GRETE RING GRETE RING RING
herausgegeben von Lucy Wasensteiner und Viktoria Krieger Sandstein Verlag
GRETE RING Kunsthändlerin der Moderne
INHALT 7 Johannes Nathan Vorwort 9 Paul Smith Foreword 11 Felix Klein Grußwort 12 Lucy Wasensteiner Grete Ring. Kunsthändlerin der Moderne 22 Nadine Oberste-Hetbleck »Nein, ich glaube nicht, dass es weitere etablierte Kunsthändlerinnen gibt« Frauen im Kunstmarkt der Weimarer Republik 36 Lucy Wasensteiner, Viktoria Krieger Grete Ring, Otto Wacker und die gefälschten Van Goghs 44 Viktoria Krieger Lebendige Deutsche Kunst 1932. Ein Statement für die Moderne 56 Sigrid Bauschinger Eine vertraute Kennerin. Grete Ring, Else Lasker-Schüler und eine Expertise im Exil 62 Rahel Feilchenfeldt Grete Ring und ihr Netzwerk in der zeitgenössischen Kunstwelt 78 Jan Thomas Köhler »und suchte ich doch in Sakrow mein Paradies« Das Sacrower Sommerhaus für Grete Ring von Wilhelm Büning
94 Rahel Feilchenfeldt Grete Ring. Exil in England 106 Konrad Feilchenfeldt Geselligkeit und Beruf. Erfolgreiche und gestörte Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Ernst Barlach, mit den Kunstmuseen in Bern und Zürich und mit dem Philosophen Ernst Bloch, 1928–1949 116 Simon Elson Liebe Freundin. Grete Ring im Spiegel von Max J. Friedländers Briefen, 1939–1952 128 Lucy Wasensteiner Eine Sammlung höchster Qualität. Grete Rings private Kunstsammlung und die Schenkung an das Ashmolean Museum, Oxford 140 Konrad Feilchenfeldt Zur persönlichen Erinnerung an Grete Ring 144 Lucy Wasensteiner, Viktoria Krieger Biografie 160 Publikationen von Grete Ring Eine Auswahl 164 Autorinnen und Autoren 166 Dank 167 Bild- und Fotonachweis 168 Impressum
GRETE RING Lucy Wasensteiner Kunsthändlerin der Moderne
13 Was sind die optimalen Voraussetzungen, damit Leben und Werk von Kulturschaffenden in der öffentlichen Wahrnehmung in Erinnerung bleiben? Gibt es – abgesehen von subjektiven Fragen der Qualität – Faktoren, die das Wirken einer Person präsent halten, auch Jahrzehnte nach ihrem Tod? Mit einem kritischen Blick auf die moderne Geschichtsschreibung lässt sich diese Frage sofort bejahen. Im Idealfall ist eine Karriere lückenlos dokumentiert und das Œuvre erhalten, vielleicht in einer prominenten Privat- oder Museumssammlung. Wenn schon zu Lebzeiten Veröffentlichungen von oder zu dieser Person erscheinen, stammen diese im besten Fall aus namhaften Verlagshäusern und werden direkt von Bibliotheken im In- und Ausland erworben. Optimal ist auch ein umfangreiches, gut erhaltenes Archiv an einem zentralen Standort, welches sorgfältig gepflegt wird, vielleicht von Nachfahren der Familie oder Nachfolgerinnen von einem noch existierenden Geschäft. Es schadet auch nicht, wenn die betreffende Person über Jahre hinweg mit einem bestimmten Ort verbunden blieb und ihre Geschichte damit zum Teil der Ortsgeschichte wurde. 1 Grete Ring mit ihrem Pudel im britischen Exil, ca. 1942, Privatbesitz Schon ein kurzer Blick auf das Leben und Werk von Grete Ring (1887–1952, Abb. 1) veranschaulicht ihre bemerkenswerten Leistungen als Kunsthistorikerin und Kunsthändlerin.1 Die gebürtige Berlinerin war eine der ersten Frauen, die in Deutschland in Kunstgeschichte promovierte – ihre Doktorarbeit betreute der legendäre Kunstgeschichtsprofessor Heinrich Wölfflin an der Universität in München. Sie arbeitete für die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und für die Nationalgalerie Berlin, bevor sie 1919 auf Empfehlung von Max J. Friedländer (1867–1958) – damals zweiter Direktor der Berliner Gemäldegalerie – in den Kunstsalon Cassirer eintrat, der zu den bedeutendsten Kunsthandlungen Berlins gehörte. Ring pflegte ein breites Netzwerk in der Kunst- und Kulturszene ihrer Zeit, u. a. mit dem Maler Oskar Kokoschka, der sie um 1923 porträtierte (Abb. 2). Nach dem Selbstmord von Paul Cassirer 1926 übernahm sie gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Walter Feilchenfeldt (1894–1953) die Leitung des Unternehmens. Zu Lebzeiten erschienen ihre kunsthistorischen Aufsätze in Fachzeitschriften in ganz Europa. 1949 veröffentlichte sie eine bahnbrechende Monografie zur französischen Malerei zwischen 1400 und 1500, A Century of French Painting, die zu einem Standardwerk auf diesem Gebiet wurde.2 Doch trotz dieser beruflichen Leistungen ist Grete Ring in der Kulturszene des frühen 20. Jahrhunderts etwas in Vergessenheit geraten. Warum ist das so? Dass Ring eine Frau war, in einem von Männern dominierten Feld, hat sicherlich seinen Teil dazu beigetragen. Aber es gibt weitere Faktoren, die eine mindestens genauso große Rolle spielen. So war Grete Ring keine Künstlerin oder Sammlerin, sondern Kunsthändlerin – sie war per Definition als Vermittlerin tätig, zwischen den Hauptakteurinnen und -akteuren, die im Fokus der Kunstgeschichte standen.3 Ihre Projekte waren oft zeitlich begrenzt – Versteigerungen zum Beispiel oder kurzweilige Ausstellungen. Ihre Veröffentlichungen erschienen überwiegend in Wochen- oder Monatsschriften; vor den Jahren der Digitalisierung waren diese für die Nachwelt nur schwer zugänglich. Hinzu kommt die nicht unwesentliche Tatsache, dass Grete Ring wenig Familie hatte: Sie war Einzelkind, nie verheiratet und hatte selbst keine Kinder. Als sie 1952 im Alter von 65 Jahren starb, gab es keine Angehörigen, die sich für den Erhalt ihres Namens für die Nachwelt einsetzten.
