Leseprobe

4 Editorische Notiz Als Ergebnis eines gemeinschaftlichen Übersetzungsprojekts ist die französische Ausgabe der ›Gelegenheitsgedichte‹ Stéphane Mallarmés von 1920 hier erstmals komplett auf Deutsch zu lesen, einschließlich einiger Bild-Beispiele, die einen ersten Eindruck von der Fülle und Vielfältigkeit dieser weitgehend unbekannten Dichtung geben. Mallarmé selbst hatte Teile der offenbar über Jahrzehnte unablässig, geradezu seriell hergestellten kleinen Gedichte in vier oder zwei Zeilen gelegentlich veröffentlicht oder für Publikationen zusammengestellt, die aus verschiedenen Gründen nicht zustande kamen, darunter besonders prominent die Gedichte auf Briefumschlägen, die jeweils virtuos Adressen variieren, imitieren und überschreiben. Nach seinem plötzlichen Tod am 9. September 1898 haben seine Tochter Geneviève Mallarmé und ihr Ehemann Edmond Bonniot die teils in Notizbüchern Mallarmés bewahrten, teils über einen weiten Bekanntenkreis verstreuten Verse wieder eingesammelt und in eine Ordnung gebracht, die sinnfällig deren Besonderheit markiert und hier unverändert übernommen wurde. Denn einerseits sind mit diesen Versen besondere beschriftete Dinge zu entdecken, Produkte einer kunstgewerblich überformten Warenkultur, die in den Salons der Belle Époque zirkulierten, wie die besonders schönen fragilen Papierfächer mit ›japanischem‹ Dekor. Andererseits hat der Dichter offensichtlich programmatisch auch als Schreibmaterial genutzt, was buchstäblich zur Hand war, neben den bereits genannten Briefumschlägen kleine Zettel, Visitenkarten, Fotografien oder auch flache Kieselsteine und bemalte Ostereier! In der unauflöslichen Verbindung dieser Dinge mit den je kalligrafisch gestalteten Schriftzügen entstehen so neue, einzigartige Artefakte in erstaunlich großer Zahl. Diesem Paradox von Individualität und serieller Wiederholung gehorchen auch die Adressierungen: Sämtliche Verse waren – und sind – an Personen aus dem weiten Umkreis des Dichters, seiner Familie, seiner Künstlerfreunde und vor allem der vielen Künstlerinnen des Pariser Lebens der 1870er bis 1890er Jahre gerichtet, beziehen sich auf deren Eigenarten und nehmen, häufig scherzhaft, Bezug auf lokale Umstände, die sich schwer rekonstruieren lassen. Obgleich sie alle bestimmten Personen gewidmet sind, können etliche Gedichte nicht (mehr) eindeutig zugeordnet werden.

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