See und die niedrigeren Erhebungen rund um den Berg herabblickt. Die Fotografie erinnert an Holzschnitte von Hiros1 Pilgrim in Mount Kōya 1860–1890, hand-painted collotype, 15.2 ×10.6 cm, photographer unknown, Inv. XHF/IV/0268 The mountain retreat at Mount Kōya was established in 819 and became a major religious centre that is still vibrant today. It has become one of the most sacred sites in Japan and boasts a remarkable mortuary tradition, as it is filled with hundreds of thousands of graves, rows of majestic trees and a seemingly endless succession of stone lanterns, the latter donated by worshipers. 2 Pine Tree with View of Mount Fuji 1860–1890, hand-painted collotype, 14.8×10.3 cm, photographer unknown, Inv. XHF/IV/0275 In this photograph of Mount Fuji, the colourist has added dramatic colours to the image, embellishing the otherwise romantic scenery. The photographer took the picture from an elevated position, looking down on the lake and the lower hills surrounding the mountain. The photograph is reminiscent of hige, der oft größere Kompositionselemente – so wie hier die Kiefer – anschnitt, um spektakuläre Ansichten zu schaffen. Die Verbindungen zwischen den beiden Medien sind den Fotostudios keineswegs entgangen. 3 Der Berg Fuji von einer Brücke aus gesehen 1860–1890, handkolorierter Lichtdruck, 10,2×14,6 cm, Fotograf unbekannt, Inv. XHF/IV/0274 Dieses Foto des Berges Fuji ist wegen seiner Komposition bemerkenswert. Obwohl es auf einer echten SchwarzWeiß-Fotografie basiert, wurden viele Details per Malerei hinzugefügt, zum Beispiel das grüne Gras auf dem Boden rechts. Der Berg wurde mit einer dramatischen weißen Wolke hervorgehoben, Herbstblätter schmücken die Szenerie, und ein romantisches Abendrot links vervollständigt das Werk der Kolorist_innen. Dieses Foto ist ein eindrucksvolles Beispiel der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Fotografen und Kolorist_innen. 4 Der Strand von Shichirigahama nahe der Insel Enoshima 1860–1890, handkolorierter Silbergelatineabzug, 21,5×26,5 cm, Fotograf unbekannt, Inv. XHF/IV/0293 Dieser berühmte Strand wurde oft auf japanischen Gemälden und Holzschnitten dargestellt. Er befindet sich nahe der Insel Enoshima, links im Bild, und des Berges Fuji in der Mitte im Hintergrund. Der Strand heißt Shichirigahama und ist bis heute ein beliebtes Ziel. Das war schon so zur Entstehungszeit des Fotos, da er, unweit von Kamakura gelegen, von Yokohama aus in kurzer Zeit zu erreichen war. 5 Adolfo Farsari Kamakura Bund 1880er Jahre, handkolorierter Silbergelatineabzug, 21,4×27,2 cm, Inv. XHF/IV/0294 Diese stimmungsvolle Aufnahme Adolfo Farsaris zeigt die Bucht von Kamakura mit Fischern, die in ihrem Boot in den Hafen zurückkehren. Die westlichen Einwohner_innen nannten den Ort »Bund«, in Anlehnung an Shanghais Uferpromenade. Die auffallenden Farben, die an eine Abendstimmung erinnern, sind den Kolorist_innen zuzuschreiben, da der sich verdunkelnde Horizont nicht von der Meeresoberfläche widergespiegelt wird. 6 Die Togetsu-Brücke auf der Insel Ojima in Matsushima 1860–1890, Lichtdruck, 22,2×28,8 cm, Fotograf unbekannt, Inv. XHF/IV/0303 Aus einer Serie über die berühmte Bucht von Matsushima sieht man hier die Togetsu-Brücke (»Mondüberquerung«) auf der Insel Ojima. Die Brücke gibt es bis heute; sie ist in Zinnoberrot lackiert und hat Brückenpfeiler aus Goldbronze. In dieser Serie wurden die Fotografien nicht koloriert. Das hilft dabei, sich das ursprüngliche Aussehen der anderen Fotografien in der Ausstellung vorzustellen. 7 Die Futago-Inseln in Matsushima 1860–1890, Lichtdruck, 22,2×28,8 cm, Fotograf unbekannt, Inv. XHF/IV/0304 Verschneite Ansicht der Futago-Inseln (»Zwillingsinsel«) aus einer Serie über die Bucht von Matsushima. Matsushima (»Kieferninseln«) umfasst über woodblock prints by Hiroshige, who often cropped larger compositional elements – as here with the pine tree – in order to create striking views. The connections between the two media were by no means lost on the savvy photographic studios. 3 Mount Fuji from a Bridge 1860–1890, hand-painted collotype, 10.2×14.6 cm, photographer unknown, Inv. XHF/IV/0274 This image of Mount Fuji is remarkable on account of its composition. Although based on an actual blackand-white photograph, numerous aspects have been added by paintbrush. For example, the green grass to the bottom right, the mountain was highlighted with the addition of a dramatic white cloud, autumn leaves decorate the scene and romantic sunset hues to the left complete work of the colourist. This image vividly exemplifies the fact that the photographs were collaborations between photographers and colourists. 4 Shichirigahama Beach Near Enoshima Island 1860–1890, hand-painted silver gelatine print, 21.5×26.5 cm, photographer unknown, Inv. XHF/IV/0293 This famous site has been depicted in Japanese paintings and woodblock prints many times. It is near Enoshima Island, seen to the left, and Mount Fuji in the centre of the background. The beach is called the Shichirigahama and remains a popular site, also when this photograph was taken, since the location, close by Kamakura, was a short trip from Yokohama. 5 Adolfo Farsari Kamakura Bund 1880s, hand-painted silver gelatine print, 21,4×27,2 cm, Inv. XHF/IV/0294 An evocative view taken by Adolfo Farsari of Kamakura Bay with fishermen returning to port in their boat. The local westerners named the location “Bund” after Shanghai’s waterfront area. The striking colours, suggesting an evening scene, can be credited to the work of the colourist, as the darkening horizon is not mirrored in the reflection on the surface of the ocean. 6 The Togetsu Bridge on Ojima Island in Matsushima 1860–1890, collotype, 22.2×28.8 cm, photographer unknown, Inv. XHF/IV/0303 From a series on the famous Matsushima Bay, here the Togetsu (literally “moon crossing”) Bridge on Ojima Island. The bridge is still standing; it is lacquered in vermillion and features gilt-bronze bridge posts. In this series, the photographs have not been painted and help us to imagine the original appearance of the other photographs in the exhibition. 7 Futago Island in Matsushima 1860–1890, collotype, 22.2×28.8 cm, photographer unknown, Inv. XHF/IV/0304 Snow scene with the Futago (“Twin”) Islands from a series on Matsushima Bay. Matsushima (literally “Pine Islands”) features over 250 small islands, mostly covered by pine trees. For centuries it has been celebrated as one of Japan’s three most scenic views alongside Miyajima Island and the Amanohashidate sandspit. Many famous poets, such as Matsuo Bashō (1644–1694), have written poems celebrating its beauty.

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