Leseprobe

Vers de circonstance Verse unter Umständen Herausgegeben von Christin Krüger, Cornelia Ortlieb, Felicitas Pfuhl und Vera Vogel Stéphane Mallarmé

Vers de circonstance Herausgegeben von Christin Krüger, Cornelia Ortlieb, Felicitas Pfuhl und Vera Vogel Aus dem Französischen von Christin Krüger, Cornelia Ortlieb, Felicitas Pfuhl, Kristin Sauer, Katherina Scholz und Vera Vogel Stéphane Mallarmé Verse unter Umständen

Inhalt

4 Editorische Notiz 6 Les Loisirs de la Poste — Die Vergnügen der Post 58 Éventails — Fächer 70 Offrandes à divers du Faune — Faun-Geschenke 82 Photographies — Fotografien 90 Dons de fruits glacés au Nouvel an — Gaben kandierter Früchte zu Neujahr 118 Autres dons de Nouvel an — Andere Neujahrsgaben 138 Œufs de Pâques — Ostereier 144 Fêtes et anniversaires — Feiern und Jahrestage 158 Albums — Albumblätter 170 Dédicaces, autographes, envois divers — Widmungen, Autografe, allerlei Zusendungen 216 Autour d’un mirliton — Um ein Mirliton herum 226 Sur des galets d’Honfleur — Auf Kieselsteinen aus Honfleur 238 Sur des cruches de Calvados — Auf Calvados-Krügen 242 Rondels — Rondels 248 Sonnets — Sonette 258 Huitain — Huitain 262 Invitation à la soirée d’inauguration de la « Revue indépendante », 1887 — Einladung zum Einweihungsabend der »Revue indépendante«, 1887 268 Théâtre de Valvins, 1881– 1882 — Theater von Valvins, 1881– 1882 281 Anhang 288 Verzeichnis der Gedichte und ihrer Übersetzerinnen 296 Verzeichnis der Namen mit biografischen Angaben 301 Literaturverzeichnis 302 Abbildungsverzeichnis 303 Dank 304 Impressum

4 Editorische Notiz Als Ergebnis eines gemeinschaftlichen Übersetzungsprojekts ist die französische Ausgabe der ›Gelegenheitsgedichte‹ Stéphane Mallarmés von 1920 hier erstmals komplett auf Deutsch zu lesen, einschließlich einiger Bild-Beispiele, die einen ersten Eindruck von der Fülle und Vielfältigkeit dieser weitgehend unbekannten Dichtung geben. Mallarmé selbst hatte Teile der offenbar über Jahrzehnte unablässig, geradezu seriell hergestellten kleinen Gedichte in vier oder zwei Zeilen gelegentlich veröffentlicht oder für Publikationen zusammengestellt, die aus verschiedenen Gründen nicht zustande kamen, darunter besonders prominent die Gedichte auf Briefumschlägen, die jeweils virtuos Adressen variieren, imitieren und überschreiben. Nach seinem plötzlichen Tod am 9. September 1898 haben seine Tochter Geneviève Mallarmé und ihr Ehemann Edmond Bonniot die teils in Notizbüchern Mallarmés bewahrten, teils über einen weiten Bekanntenkreis verstreuten Verse wieder eingesammelt und in eine Ordnung gebracht, die sinnfällig deren Besonderheit markiert und hier unverändert übernommen wurde. Denn einerseits sind mit diesen Versen besondere beschriftete Dinge zu entdecken, Produkte einer kunstgewerblich überformten Warenkultur, die in den Salons der Belle Époque zirkulierten, wie die besonders schönen fragilen Papierfächer mit ›japanischem‹ Dekor. Andererseits hat der Dichter offensichtlich programmatisch auch als Schreibmaterial genutzt, was buchstäblich zur Hand war, neben den bereits genannten Briefumschlägen kleine Zettel, Visitenkarten, Fotografien oder auch flache Kieselsteine und bemalte Ostereier! In der unauflöslichen Verbindung dieser Dinge mit den je kalligrafisch gestalteten Schriftzügen entstehen so neue, einzigartige Artefakte in erstaunlich großer Zahl. Diesem Paradox von Individualität und serieller Wiederholung gehorchen auch die Adressierungen: Sämtliche Verse waren – und sind – an Personen aus dem weiten Umkreis des Dichters, seiner Familie, seiner Künstlerfreunde und vor allem der vielen Künstlerinnen des Pariser Lebens der 1870er bis 1890er Jahre gerichtet, beziehen sich auf deren Eigenarten und nehmen, häufig scherzhaft, Bezug auf lokale Umstände, die sich schwer rekonstruieren lassen. Obgleich sie alle bestimmten Personen gewidmet sind, können etliche Gedichte nicht (mehr) eindeutig zugeordnet werden.