15 Der wohl ausschlaggebende Faktor war jedoch ihr Weggang aus Deutschland. Wie so viele ihrer Generation war Ring 1938 durch die antisemitische Politik der Nationalsozialisten gezwungen worden, Berlin zu verlassen. Ende Mai 1938, im Alter von 51 Jahren, wagte sie einen Neuanfang in London. Ursprünglich war geplant, zusammen mit Walter Feilchenfeldt eine neue Kunsthandlung in der britischen Hauptstadt aufzubauen. Doch Feilchenfeldt und seine Frau Marianne Feilchenfeldt (geborene Breslauer, 1909–2001) befanden sich zum Kriegsausbruch in der Schweiz. So musste Grete Ring das Unternehmen »Paul Cassirer Limited« in einem neuen Land alleine etablieren, trotz der Schwierigkeiten einer neuen Sprache, eines fehlenden Netzwerks und der Turbulenzen des Krieges. 2 Oskar Kokoschka, Bildnis Grete Ring, um 1923, Aquarell und Zeichnung, Privatbesitz Der Umzug nach London brachte einen tiefen Einschnitt in das Leben Grete Rings. Die Verbindung zu ihrer Heimatstadt Berlin ging verloren. In diesem Moment wurde auch ihr Besitz geteilt: Der Weggang zwang sie zur Entscheidung, was sie mitnehmen oder zurücklassen sollte. 1941 musste sie wegen des Blitzkriegs ihr erstes Galeriegebäude in London verlassen; in den folgenden sechs Jahren zog sie mehrfach um. Die Spuren ihrer Arbeit verstreuten sich weiter. Dass eine so begnadete Kunsthistorikerin zu Lebzeiten nur eine einzige Monografie veröffentlichen konnte, kann sicherlich als Folge dieser örtlichen Unterbrechungen gesehen werden. Mit unserem Ausstellungsprojekt wollen wir Grete Rings Platz in der Kulturgeschichte ihrer Zeit wiederherstellen. Für die Liebermann-Villa am Wannsee hat Grete Ring eine ganz besondere Bedeutung. Der Kunstsalon Cassirer war – vor und auch nach dem Tod Paul Cassirers – einer der wichtigsten Knotenpunkte für den Verkauf von Liebermann-Werken in Berlin: Die Tätigkeiten des Kunstsalons waren maßgeblich für die öffentliche Wahrnehmung des Malers. Die Geschichte Grete Rings spiegelt auch die Geschichte der Familie Liebermann wider, vom Erfolg und Ruhm im Berlin der Weimarer Zeit über die Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime bis hin zur erzwungenen Emigration. Grete Ring war auch mit der Familie Liebermann verwandt. Sie war durch Heirat eine Nichte Max Liebermanns: Ihre Mutter Margarethe, geborene Marckwald, war die Schwester von Martha Liebermann. Grete war mit Max und Marthas Tochter Käthe zeitlebens befreundet; 1917 wurde sie Patin von deren Tochter Maria.4 Somit eröffnet Rings Geschichte eine weitere Perspektive auf die Familien Liebermann und Marckwald sowie deren Erfahrungen in den bewegten Zeiten des frühen 20. Jahrhunderts. Mangels eines an einem Ort vereinten »Grete-Ring-Nachlasses« haben wir es uns mit diesem Projekt zur Aufgabe gemacht, einzelne Spuren zu Grete Ring zu sammeln und diese zu kontextualisieren. Durch Anfragen bei Stadt- und Landesarchiven in Deutschland, England und der Schweiz war es zum Beispiel möglich, Geburts- und Todesurkunden von Grete Ring sowie Pressemeldungen über ihre Familie und ihr frühes Leben in Berlin, Unterlagen zu ihrer Emigration 1938 und ihrer britischen Einbürgerung 1947 ausfindig zu machen. Viele dieser Materialien bilden die Grundlage für die Biografie Rings in diesem Band. Auch Hinweise zu ihrer Karriere als Kunsthistorikerin, Händlerin und Ausstellungsorganisatorin in Berlin konnten wir dank neu digitalisierter Zeitschriften, Ausstellungskatalogen und Pressematerialien rekonstruieren – das Geschäftsarchiv des Kunstsalons Cassirer wurde im Krieg weitgehend zerstört.5 Diese Materialien bilden den Ausgangspunkt für zwei Beiträge in diesem Band, die sich mit wichtigen Momenten ihrer Karriere
befassen. Das ist einerseits Rings Entdeckung der sogenannten Wacker’schen Van Gogh Fälschungen im Jahr 1928, andererseits ihre Rolle bei der Organisation der dreiteiligen Ausstellungsreihe Lebendige Deutsche Kunst. Diese Ausstellungen, die im Winter und Frühjahr 1932/33 stattfanden und im Beitrag von Viktoria Krieger untersucht werden, verdeutlichen Rings Rolle als Verfechterin der modernen Kunst. Sie stehen auch als Statement gegen die Kulturpolitik des drohenden nationalsozialistischen Regimes. 3 Marie Büning (?), Grete Ring und Arnold Büning vor dem Bungalow in Sacrow, ca. 1930, Privatbesitz
17 Nadine Oberste-Hetbleck stellt in ihrem Beitrag Rings Karriere als Kunsthändlerin in Berlin in einen größeren Zusammenhang und untersucht, wie typisch es für Frauen war, in dieser Branche tätig zu sein. Dank eines faszinierenden Zeitungsinterviews mit Ring aus dem Jahr 1928 lesen wir auch darüber, wie sie sich selbst als Frau auf dem europäischen Kunstmarkt sah. Jan Thomas Köhler beleuchtet in seinem Beitrag Rings Rolle als Mäzenin der modernen Architektur im Berlin der Weimarer Zeit – oder genauer gesagt in Sacrow, einem ländlichen Vorort der Hauptstadt (Abb. 3). Dieser Beitrag gibt einen faszinierenden Einblick in Rings Lebensweise wie auch in die Herausforderungen der Vermögenserhaltung im Exil. Mit dem Beitrag von Sigrid Bauschinger wird uns ein Beispiel präsentiert, wie die Briefe Grete Rings auch in den Archiven anderer Kulturschaffender aufbewahrt wurden. Nämlich in dem Nachlass der Dichterin und Künstlerin Else Lasker-Schüler, heute Teil der National Library of Israel in Jerusalem. Anhand eines einzigen Briefes aus dem Jahr 1929 zeigt Bauschinger auf, welchen herausragenden Ruf Grete Ring zu Lebzeiten genoss und wie ihre Unterstützung ausreichen konnte, den Lebensunterhalt einer Künstlerin im Exil zu sichern. Die wichtigste Quelle für unser Projekt bieten die Unterlagen zu Grete Ring, die sich heute im Besitz der Nachkommen von Walter Feilchenfeldt und seiner Frau Marianne befinden. Die Familie bewahrt nicht nur einen Großteil der Korrespondenz zwischen dem Ehepaar Feilchenfeldt und ihrer guten Freundin Grete Ring auf. Als Ring 1952 starb, war Walter Feilchenfeldt ihr Erbe. Die Briefe und Dokumente, die Ring während ihres 14-jährigen Exils aufbewahrt hatte, fanden so ihren Weg zur Familie Feilchenfeldt. Mit diesem Projekt können wir einen Einblick in diese bemerkenswerte Sammlung geben. Zum einen mit den Beiträgen von Rahel Feilchenfeldt, die sowohl Rings dokumentierte Künstlerfreundschaften als auch ihre lange Korrespondenz mit Marianne Feilchenfeldt und deren Erlebnisse im Krieg beleuchtet, zum anderen mit dem Aufsatz von Simon Elson, der sich ausführlich mit der Freundschaft zwischen Grete Ring und dem Kunsthistoriker Max J. Friedländer beschäftigt. Weiterhin untersucht der Beitrag von Konrad Feilchenfeldt Rings Verbindungen zu dem Künstler Ernst Barlach, dem Philosophen Ernst Bloch und dem Schriftsteller Max Herrmann-Neiße. Hier ist besonders interessant, wie Rings und Feilchenfeldts