5 Die Übersetzung versucht, der Vielstimmigkeit dieser Gedichte und ihren je unterschiedlichen Tonlagen gerecht zu werden, sie ist gleichermaßen je individuell und gemeinschaftlich erarbeitet, einschließlich der Anmerkungen, die zum Verständnis nötig sind. Dabei wurden Schreibfehler der Erstausgabe stillschweigend korrigiert, die Schreibweisen der Personennamen übernommen und nur für die Anmerkungen teils verbessert. Die deutlich erweiterte Neuausgabe der Vers de circonstance von 1996, herausgegeben von Bertrand Marchal, wurde für Anmerkungen und für das Namensverzeichnis dankbar genutzt. Mit der Nennung von Namen geben die Gedichte selbst Rechercheaufträge, die hier möglichst umfassend erledigt wurden, sodass im Verzeichnis auch die Lebensdaten der Genannten aufgeführt sind und ihre teils aufschlussreiche berufliche oder persönliche Stellung. Anstatt die Übersetzungsleistung einzeln im Text auszuweisen, haben wir uns für ein Verzeichnis der deutschsprachigen Gedichte entschieden, welches wir um die Namenskürzel der jeweiligen Übersetzerin(nen) ergänzt haben. Die historischen Paratexte wurden von Vera Vogel und Felicitas Pfuhl übersetzt, Zitate in den Anmerkungen, wenn nicht anders angegeben, von Christin Krüger, Vera Vogel und Felicitas Pfuhl. Die unaufhebbare Mehrdeutigkeit, der subtile Witz und die zahllosen Anspielungen lassen sich nicht mit je einer Übersetzung wiedergeben, wohl aber mögen sie aufleuchten im stereoskopischen Lesen von französischem Text und deutscher Variation, zumal, wenn nicht das einzelne Gedicht für sich betrachtet wird, sondern tatsächlich Serien und Reihen lesend nachvollzogen werden können, mit Vergnügen, unter Umständen.

Les Loisirs de la Poste

Die Vergnügen der Post

8 Cette publication tout à l’honneur de la Poste. Aucune des adresses en vers reproduites ici n’a manqué son destinataire. Le poète ajoute que l’idée lui en vint à cause d’un rapport évident entre le format des enveloppes et la disposition d’un quatrain — par pur sentiment esthétique. Il les multiplia au gré de ses relations. — L’AUTEUR.* * Préface au choix de quatrains publié par l’Auteur dans une revue américaine The ChapBook, de Chicago, en 1894 ; ce n’était que l’extrait d’une préface plus développée, destinée à présenter en une plaquette, avec quelques dessins ornementaux de Madame Whistler, l’ensemble des quatrains d’adresses. La voici in-extenso, elle eût été signée « les Éditeurs » : « Cette petite publication tout à l’honneur de la Poste. Aucune des adresses en vers collectionnées ici n’a manqué son destinataire. Puis elle aidera à l’initiative de personnes qui pour leur compte voudraient s’adonner au même jeu. Avec zèle nous avons remis la main peu à peu sur l’ensemble de ces poèmes spéciaux et brefs que l’auteur espéra perdus. M. Stéphane Mallarmé en autorise l’impression, mentionnant que l’idée lui vint à cause d’un rapport évident entre le format ordinaire des enveloppes et la disposition d’un quatrain ; et qu’il fit cela par pur sentiment esthétique. Aussi rien n’a été épargné pour la présentation de ces riens précieux. On y trouve, avec l’amusement propre à un poète, le joyau typographique parisien du goût le plus rare. »

9 Diese Veröffentlichung ganz zu Ehren der Post. Keine der Adressen in Versform, die hier abgedruckt sind, hat ihren Empfänger verfehlt. Der Dichter fügt hinzu, dass ihm die Idee wegen des offensichtlichen Bezugs zwischen dem Format von Briefumschlägen und der Form eines Vierzeilers gekommen ist – rein aus ästhetischem Gefühl. Er vervielfachte sie auf Wunsch seines Bekanntenkreises. – DER AUTOR.* * Vorwort zu einer Auswahl von Vierzeilern, vom Autor veröffentlicht in einer amerikanischen Zeitschrift, The Chap-Book, aus Chicago, im Jahr 1894; es handelte sich dabei nur um den Auszug aus einem längeren Vorwort, das dafür bestimmt war, in einer Broschüre, zusammen mit einigen schmückenden Zeichnungen von Madame Whistler, die Gesamtheit der Adressvierzeiler zu präsentieren.1 Hier nun in extenso, es wurde mit »die Herausgeber« unterzeichnet: »Diese kleine Veröffentlichung ganz zu Ehren der Post. Keine der hier gesammelten Adressen in Versform hat ihren Empfänger verfehlt. Außerdem wird es den Unternehmungsgeist jener fördern, die sich ihrerseits demselben Spiel hingeben möchten. Mit Eifer haben wir nach und nach die Gesamtheit dieser besonderen und kurzen Gedichte wiedergefunden, die der Autor schon verloren glaubte. Den Druck autorisierend, erwähnte Herr Stéphane Mallarmé, dass ihm die Idee wegen des offensichtlichen Bezugs zwischen dem gewöhnlichen Format von Briefumschlägen und der Form eines Vierzeilers kam; und dass er dies rein aus ästhetischem Gefühl tat. Auch wurde bei der Präsentation dieser wertvollen Nichtigkeiten nichts ausgespart. Man findet hier, mit dem einem Dichter eigenen Zeitvertreib, ein Pariser typografisches Juwel von außerordentlichstem Geschmack.« 1 Durch die Vermittlung von James McNeill Whistler sollten die Adressgedichte ursprünglich 1893 in dem Londoner Verlagshaus James R. Osgood, McIlvaine & Co. unter dem Titel »Récréations Postales« (»Postalische Zerstreuungen«) erscheinen. Mallarmé bereitete ein Manuskript mit 89 Adressgedichten vor, doch die Edition kam nie zustande. Für The Chap Book wählte Mallarmé 27 dieser Gedichte aus und überarbeitete sie. Sie wurden am 15. Dezember 1894 als »Les Loisirs de la Poste« (»Die Vergnügen der Post«) veröffentlicht. Die Buchausgabe der Vers de circonstance übernimmt die Gedichte in der Fassung des Chap Book, ergänzt um die restlichen »Récréations Postales« und um weitere bisher unveröffentlichte Adressvierzeiler.