Ansprüche auf Cassirer-Publikationen nach 1945 infrage gestellt wurden. Ein weiterer Beleg für die Auswirkungen von Exil und Krieg auf die Bewahrung eines Rufes. Es war auch die Entscheidung der Familie Feilchenfeldt, im Jahr 1954 die private Kunstsammlung von Grete Ring dem Ashmolean Museum in Oxford zu schenken. Damit bewahrten sie nicht nur Rings eigene kunsthistorische Interessen – sie machten das Museum zur Basis für weitere Materialien zu Grete Ring. Als die Nachricht der Schenkung bekannt wurde, veranlasste dies einen weiteren Freund Rings dazu, seine Korrespondenz mit ihr dem Ashmolean zu schenken – den in Deutschland geborenen Kunsthistoriker Julius Held, der seit 1934 im amerikanischen Exil lebte. Ein weiterer Beitrag in diesem Band untersucht die Bedeutung der Ring-Sammlung in Oxford. Ausschnitte aus den Briefen mit Julius Held werden im Rahmen der Biografie Rings in diesem Band zitiert. Unser Katalog schließt mit einem zweiten Text von Konrad Feilchenfeldt, in dem er seine persönlichen Erinnerungen an Grete Ring formuliert hat. Gestützt werden diese durch die Erinnerungen seiner Mutter Marianne Feilchenfeldt, die innerhalb der Familie überliefert und 1997 und 2009 teils veröffentlicht wurden.6
DIE GEFÄLSCHTEN VAN GOGHS Grete Ring, Otto Wacker und Lucy Wasensteiner, Viktoria Krieger
37 N »Ein jugendlicher Tänzer, Olindo Lowaël, alias Otto Wacker, Sohn eines Düsseldorfer Malers, taucht eines Tages im Gesichtskreis des Berliner Kunsthandels auf. Zunächst – man schreibt etwa 1922 – offeriert er dem kleineren Handel vergleichsweise bescheidene Objekte, Arbeiten der holländischen und Düsseldorfer Schule [...] Trotz günstiger Expertisierung einer Reihe der Stücke [...] ist man mißtrauisch, die Bilder werden großenteils als bedenklich abgelehnt.« 1 Leo Rosenthal, Prozess gegen den Kunstmaler Otto Wacker, die gefälschten Werke als Beweismittel, 1932, Landesarchiv Berlin So begann Grete Ring ihren Bericht über »Den Fall Wacker«, einer der größten Kunstfälschungsskandale des frühen 20. Jahrhunderts. Ring war in den Fall maßgeblich involviert – ihre Ausführungen erschienen im Jahr 1932 in der renommierten Berliner Zeitschrift Kunst und Künstler.1 Sie führte weiter aus:2 »Ende 1925/26 erscheint W. [Wacker] plötzlich mit einer Anzahl von Bildern Vincent van Goghs, die er, eines nach dem anderen, im Berliner Handel absetzt. Im Anfang noch ein wenig ›à côté‹ bleibend, dringen die Bilder bald in die angesehensten Häuser des Handels mit französischen Impressionisten.« Bei seinen Expertisen wurde Wacker von dem holländischen Van Gogh-Experten Jacob-Baart de la Faille unterstützt, der gerade ein Werkverzeichnis zu Van Gogh fertiggestellt hatte.3 Ab November 1927 organisierte Wacker eine eigene Ausstellung mit Zeichnungen und Aquarellen Van Goghs in Räumlichkeiten in der Viktoriastraße 12, Berlin, mitten im Berliner Galerienviertel und nur wenige Meter vom Kunstsalon Cassirer entfernt. Die Kunstwelt war beeindruckt. So schrieb Grete Ring weiter:4 »Damals herrscht, gerade in Deutschland, ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Bildern van Goghs, das sich aus dem bekannten Material nicht befriedigen ließ; die merkwürdige Verteilung des van Goghschen Bilderbestandes – in großen Mengen in einigen wenigen Händen festgelegt – ließ nur vereinzelt verkäufliche Stücke auftauchen [...] die wenig greifbaren, einwandfreien und zugleich charakteristischen Beispiele [...] wurden zu Preisen angeboten, die der deutsche Sammler nicht anzulegen bereit oder imstande war.« Und so entschieden sich Ring und ihr Geschäftspartner Walter Feilchenfeldt, ebenfalls eine Ausstellung Van Goghs zu organisieren, die am 15. Januar 1928 eröffnen sollte. Im Katalog5 wurden 92 Gemälde aufgeführt: Etwa die Hälfte stammte aus dem Besitz von Van Goghs Schwägerin Johanna und ihrem Sohn Vincent Willem;6 weitere aus prominenten Privatsammlungen, u. a. aus Berlin, Dresden, Luzern und New York. Die sechs übrigen Werke kamen aus dem Besitz Otto Wackers; aufgeführt im Katalog als Barken bei Saintes-Maries, Selbstbildnis mit verbundenem Ohr, Der Zouave, Mühlen bei Mondaufgang, Der Sämann (Abb. 3) und Die Zypressen.7 Als die Wacker-Bilder im Kunstsalon Cassirer eintrafen, standen Ring und Feilchenfeldt kurz vor ihrer Ausstellungseröffnung; die weiteren Leihgaben hingen schon an den Wänden der Galerie. Ring nahm die Lieferung entgegen und erkannte sofort, wie sie später schrieb,8 »dass die Bilder falsch sind [...] vor dem schimmernden Hintergrund der echten Bilder, die den Cassirerschen Oberlichtsaal füllen, stehen [die Wacker-Werke] hilf- und gnadenlos wie Baumwollflicken auf einem Brokatgewand«.
2 Leonhard Wacker (?), Schnitter im Kornfeld (in der Manier von Vincent van Gogh), um 1928, Mischtechnik auf Papier, Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie
39 3 Leonhard Wacker (?), Der Sämann (in der Manier von Vincent van Gogh), um 1928, in Öl, Privatbesitz
4 Leo Rosenthal, Prozess gegen den Kunstmaler Otto Wacker, Otto Wacker stehend, im Hintergrund die gefälschten Werke als Beweismittel, 1932, Landesarchiv Berlin
5 Leo Rosenthal, Prozess gegen den Kunstmaler Otto Wacker, Experten begutachten die Beweismittel, 1932, Landesarchiv Berlin Die Bilder wiesen Ring und Feilchenfeldt sofort zurück. Nach weiteren Recherchen, so schilderte die Kunsthistorikerin, entschieden sie sich, den Fall bei der Berliner Kriminalpolizei zu melden. Auf Rückfragen zu der Provenienz der Bilder konnte Wacker nur eine vage Geschichte liefern, so Ring in ihrem Bericht:9»der Vorbesitzer ist ein Russe, der in der Schweiz lebt, den W. [Wacker] bei Gelegenheit eines seiner Tanzabende kennen lernt. Er hat W. seine Bilder, die er vor langer Zeit für ein Geringes erworben, zur alleinigen Verwertung anvertraut, W. musste sich ihm dafür mit unlöslichem Ehrenwort zum Stillschweigen verpflichten; die Bilder seien nicht auf rechtmäßigem Wege aus Rußland ausgeführt, den noch in Rußland lebenden Familienmitgliedern drohen blutige Repressalien, wenn die Sache bekannt würde [...] Bei dieser Aussage [...] bleibt W. mit bemerkenswerter Konsequenz drei Jahre hindurch.« Viel wahrscheinlicher schien es, dass Wacker – oder sein Bruder Leonhard, der selbst Maler war – die Van Gogh-Bilder gefälscht hatte. So wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Otto Wacker eingeleitet, das sich schließlich über vier Jahren erstreckte und fast von Anfang an von der nationalen und internationalen Presse mit großem Interesse
GRETE RING UND IHR NETZWERK Rahel Feilchenfeldt in der zeitgenössischen Kunstwelt