10 1 Monsieur le Comte de Villiers De l’Isle-Adam ; qu’on serait aise De voir parmi mes familiers. A Paris, Place Clichy, seize. Monsieur le Comte de Villiers De l’Isle-Adam; wie angenehm Wären Sie mein Habitué. In Paris, Place Clichy, sechzehn. 2 Courez, les facteurs, demandez Afin qu’il foule ma pelouse Monsieur François Coppée, un des Quarante, rue Oudinot, douze. Lauft, Briefträger, fragt, damit er Bald betritt meinen Grasteppich Monsieur François Coppée, einer, Rue Oudinot zwölf, der Vierzig.1 3 Dans sa douillette d’astrakan Sans qu’un vent coulis le jalouse Monsieur François Coppée à Caen Rue, or c’est des Chanoines douze. Den Persianermantel2 an Ganz ohne eines Luftzugs Neid Monsieur François Coppée in Caen Rue des Chanoines zwölf derzeit.

11 4 Apte à ne point te cabrer, hue ! Poste et j’ajouterai : dia ! Si tu ne fuis 11 bis, rue Balzac chez cet Hérédia. Kannst Du Dich nicht aufbäumen, hü! Post und gleich setze ich nach: hott! Wenn Du nicht fliehst3 der 11a, Rue Balzac bei Hérédia, flott. 5 Monsieur Mendès, aussi Catulle A toute la Muse debout Dispense la brise et le tulle Rue, au 66, Taitbout. Monsieur Mendès, ferner Catulle Der edlen Muse immerzu Spendet er den Wind und den Tüll Rue, die 66, Taitbout. 1 Coppée war seit 1884 einer der vierzig »Unsterblichen«, d. h. der Mitglieder der Académie française. 2 Aus dem Fell eines jungen Karakulschafs hergestellter Mantel. 3 Im Manuskript der »Récréations postales« steht noch »cours« statt »fuis«. Der Briefträger wird so aufgefordert, zu Heredia zu rennen, statt diesen zu fliehen. 6 A moins qu’il ne hante la nue, Ne vogue où mûrit le letchi, Monsieur Léon Dierx, avenue Ci-proche, 13, de Clichy. Wenn er nicht zur Nacktwolke4 eilt, Nicht segelt, wo reift die Litschi,5 Monsieur Léon Dierx nah hier weilt Avenue 13, de Clichy. 4 »Nue« ist im Französischen neben »Wolke« auch die weibliche Form des Adjektivs »nackt«. 5 Dierx ist auf der tropischen Insel La Réunion aufgewachsen.

12 7 Tapi sous ton chaud mac-ferlane Ce billet, quand tu le reçois Lis le haut ; 6 cour Saint-François Rue, est-ce Moreau ? cher Verlaine. Kauernd unter dem MacFarlane6 Dieses Billet, reicht man’s Dir dar Lies es laut; 6, Cour Saint-François Rue, war’s Moreau? lieber Verlaine.7 8 Je te lance mon pied vers l’aine Facteur, si tu ne vas où c’est Que rêve mon ami Verlaine Ru’ Didot, Hôpital Broussais. Ich tret Dich in die Leiste, wenn Bote, Du nicht dort hingehst, wo Vor sich hinträumt mein Freund Verlaine Hôpital Broussais, Ru’ Didot.8 9 Va, poste, tout crinière et bave Lui jetant un joyeux hi-han Chez mon ami très cher Octave Mirbeau Kerisper Morbihan. Lauf, Post, ganz Mähne und Schaum, brav Ruf ihn mit frohem Iah an Zu meinem werten Freund Octave Mirbeau Kerisper9 Morbihan.