63 Grete Ring war alter und neuer Kunst nicht nur als Kunsthistorikerin und -händlerin zugewandt, sie war auch in Ausstellungen, Gesprächen und mit ihren Feuilletons als aufmerksame, kritische und anspornende Freundin der zeitgenössischen Kunstwelt präsent. Die Briefe von und an Walter und Marianne Feilchenfeldt, aus denen hier neben anderen zitiert werden konnte, sind durch Erbschaft heute in der Familie Feilchenfeldt in Originalen oder Kopien erhalten. Weitere Schriftstücke, die Grete Ring in ihr Exil mitgenommen hat, sind ebendort bewahrt. Darin fanden sich einige interessante frühe Künstlerkontakte, die wir in Archiven ergänzen konnten und hier teilweise zum ersten Mal drucken. 1 a Neujahrspostkarte von Oskar und Olda Kokoschka an Grete Ring, 1948/49, mit Porträtfotografie von Oskar und Olda Kokoschka bei der Biennale Venedig 1948, Privatbesitz Emil Nolde 1913 Der früheste Fund aus diesem Material stammt vom 46-jährigen Emil Nolde (1867–1956) und ist an die damals 26-jährige Kunsthistorikerin gerichtet. Er datiert vom 30. Januar 1913 (Abb. 2): »Tauentzienstr. 8 [...] Sehr geehrtes gnädiges Fräulein, Wenn es Ihnen möglich sein wird, wäre es mir angenehm Sie u. Ihre Collegen Nachmittags ca ½4 Uhr zu erwarten. Mir wäre der kommende Sonnabend passend, sollten Sie aber da nicht können, erwarte ich Sie gern am Montag. Es wird mich freuen Sie u. auch Ihre Collegen hier zu sehen. Hochachtungsvoll Ihr sehr ergebener Emil Nolde«1 Was der Grund dieses offensichtlich von Grete Ring angeregten Besuchs mit ihren »Collegen« bei Nolde war, ist nicht geklärt. Der Maler befand sich damals in einer künstlerischen und finanziellen Krise. Er stellte 1906 Erntetag in der Secession aus, war dort Mitglied seit 1908, aber sein Grosses Abendmahl, das 1909 entstand, wurde für die Ausstellung im Jahr 1910 abgelehnt; der Fall endete mit Noldes Ausscheiden aus der Secession. Mit diesem Schritt suchte sich der Künstler allen Gruppierungen zu entziehen. Er wurde jedoch noch weiter umworben, zum Beispiel von der seit 1910 im Entstehen begriffenen Neuen Secession.2 Möglicherweise bezieht sich der vorliegende Brief auf das in Noldes Autobiografie überlieferte Angebot der Firma Paul Cassirer, dem Künstler Ausstellungsräume zur Verfügung zu stellen. »Es kam auch Paul Cassirer durch Mittelsperson mir seine sämtlichen Räume zur Ausstellung anbietend. Meine Antwort war Nein.«3 Jedenfalls arbeitete die frisch promovierte Grete Ring bereits damals, zumindest zeitweise, auch in der Galerie Paul Cassirer. Vielleicht war sie sogar die »Mittelsperson«? Die Frage bleibt offen. Interessant ist die Tatsache, dass Ring ihr Leben lang diesen Brief aufbewahrt hat und sogar mit ins Exil nahm – trotz Noldes späterer Sympathie für die Kulturpolitik des »Dritten Reichs«, die Ring vielleicht schon früh kommen sah. In der dreiteiligen, vom Herbst 1932 bis Frühling 1933 ausgerichteten Ausstellung Lebendige Deutsche Kunst zum Beispiel, die in Zusammenarbeit mit dem Galeristen Alfred Flechtheim als frühe
Reaktion auf das Kunstverständnis der Nationalsozialisten veranstaltet wurde,4 fällt die Abwesenheit Noldes ins Auge. Ob das eine Entscheidung Rings war, oder eine von Nolde selbst, bleibt unklar. Erhaltene Unterlagen aus der Nolde Stiftung Seebüll beweisen jedoch die gescheiterten Versuche des Bildhauers Herbert Garbe, Nolde, den er sehr verehrte, für die Ausstellung zu gewinnen.5 Wie Grete Ring in dem Ausstellungskatalog schrieb, »Nicht alles, was lebt, ist lebendig, und nicht alles was vergangen, ist tot.«6 2 Emil Nolde, Brief an Grete Ring, 30. 1. 1913, Privatbesitz Erich Heckel und James Ensor 1918 Einen weiteren Künstlerbrief vom 30. September 1918, wenige Wochen vor Ende des Ersten Weltkriegs, hat Grete Ring ebenfalls behalten. Er stammt vom Brücke-Mitglied Erich Heckel (1883–1970, Abb. 3): »Sehr geehrtes Fräulein Dr Ring anbei die Photos. Ensor entschloss sich schwer dazu. Sie möchten ja nicht erwähnen, dass Sie Photos mit seiner Einwilligung bringen. Ferner möchte er die Photos zurück haben, da er keine Abzüge weiter hat. Ich fahre morgen auf Urlaub. Ende Oktob. – Anfang November komme ich voraussichtlich zurück. Bis dahin werden die Cliche’s wohl fertig sein und Sie senden bitte die Photos dann an meine Adresse hier. Mit bestem Gruss 30. 9. 18. Erich Heckel Krankenhausstelle 255 D. F. P. T2«7
65 Dem Maler Heckel, der ab 1914 Sanitätssoldat in Belgien war und dort im Kreis des Kunsthistorikers Dr. Walter Kaesbach von James Ensor hörte, bot sich durch Kaesbach, den Leiter des Sanitätskorps, auch die Gelegenheit, mit dem in Ostende lebenden Künstler in näheren Kontakt zu treten. Auch vom Sanitätssoldaten Max Beckmann ist aus diesem Kreis ein Treffen mit Ensor überliefert.8 Kaesbach hatte den belgisch-englischen Maler James Ensor aus einem Internierungslager befreit und ihm ermöglicht, wieder in sein Familienhaus nach Ostende und zu seiner Arbeit zurückzukehren. Er versuchte, auch in Deutschland Interesse für Ensors Bilder zu wecken.9 3 Erich Heckel, Brief an Grete Ring, 30. 9. 1918, Privatbesitz Heckel stand Grete Ring zur Seite, als sie Hilfe für die Bebilderung ihres Textes über Ensors Bilder in Der Belfried suchte. Diese deutsch-flämische Kulturzeitschrift wurde im Kriegsjahr 1916 von Anton Kippenberg, dem Verleger des Insel Verlags Leipzig, gegründet und im ersten Jahr ihres Erscheinens vom Münchner Intellektuellen Wilhelm Hausenstein geleitet (Abb. 4).10 Auch er setzte sich in Deutschland für Ensors Bilder ein. Grete Ring veröffentlichte 1918 im Belfried zwei Texte, davon einen über James Ensor.11 Sie war während ihrer durch den Krieg bedingten Mitarbeit deutscher Kunsthistoriker an der Sicherung belgischer Kunstschätze vor eventuellen Kriegsschäden beteiligt.12 So kam es, dass ihr die Fotos für die Bebilderung ihres Textes über einige Bilder Ensors für
Belfried trotz eines gewissen Zögerns des Künstlers zur Verfügung standen. Durch diese in flämischen und deutschen Kunstkreisen schnell verbreitete Zeitschrift war Ensor trotz Krieg und Nachkriegszeit ein interessantes Thema geworden, auch für das deutsche Publikum. 4 Der Belfried. Eine Monatsschrift für Gegenwart und Geschichte der belgischen Lande, Jg. 3, Heft 6, 1918, Privatbesitz Max Slevogt Max Slevogt (1868–1932) gehörte mit Max Liebermann und Lovis Corinth für Bruno und Paul Cassirer von ihrer Firmengründung im Jahr 1898 an zu den wichtigsten deutschen Künstlern der Galerie. Die Verbindung blieb über Jahrzehnte unverändert bestehen, auch nach der geschäftlichen Trennung der Cassirer-Vettern im Jahr 1901 und nachdem Ring 1919 mit in das Geschäft eingestiegen war. Von Slevogt begleitete Grete Ring eine Postkarte von 1930 in die Emigration nach London. Diese einfache Karte wurde von Slevogt auf der einen Seite mit Adresse und Briefmarke versehen und auf der anderen humorvoll illustriert: Sie machte ihren Weg durch Berlin ganz ohne Umschlag (Abb. 5):