13 10 Monsieur Mirbeau, Pont de l’Arche (Eure) Toi qui vois les Damps Facteur, ralentis la marche Et jette ceci dedans. Monsieur Mirbeau, Pont de l’Arche (Eure) Du, der Du Les Damps siehst Bote, bremse Deinen Marsch Und lass hineinfallen dies. 11 Quand sur la cité reparue L’aube s’enfuit bleue et rouge, on Mettra ce mot, 32, rue Chalgrin, chez mon ami Roujon. Wenn wieder über der Stadt früh Morgenlicht blau und rot flieht, schon Liegt dies Wort, 32, Rue Chalgrin, bei meinem Freund Roujon. 6 Auch Havelock- oder Inverness-Mantel, ein ärmelloser Mantel mit einer bis zu den Ellbogen reichenden Pelerine. 7 Verlaine antwortete am 25. Dezember 1885: »Mein lieber Mallarmé, Ihr Brief ist bei mir angekommen, was beweist, dass man mit einem reinen Reim, und was für ein Reim, Farlane, Verlaine! alles erreichen kann« (CORR V, 273 f.). 8 In diesem Pariser Krankenhaus hatte Verlaine 1886 und 1893 zahlreiche Aufenthalte. 9 Name des Anwesens im Département Morbihan, in dem das Ehepaar Mirbeau von 1887 bis 1888 lebte. 12 Va-t-en, messager, il n’importe Par le tram, le coche ou le bac Rue, et 2, Gounod à la porte De notre Georges Rodenbach.

26 46 Rue, interminable, Laugier Au soixante-quinze s’exhausse La grille d’un cher clos : j’y ai Vu peindre et songer Rochegrosse. Rue Laugier, endlos laufend fort, Bei fünfundsiebzig, hinter Schloss Und Riegel ein teurer Grund: Dort Sah ich malen, träumen Rochegrosse. 47 Les Cupidons qu’elle essaima Ailés, allez ! mine confite Chez Mademoiselle Abbéma Quarante-sept rue, et, Laffitte. Die Putten, die sie losließ da Geflügelt, fliegt! manieriert mit Zu Mademoiselle Abbéma Siebenundvierzig, Rue Laffitte. 48 A Dupray le peintre apparue, Ma lettre tu raviras cet Homme charmant travaillant rue D’Amsterdam, soixante-dix-sept. Dem Maler Dupray erscheinend, Mein Brief, Du wirst begeistern dann Den lieben Mann, Rue, arbeitend Siebenundsiebzig, D’Amsterdam.

27 49 Clermont-Ferrand du Puy-de-Dôme — Matin, discrètement mets-l’y, Cette missive presque un tome Pour Hector Giacomelli. Clermont-Ferrand in Puy-de-Dôme – Morgen, wirf ein und still entflieh Dieses Schreiben, fast ein Buch schon Für Hector Giacomelli. 50 Augusta Holmès accourue En tant qu’une blonde parente Des rois joueurs de harpe, rue Juliette Lamber, 40. Augusta Holmès, umschwärmt viel Als Anverwandte, blondhaarig Der Könige im Harfenspiel26 Rue Juliette Lamber, 40. 26 Mallarmé spielt auf Holmès’ irische Familienbezüge an. Die keltische Harfe ist das Wappen Irlands. 51 Arrête-toi, porteur, au son Gémi par les violoncelles, C’est chez Monsieur Ernest Chausson, 22 Boulevard de Courcelles. Halte an, Briefträger, beim Ton Ausgeseufzt vom Violoncell, Bist bei Monsieur Ernest Chausson, 2-2 Boulevard de Courcelles.

28 27 Sylphen sind dem Element Luft zugeordnete Naturgeister. Übertragen kann »sylphe« einen Mann von schlan52 Boulevard Rochechouart loge Au 2 mon ami Léopold Dauphin, c’est, voilà son éloge, Plutôt un sylphe qu’un kobold. Boulevard Rochechouart 2 Grad da wohnt mein Freund Léopold Dauphin, er ist, sein Lob anbei, Mehr ein Sylphe als ein Kobold.27 53 Rue, ouïs ! 22 Lavoisier Madame Degrandi qui lance La richesse de son gosier Aussi haut que notre silence. Rue, 22, Lavoisier Madame Degrandi, die Fülle Hört! lässt tönen aus ihrer Kehl So laut wie unsere Stille. 54 Les poëtes n’ayant pour eux Que l’antique lyre bizarre Invoquent Monsieur Lamoureux Soixante-deux R. Saint-Lazare. Die Poeten, die so arm dran Mit Lyra, uralt und bizarr Rufen Monsieur Lamoureux an Zweiundsechzig R. Saint-Lazare. ker Statur, von besonderer Anmut oder von träumerischem Charakter beschreiben. Kobolde sind Haus- oder Naturgeister, die gut- oder böswillig sein können und meist als klein und hässlich dargestellt werden.

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30 55 Si la Dame aux doux airs vainqueurs Qui songe 9 Boulevard Lannes T’ouvre, mon billet, comme un cœur Avec ses ongles diaphanes. Dass die Frau sanften Siegesschritts28 Welche träumt 9 Boulevard Lannes Dich, mein Brief, wie ein Herz aufschlitzt Mit ihren zarten Nägeln dann. 56 Paris, chez Madame Méry Laurent, qui vit loin des profanes Dans sa maisonnette very Select du 9 Boulevard Lannes. Paris, bei Madame Méry Laurent, fern vom profanen Stand Da in ihrem Häuschen very Select von 9 Boulevard Lannes. 57 Madame la propriétaire Du 9 Boulevard Lannes, coin De verdure ample et solitaire Dont mon esprit n’est jamais loin. Die Eigentümerin-Madame Von 9 Boulevard Lannes, Ort Fern im Grünen, weit und einsam Von dort ist mein Geist niemals fort.29

31 28 »Air vainqueur« ist ein feststehender Begriff für eine stolze und zufriedene Miene; »vainqueur« (siegreich) ist auch in Bezug auf romantischen Erfolg gebräuchlich. 29 Nr. 57–62 für Méry Laurent. 30 Die Beschreibung entspricht der Dienstuniform der Pariser Postboten, zu der seit 1862 ein grüner Uniformrock, »tunique« (Tunika) genannt, gehörte. Die Stadt Elbeuf war bekannt für ihre Tuchmanufakturen. 31 »Fauvette« (Grasmücke) beschreibt figurativ eine zarte, anmutige Person mit einer wohlklingenden Stimme. 58 O Facteur, il faut que tu vêtes Ta tunique verte d’elbeuf Pour ouïr un nid de fauvettes Chantant Boulevard Lannes neuf. Oh Bote, Du musst Dich schmücken Mit grüner Elbeuf-Tunika30 So hörst Du’s Nest der Grasmücken31 Singend neun Lannes-Boulevard. 59 Facteur qui de l’Etat émanes C’est au neuf que nous nous plaisons De te lancer, Boulevard Lannes, A la seule entre les maisons. Bote, den der Staat zog heran Zu der Neun gefällt es uns sehr Zu schicken Dich, Boulevard Lannes, Zum einzigen im Häusermeer.

112 48 Le souci qui toujours varie L’an nouveau saura l’apaiser Si Claire aux deux fronts de Marie Et de Paul met son clair baiser. 1896 Die Sorge ist dieselbe nie Neujahr beruhigt sie, es muss Wenn Claire33 den Stirnen von Marie Und Paul gibt ihren klaren Kuss. 1896 47 Qu’une année au léger vol Comme étrennes apparie Repos ou santé pour Paul Et le rire de Marie. 1895 Dass ein Jahr in so leichtem Flug Neujahrsgaben paarweis vergibt Für Paul Gesundheit oder Ruh Dazu das Lachen von Marie. 32 1895

113 49 L’hiver vous bravez la neige Glace les fruits imprudents Que contre elle ne protège Pas une flamme au-dedans. 1895 Winter Sie trotzen dem Schnee Vereist die Früchte unbedacht Gegen ihn schützt nicht mal, herrje Eine Flamme, die innen wacht. 34 1895 50 Mûris en azur barbaresque L’envoi n’est pas ce que je veux Acceptez des fruits couleur presque De la gloire et de vos cheveux. 1896 Ausgereift im Berber-Azur Die Sendung ist nicht, was ich dacht Nehmt an die Früchte farblich nur Ähnlich Ruhm und Eurer Haarpracht.3 5 1896 32 Nr. 47–48 für Marie Degrandi und Paul Nadar. 33 Claire Salenave, Tochter von Marie Degrandi aus erster Ehe. 34 Für Marguerite Normant. 35 Nr. 50–51 für Anna-Maria Rodenbach.