67 »Unter der Last der Kataloge u. Aufmerksamkeit stoße ich nur den Ruf aus: Figdoria! Ihr M. Slevogt 8. Aug. 30«13 5 Max Slevogt, Postkarte an Grete Ring, 8.8.1930, Privatbesitz Der Ausruf »Figdoria!« bezieht sich auf die wichtige Auktion der Sammlung Dr. Albert Figdor, die 1930 durch die Firmen Paul Cassirer, Artaria und Glückselig veranstaltet worden war. Die erwähnten Kataloge sind die fünf begleitenden Referenzkataloge, die von Otto von Falke und Max J. Friedländer unter Mitwirkung von Grete Ring herausgegeben wurden. Die ganze Firma war durch diese Aufgabe für längere Zeit in Atem gehalten. Auch in Slevogts Nachlass hat sich Rings Antwort auf seine Postkarte erhalten! Der Einfall, mit dem Grete Ring auf Slevogts Illustration reagierte, erheiterte den Künstler offenbar nicht weniger als seine Botschaft die Absenderin. »BERLIN den 11. August 1930 Hochverehrter Herr Professor, haben Sie tausend Dank für Ihre gütige Danksagung, mit der Sie uns die denkbar größte Freude gemacht haben. Leider muß ich nur beschämt sagen, daß die paar Figdor Kataloge kein Äquivalent für Ihre köstliche Gabe bieten – Dazu muß noch viel von uns gehandelt werden, um den Ausgleich zu machen. Wenn ich zeichnen könnte, würde ich Ihnen
»UND SUCHTE ICH DOCH IN SAKROW MEIN PARADIES« Jan Thomas Köhler Das Sacrower Sommerhaus für Grete Ring von Wilhelm Büning
79 »Es wird wieder gebaut, nicht wenig gebaut, in Berlin! Das fällt jedem Besucher der Stadt auf, mag er nun das Stadtinnere oder die Vororte durchstreifen.«1 So konnte man es 1927 programmatisch in den Modernen Bauformen lesen. Das kleine »Sakrow« zählte man damals zweifelsohne zu den Berliner Vororten – weit entfernt von Potsdam, zu dem es heute gehört.2 Eine Autofähre zum Krughorn verkürzte den Weg nach Berlin enorm. Ideale Voraussetzungen also für Berliner, sich ihren Traum von Licht, Luft und Sonne zu erfüllen. E N N 1 Rückwärtige Ansicht des Grete Ring’schen Bungalows mit Grete Ring (2. v. r.), um 1930, Privatbesitz Die Idee der Sommerfrische war nicht neu. Ab 1927 erschienen allerdings vermehrt Ratgeber zum Bau von Sommer- oder Wochenendhäusern – beide Begriffe wurden damals synonym gebraucht.3 Ein bildungsaffines bürgerliches Publikum wollte man mit Goethes Gartenhaus in Weimar als Vorbild gewinnen. Die programmatische Berliner Ausstellung Das Wochenende im April 1927 mit einem Ideenwettbewerb für Wochenendhäuser wurde grundsätzlich und durchaus kritisch diskutiert. »Die Bewegung für das Wochenende, die seit kurzem in Art einer Mode über uns gekommen ist, [...] hängt kulturgeschichtlich zusammen mit der Jugendbewegung, und es läßt sich eine gerade Linie ziehen von den ersten Steglitzer Wandervögeln bis zum komfortablen Wochenendhaus mit vier Zimmern, Küche, Bad und Wasserklosett«,4 beschrieb Alexander Schwab in der Zeitschrift Die Form die Ursprünge und merkte kritisch an, dass »diejenigen Schichten, die sich eine solche Ausgabe [...] leisten können, mit ihrem Geld meistens etwas Gescheiteres anfangen werden als sich für Wochenende und Ferien ein für alle Mal an einen bestimmten Fleck Erde zu binden, und [...] daß ein Auto, das [...] jeden Sonnabend anders wohin tragen kann, heute nicht teurer ist als ein Wochenendhaus«.5 Der Rezensent der Schweizer Bauzeitung merkte an: »Stärker als in der auch hierin konservativeren Schweiz hat in Deutschland die englische Sitte Fuss gefasst, das ›Weekend‹ in der Umgebung der Stadt [...] zu verbringen, eine Bewegung, [...] die soziologisch eine Zwischenstufe zwischen Schrebergarten und Landsitz darstellt.«6 Was Grete Ring als ihr Paradies ansah, können wir heute noch ein wenig nachfühlen dank einer Arbeit der großartigen Fotografin Marianne Breslauer,7 die Anfang der 1930er Jahre über ihren späteren Ehemann Walter Feilchenfeldt in Grete Rings engeren Kreis kam und schließlich zu einer besonderen Freundin wurde. Ihre Fotografie (Abb. 12), wo »Grete Rings wundervoller Pudel Stromian«8 im Steingarten vor den geöffneten Türen des Bungalows sitzt, transportiert etwas von der sommerlichen Leichtigkeit und Freiheit, die das Sacrower Sommerhaus für Grete Ring bedeutet haben muss. Vielleicht schwingt für den heutigen Betrachter auch etwas Wehmut mit, denn Marianne Breslauer datierte die Aufnahme auf das Jahr 1934.9 Grete Ring, deren Familie »nach dem 1. Weltkrieg das Vermögen verlor, [...] (und die deshalb) in den Kunsthandel ging«,10 verdiente 1927 offenbar so gut im Kunstsalon Cassirer, dass sie sich neben dem Aufbau ihrer Kunstsammlung, in die sie bestimmt den Großteil ihrer Einkünfte steckte, sowohl ein Automobil als auch ein Wochenendhaus leisten konnte. Warum sie gerade Sacrow wählte, wissen wir nicht. Im Sommer 1927 erwarb Grete Ring ein Grundstück am seinerzeit noch nicht mit Hausnummern versehenen Weinmeisterweg,11 auf dem sich bereits eine kleine Gartenlaube befand.12 Es war keines der großen Sacrower Doppelgrundstücke mit Uferstreifen für die Villa und landseitigem Teil für Nebengebäude. Sofort begannen die SommerhausPlanungen, für die sie den befreundeten Architekten Wilhelm Büning wählte.13
Zu den spannendsten Fragen bei einem individuell geplanten Haus gehört die nach dem Verhältnis zwischen Architekt und Bauherr. Wie kamen beide zueinander? Kannten sie sich bereits vorher? Welche Freiräume hatte der Architekt bei seinem Entwurf? Grete Ring war über die Galerie Cassirer jedenfalls ganz sicher mit den aktuellen Entwicklungen im Bereich der Avantgardearchitektur vertraut. Im Dezember 1919 präsentierte Paul Cassirer den bis dahin weitgehend unbekannten Architekten Erich Mendelsohn mit Entwürfen und Zeichnungen in seiner Ausstellung Architektur in Eisen und Beton.14 Der visionäre Charakter dieser avantgardistischen Architekturausstellung in einer Kunsthandlung wurde von der zeitgenössischen Kritik zunächst nicht erkannt, Karl Scheffler sprach sogar davon, dass man im Salon Paul Cassirer wohl die Orientierung verloren habe. Daher dürfte dieses solitäre Ereignis noch präsent gewesen sein, als Grete Ring 1921 zu Cassirer kam.15 Warum knüpfte sie nicht an diese Verbindungen an, sondern entschied sich für Wilhelm Büning? Durch Marianne Breslauer ist überliefert, Architekt und Bauherrin seien befreundet gewesen.16 Aber begann diese Freundschaft erst mit dem Projekt oder bestand sie schon vorher? Ein Hinweis auf eine bereits lange zurückreichende freundschaftliche Beziehung zu Büning findet sich in einem Brief von Grete Rings Onkel Max Liebermann, der in Weimar zusammen mit dem heute vergessenen Kunstmaler Otto Piltz studiert hatte, den er als »alten Freund«17 bezeichnete. Der bereits 1910 verstorbene Piltz hatte eine Tochter, Marie, die 1908 den Architekten Wilhelm Büning heiratete. Sie war nur vier Jahre älter als Grete Ring (vgl. Abb. 2).
Büning entstammte einer westfälischen Fabrikantenfamilie und studierte in München, Berlin und Dresden. Er legte 1906 das Dipl.-Ing.-Examen mit Auszeichnung ab und war bis 1908 Assistent an der Technischen Hochschule Dresden. Danach bereiste er längere Zeit England, Südfrankreich, Nordspanien und Italien. Ab 1914 war er Assistent, ab 1923 Professor an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums in Berlin; ab 1923 nahm er zusätzlich einen Lehrauftrag für Handwerkskunde an der Technischen Hochschule zu Charlottenburg wahr.18 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg entstanden eine Reihe qualitätvoller Wohn- und Landhäuser. Für seine durch Eduard Jobst Siedler angeregte19 Aufnahme in den Bund Deutscher Architekten 1925 mussten mindestens drei Mitglieder »Auskunft geben«.20 Für Büning waren es neben Heinrich Straumer, der in dieser Zeit »eher eine behutsame Annäherung an die Moderne«21 vertrat, Helmuth Grisebach und Joseph Tiedemann. Sie empfahlen Bünings Aufnahme als längst überfällig, da er »auch als Charakter ein ausgewiesen festgefügter Mensch von klarem Urteil und gutem Geschmack«22 sei. Seine Bauten »sowie deren innere Ausgestaltungen sprechen für einen feinsinnigen Architekten mit gutem Raumgefühl und Farbensinn«.23 2 Arnold Büning, Grete Ring und Marie Büning vor dem Bungalow, um 1930, Privatbesitz 3 Konstruktion des begehbaren Flachdaches (gezeichnet von Walter Klinkert), aus: Wilhelm Büning: Bauanatomie. Handwerklich-technische Grundlagen des Wohnbaues als Einführung in die Baukunst, Berlin 1928, S. 105 Bauherrin und Architekt müssen jedenfalls noch 1927 mit den Planungen begonnen haben, denn im Mai 1928 veröffentlichte Büning in seiner Bauanatomie einen ersten Entwurf der Dachterrasse des Hauses (Abb. 3).24 Bauakten oder Unterlagen existieren nicht mehr, sodass wir nicht wissen, ob das Haus noch im selben Jahr fertiggestellt wurde. Durch Marianne Breslauers Fotografien (Abb. 1, 4, 12) wissen wir exakt, wie der Außenbau ausgesehen hatte. Von der Straße weit abgerückt, steht das eingeschossige Sommerhaus, das mit seinem Flachdach und dem umlaufenden hölzernen Geländer noch heute äußerst modern wirkt, in den 1920er Jahren aber wie ein Fanal gewirkt haben muss. Das Haus besteht im Grunde genommen nur aus einem einzigen großen Wohnraum, der die gesamte Breite einnimmt und sich mit vier großflächig verglasten Türen fast vollständig zum Garten öffnen lässt. Ein kleines Zimmer für das Dienstmädchen, Küche und Bad bilden den rückwärtigen Funktionsteil des Hauses. Büning erschloss das Flachdach durch eine dem Schiffbau entlehnte steile, einläufige Treppenleiter als Sonnendeck (Abb. 1).
Auffallend ist die sorgfältige Ausführung vieler handwerklicher Baudetails. Ästhetisch besonders wirksam sind die plastisch aufgefassten, leicht hervorstehenden hellen Putzfugen (Abb. 5), ein »breiter Verstrich aus weißem Kalkmörtel erzeugt eine heitere, etwas auflösende Wirkung«.25 Auch die feinen Schmiedearbeiten an den Beschlägen für die Fensterläden und Schutzgitter der Fenster zeigen Bünings Bestreben, die »in der Handwerkstradition ruhenden Werte noch nicht verloren« zu geben.26 Erwähnenswert sind auch die formschönen olivenförmigen Türdrücker des Hauses, eine Erfindung Bünings, in der er die in Deutschland verbreitete Türklinke mit dem im amerikanischen Raum üblichen Türknauf-Schloss verband (Abb. 6).27 4 Marianne Breslauer, Rückwärtige Ansicht des Grete Ring’schen Bungalows, 1934, Privatbesitz Wir verfügen glücklicherweise auch über – in dieser Zeit extrem seltene – Aufnahmen des Innenraums der lange Zeit in Vergessenheit geratenen Fotografin Marta Huth (Abb. 7, 8).28 Die »geborene Münchnerin, die in übermütiger Laune so herrlich berlinerte, war eine besessene und begabte Photographin«.29 Sie war die Frau des Kunsthistorikers Hans Huth, »ein Freund auch von Grete Ring, den sie immer als ›Hütchen‹ betitelte«.30 Die zwischen 1931 und 1935 entstandenen Fotos31 zeigen »eine sehr einfache, geradezu zurückhaltende Möblierung [...] Der besondere Reiz der auf das Wesentliche beschränkten Möblierung resultiert aus dem Widerspiel der strengen Linienführung der angepass-
83 ten Einbaumöbel mit ihren glänzenden Schleiflackoberflächen und dem warmen Farbton der Steinfliesen sowie dem Backstein des Kamins.«32 Büning passte seine Einbaumöbel exakt beidseitig des verklinkerten offenen Kamins ein, links ein Bücherregal mit relativ breitem Rahmen, rechts wohl ein Bettkasten und ein schlichtes Tagesbett, das zur Raummitte hin wiederum mit einem Bücherregal abschließt. Alle Möbel sind aufgesockelt, sie werden von den Fußleisten aus Solnhofer Stein umfasst. Dieses Absetzen mittels Sockel verwendete Büning später auch bei anderen seiner Einrichtungen. Die Oberflächen sind in Schleiflack ausgeführt und vermitteln in Form und Material eine moderne schlichte Eleganz, wie sie seinerzeit von der Wiener Schule um Josef Hoffmann propagiert wurde. Hoffmanns Einrichtungen, die zwischen den modernisierten Stil- Interieurs konservativer Architekten, und den Einrichtungen der Avantgarde-Architekten standen, wurden damals in den Bauzeitschriften breit rezipiert: »Das laue, unsichere Verlangen der begüterten Lebensschicht nach einer vornehmen Behausung wird hier auf echten, edlen Charakter gebracht.«33 5 Putzfugen und Schmiedearbeiten von Wilhelm Büning am Bungalow, 2023 6 Olivenförmige TürdrückerTürschlosskombination von Wilhelm Büning, 2023 Dabei blieb Bünings Einrichtungsstil aber nicht stehen, denn auf Marta Huths Fotografien fallen besonders die Möbel des Architekten Ludwig Mies van der Rohe auf, die dieser 1927 für die Stuttgarter Weißenhofsiedlung erschaffen hatte. Mies’ Stuhlentwurf
Erfolgreiche und gestörte Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Ernst Barlach, mit den Kunstmuseen in Bern und Zürich und mit dem Philosophen Ernst Bloch, 1928 – 1949 GESELLIGKEIT UND BERUF Konrad Feilchenfeldt
107 Als Paul Cassirer, der Verleger und Kunsthändler, 1926 verstorben war, kam es in der Geschichte seiner Firma zu einem Neuanfang. Nicht nur die Geschäftsleitung musste sich neu organisieren, auch Künstler und Autoren des Hauses Cassirer mussten sich auf die neue Lage einstellen. Zwar waren Dr. Walter Feilchenfeldt und Dr. Grete Ring schon seit Anfang der 1920er Jahre bei Paul Cassirer feste Mitarbeiter und seit 1924 sogar Mitinhaber, mit dem Ausscheiden des Firmengründers standen seine Nachfolger aber vor neuen Erwartungen ihres Umfelds. Bezeichnend ist dafür die Reaktion eines so prominenten Autors und Künstlers wie Ernst Barlach (Abb. 2). Er hatte zwar das »Zutrauen, daß das Haus womöglich im alten Stil weitergeht«, gleichzeitig war er sich aber auch nicht ganz sicher: »Feilchenfeldt, den ich seit einigen Jahren kenne, ist mit Grete Ring Cassirers Fortsetzer, beides 2 Entdeckungen, auf die C[assirer] stolz war. Doch das besagt noch nichts u[nd] beweist nichts.«1 T 1 Marianne Breslauer, Grete Ring und Dr. Walter Feilchenfeldt, Januar bis Februar 1948, Privatbesitz 2 Porträt des Künstlers Ernst Barlach, um 1930 Dabei ist Barlachs Autorschaft bei Paul Cassirer deswegen von herausragendem Interesse für das verlegerische Programm, das Feilchenfeldt und Grete Ring miteinander betreuten, weil dank ihres Engagements 1928 seine Autobiografie Ein selbsterzähltes Leben endlich erscheinen konnte, »ein Buch«, das, wie Barlach 1927 an Reinhard Piper schrieb, »Paul Cassirer schon lange plante, eine Selbsterzählung meines Lebens mit Reproduktionen sämtlicher Arbeiten. Mein Teil ist getan, das Material liegt lange bereit, der Druck kann sogleich beginnen. Ich hoffe, mich kurz genug gefaßt zu haben, was mir beim Schreiben, womit ich in Kissingen begann, im[m]er als Mahnung vor Augen stand.«2 Mit der Niederschrift hatte Barlach in Bad Kissingen, wo er im Juni/Juli 1927 zur Kur gewesen war, begonnen. Mit dem »Material«, das schon »lange bereit« gelegen war, dürften die »Reproduktionen sämtlicher Arbeiten« gemeint gewesen sein. Von der Tatsache, dass die Initiative zum Erscheinen des Buches auf das neue Doppelgespann des Paul Cassirer Verlags zurückging, wird bis heute weder der Anteil von Feilchenfeldt noch das Verdienst von Ring gewürdigt, die im Zusammenhang mit Barlachs Autobiografie für den Verlag den Katalog der Werke Barlachs fertiggestellt hatte.3 Der Grund für dieses Verschweigen lag, wie man vermutet, vor allem darin, dass eine »die Drucklegung begleitende Verlagskorrespondenz« verloren gegangen ist.4 Wir wissen auch nicht, ob Grete Ring überhaupt – und wenn ja, wie oft – zu Barlach nach Güstrow reisen musste, um das von ihr erarbeitete Werkverzeichnis mit dem Künstler zusammen und aufgrund von dessen Angaben abzugleichen. Ring war eine in der Kunsthandlung und im Verlag erprobte Mitarbeiterin, wenn es um Veröffentlichungen
unterschiedlichster Zweckbestimmung ging. Sie schrieb Vorworte zu Auktions- und Ausstellungskatalogen, half Texte zu redigieren, und war insbesondere darin erprobt, das einschlägig erforderliche Bildmaterial für Kunstbücher zu recherchieren und zusammenzustellen.5 War sie durch solche Aufgaben naturgemäß gezwungen, in Museen, Bibliotheken oder im Geschäft zu arbeiten, gab es alternativ dazu für sie auch immer wieder Gelegenheit, ihre berufliche Tätigkeit durch Ortswechsel zu unterbrechen und auf Reisen zu gehen. Anlass dazu konnten Vorbereitungen zu Ausstellungen sein, mit 3 a, b Postkarte von Walter Feilchenfeldt an Marianne Breslauer, Bern, 22. 2. 1934, Privatbesitz
109 deren Einrichtung infolge des politischen Umsturzes in Deutschland 1933 immer häufiger die Absicht verbunden war, Kunstwerke aus dem Besitz verfolgter deutsch-jüdischer Staatsbürger aus Deutschland ins Ausland zu transferieren. 4 Cover des Ausst.-Kat. Französische Maler des XIX. Jahrhunderts, Zürich 1933 Eine erste solche Ausstellung mit Gemälden aus den Sammlungen von Max Liebermann, Estella Katzenellenbogen, Bruno Cassirer und anderen sowie aus der Firma Paul Cassirer veranstaltete das Kunsthaus Zürich vom 14. Mai bis zum 6. August 1933 unter dem Titel Französische Maler des XIX. Jahrhunderts. Eine zweite, kaum ein halbes Jahr später veranstaltete Ausstellung mit dem fast identischen Titel Französische Meister des 19. Jahrhunderts/Vincent van Gogh zeigte die Kunsthalle Bern vom 18. Februar bis zum 2. April 1934;6 bei beiden war Grete Ring organisatorisch persönlich beteiligt und am Ort der Ausstellungen präsent. Am 22. Februar 1934, vier Tage nach Eröffnung der Berner Ausstellung, erstattete Grete Rings Partner Feilchenfeldt aus Bern auf einer offenen Kitschpostkarte folgende Meldung an Marianne Breslauer, seine spätere Frau, in Berlin, kurz bevor Ring in Bern eintraf: »Ich stehe am Bahnhof und warte auf die Hexe [d. i. Grete Ring], die in 10 Minuten aus Paris erscheint. Morgen abend denke ich nach Zürich zu fahren.«7 (Abb. 3 a, b) Es ist nicht anders denkbar, als dass der Zweck ihrer Berner Reise die Ausstellung in der Kunsthalle Bern war. Ihre Mitwirkung an der Zürcher Ausstellung vom 14. Mai bis zum 6. August 1933 (Abb. 4) beleuchtet dagegen noch eingehender als im Fall von Bern das Lebenszeugnis eines anderen Zeitgenossen, nämlich aus der Korrespondenz des Lyrikers Max HerrmannNeiße (Abb. 5), der bereits 1933 nach dem Reichstagsbrand Deutschland verlassen und sich vor der ihm drohenden Verfolgung in die Schweiz abgesetzt hatte. Was er am 14. Mai 1933, am Tag der Ausstellungseröffnung im Zürcher Kunsthaus, aus Zürich seiner Frau Leni Herrmann über ein zufälliges Wiedersehen mit Grete Ring und mit seinem Freund Dr. Walter Feilchenfeldt berichtet, öffnet für einen kurzen Moment das Fenster wie für den Blick in ein anderes, fast unbeschwertes, Leben, das Grete Ring neben ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin und Gelehrte vor allem auf ihren Reisen geführt hat. Herrmann-Neiße schreibt aus Zürich von ihrer Begegnung: »Abends war ich dann im Corso- Theater und habe über Bressart, Falkenstein und die Sandrock doch sehr gelacht, wenn auch der Schwank, den sie spielten, mäßig ist. Nachher tranken wir natürlich einen in der Kronenhalle. Gestern vormittags regnete es mal nicht [...] Nachmittag blieb das Wetter schön, ich konnte endlich mal wieder etwas laufen, ging bis Zürichhorn und dann hoch hinauf nach Zollikon, plötzlich hält ein Auto neben mir, und darin sitzen Feilchenfeldt und Grete Ring. Sie sind schon acht Tage hier, wohnen in St. Peter, bereiten eine Ausstellung vor. Grete Ring fährt dieser Tage wieder nach Berlin zurück, Feilchen bleibt hier. Grete Ring erzählte auch, was ich schon zwischen den Zeilen der Zeitungen gelesen hatte, daß jetzt in Deutschland erst die Enteignung auf kaltem Wege beginne, soundsoviele Wirtschaftsführer säßen bereits, womit man die Übergabe ihrer Betriebe erpresse. [...] Sie fuhren
den [Ernst] Bloch besuchen, der auch schon einige Zeit hier ist und in Küsnacht wohnt, und nahmen mich gleich mit. Der hat ja eine entzückende möblierte Wohnung im oberen Teil von Küsnacht mit herrlicher Aussicht übern ganzen See [...] Wir fuhren dann hinunter in die Sonne, wo wir auf Kosten Feilchens aßen (ich: Zunge) und tranken und Dir eine Karte schrieben. [...] Gegen 11 fuhr Feilchen mich zur Kronenhalle, schön am See entlang [...]«.8 5 Max Herrmann-Neiße vor der Achilles-Statue im Hyde Park, 1935 Es ist evident, dass Herrmann-Neißes Schilderung der Ereignisse dieses Tages in Zusammenhang mit der am selben Tag, am 14. Mai 1933, erfolgten Eröffnung der Zürcher Ausstellung Französische Kunst im XIX. Jahrhundert gestanden hat und dass das opulente Abendessen, zu dem Feilchenfeldt in das Hotel Sonne in Küsnacht einlud, als Abschluss des insgesamt gelungenen Tagesprogramms gedacht gewesen sein dürfte. Was Herrmann-Neißes kurzer Bericht aus einem fast unbeschwert sorgenfreien, geradezu luxuriösen Leben im Exil vermittelt, steht in einem zunächst nicht erklärbaren Gegensatz zu allen gegenteiligen Erfahrungen im entbehrungsreichen Alltag deutscher Emigranten. Als Herrmann-Neiße noch im Juli zufällig die Zürcher Ausstellung zusammen mit Feilchenfeldt, der ihn dazu einlud, besichtigen konnte, vermerkte er wiederum
in einem Brief an Leni »wirklich wundervolle Dinge«, die er zu sehen bekommen hatte: »Manets, Renoirs, Monets, Pissaros, Toulouse-Lautrecs, Degas’«, aber er verheimlichte ihr nicht, dass er die Ausstellung alleine nicht hätte besuchen wollen, weil »deren Eintrittspreis 1,50 Fr. mich abgeschreckt hatte«.9 6 Fred Stein, Porträt Ernst Bloch, 1935 Als Ernst Bloch (Abb. 6) 1938, also nur fünf Jahre nach seinem Wiedersehen mit Grete Ring in Küsnacht, über Feilchenfeldt Kontakt zu ihr suchte und sich von ihr kunsthistorische Unterstützung für seine Arbeit an einem philosophischen Thema erhoffte, kam infolge der durch den Krieg verursachten Krise keine sorgenfreie Zusammenarbeit mehr zustande. Nach Paul Cassirers Tod war Bloch zwar dem Verlag treu geblieben und hatte 1930, drei Jahre vor seiner Flucht aus Deutschland, zusammen mit Feilchenfeldt noch ein erfolgreiches Buch mit dem Titel Spuren veröffentlicht, und auch mit Grete Ring war er wie mit Feilchenfeldt schon aus den 1920er Jahren bekannt und befreundet.10 Nur hatte sich die Welt seit 1933 grundlegend zu verändern begonnen, und Bloch realisierte nicht, dass er mit seiner Feilchenfeldt übermittelten »Bitte« an Grete Ring, sie möge ihm bei Fragen der Bebilderung helfen, die aktuelle Wirklichkeit der Weltlage wohl ziemlich aus den Augen verloren hatte. Bloch arbeitete damals in den USA an einem Fragment seines später unter dem Titel Das Prinzip Hoffnung erschienenen Buches, bis zu dessen Fertigstellung er aber auch die Idee einer Bebilderung längst fallen gelassen hatte:
BIOGRAFIE Lucy Wasensteiner, Viktoria Krieger
145 1887–1905 Margarete Ottilie Ida Ring (1887–1952, Abb. 1, 2) wurde am 5. Januar 1887 in Berlin in der elterlichen Wohnung in der Potsdamer Straße 73a geboren.1 Ihr Vater Victor Julius Ring (1857–1934) war Jurist, Geheimer Oberjustizrat und später Vizepräsident des Kammergerichts.2 Ihre Mutter Margarethe Ottilie Marckwald (1861–1921, Abb. 3) war Tochter des Wollhändlers Benjamin Marckwald und die jüngere Schwester von Max Liebermanns (1847–1935) Ehefrau Martha (1857–1943).3 Auf Gretes Geburtsurkunde ist die Konfession der Eltern vermerkt. Ihr Vater Victor Ring gehörte der »evangelische[n] Religion« an und ihre Mutter der »mosaische[n] Religion«. 2 Dora Hitz, Kinderbildnis Grete Ring, um 1895, Öl auf Leinwand, Privatbesitz 1 Grete Ring, Privatbesitz Später zog die Familie in eine Wohnung am Schöneberger Ufer 46.4 Grete Ring wuchs als Einzelkind in gesellschaftlich gehobenen Kreisen auf – die Unternehmer und Mäzenen Oscar Huldschinsky und Eduard Arnhold gehörten zu den Freunden der Familie (Abb. 4).5 Grete Ring war schon früh mit ihrer Cousine Käthe Liebermann (1885–1952) – Tochter von Max und Martha Liebermann, die ebenfalls Einzelkind war – eng befreundet. Wie Gretes Freundin Marianne Feilchenfeldt später berichtete, »[Grete Ring] und ihre Cousine Käthe Liebermann waren offenbar außerordentlich hübsche Mädchen, und Grete bestand darauf mir zu erzählen, dass sie keine Nacht geschlafen hätte, von einem Ball auf den anderen gegangen sei [...]«.6 (Abb. 5, 6)
147 1906–1912 Eine Affinität für komplexe Sachverhalte zeigte sich schon früh bei Grete Ring. So besuchte sie an der Höheren Töchterschule Gymnasialkurse für Frauen und machte 1906 extern ihr Abitur am Königstädtischen Realgymnasium zu Berlin. Marianne Feilchenfeldt berichtete später: »[S]ie sprach gerne über ihre Jugend, über ihre Schulzeit, die Universität und wie leicht ihr dies alles fiel.«7 Ab Ostern 1906 studierte sie Kunstgeschichte, Archäologie, Deutsche Literaturgeschichte und Philosophie an der Universität zu Berlin.8 Ihr Studium schloss sie 1912 mit einer Promotion in Kunstgeschichte an der Universität München ab, wo sie der renommierte Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin betreute. Ihre Doktorarbeit, Beiträge zur Geschichte Niederländischer Bildnismalerei im 15. und 16. Jahrhundert (vgl. hierzu das Publikationsverzeichnis in diesem Band) hatte sie am 20. Juli 1912 in München erfolgreich verteidigt.9 Schon während ihres Studiums wurden die Ergebnisse ihrer Forschungen veröffentlicht.10 Zu dieser Zeit entstand auch der Kontakt zum Kunsthistoriker Max J. Friedländer (1867– 1958), der damalige zweite Direktor der Gemäldegalerie in Berlin.11 4 Aus dem Garten der Villa Huldschinsky am Wannsee, Gruppe beim Tennisspielen, Pfingsten 1906, mit Käthe Liebermann (2.v.l) und Grete Ring (3. v. l.). Mit der Widmung: »An der Leiter stehen 2 Damen, Ach es sind ›recht liebe Mädchen‹! Und fragst du nach ihren Namen, sagt man: Frl. Liebermann nur und Frl. Ring« 3 Rudolf Eichstädt, Porträt Margarethe Ring, 1889, Öl auf Leinwand, Privatbesitz
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