114 52 Touchez à l’heure poursuivie Fructidor avec Messidor Où Qui fut constante à la vie En devine choir les fruits d’or. 1896 Berührt zur nachgejagten Stund Den Fructidor mit Messidor36 Wo Wer mit dem Leben im Bund Prophezeit einen Goldfruchtflor. 37 1896 53 Le Temps nous y succombons Sans l’amitié pour revivre Ne glace que ces bonbons A son plumage de givre. 1896 51 Vanité le verger qui dore Tel fruit ou le glace aux hivers L’heureux Rodenbach sait enclore Sa vie entre vous et des vers. 1897 Eitel färbt in Gold der Obsthain Solch Frucht, die er im Winter eist Froh kann Rodenbachs Leben sein Weil’s um Sie und die Verse kreist. 1897

115 Die Zeit der wir erliegen leis Ohne Freundschaft, die neu belebt Glasiert nur diese Bonbons weiß Mit ihren Frostfedern umwebt 38 1896 54 Aujourd’hui l’amitié triche Comme un crabe nous voulons Que cet An de la bourriche Pour vous sorte à reculons. 1897 Heut spielt die Freundschaft einen Streich Wir woll’n so wie ein Krebs verdreht Dass dieses Jahr des Korbs39 sogleich Rückwärts laufend für Sie vergeht. 1897 55 Pâris qu’un jugement décore Présenterait sur le chemin Vers vous belle et plus simple encore Une pomme de chaque main. 1896 Paris geschmückt durch sein Urteil Würde reichen am Wegesrand Für Sie schön und schlichter derweil Einen Apfel aus jeder Hand.4 0 1896 36 Monate des französischen Revolutionskalenders. Innerhalb des Sommerquartals bezeichnet »Messidor« (Erntemonat) den ersten, »Fructidor« (Fruchtmonat) den dritten Monat. 37 Für Marguerite Normant. 38 Nr. 53–54 für Marguerite Ponsot. 39 »Bourriche« ist ein länglicher, grob geflochtener Korb ohne Henkel, mit dem man u. a. Meeresfrüchte transportiert. 40 Für Madeleine Roujon, die hier in Anlehnung an das Paris-Urteil aus der griechischen Mythologie zur schönsten Frau erklärt wird.

116 57 Un an qui succède à l’autre Toujours nous tend pensez-y Ce fruit par le froid saisi Comme mon cœur ni le vôtre. Ein Jahr folgt aufs andre Jahr Und gibt uns stets denkt daran Diese Frucht im Kältebann Wie mein Herz noch Ihres gar. 58 N’allez si vers la main pend Quelque fruit pour un partage L’offrir vous interrompant Édouard ceint le seul feuillage. 1896 Verschenkt es, wenn der Hand nah Solch Obst hängt, auf dass man’s teilt Euch unterbrechend Édouard Umschnürt’s mit ’nem Blätterzweig. 42 1896 56 Comme un délicieux effet Ou, je dirai plus, en échange Du soleil que votre cœur fait Considérez la fauve orange. 1896 Als sei es ein köstlicher Wert Oder im Tausch, besser gesagt Gegen Sonne in Eurem Herz Seht die rote Orange an.4 1 1896

117 59 Un parisien compliment Dans ces oranges on insère A vous ici tout uniment Redevenus des fruits de serre. 1897 Eine Pariser Schmeichelei Schreiben wir ein den Orangen Für Sie hier völlig frank und frei Wieder Treibhausobst geworden. 1897 60 Sur un rameau vers vous incliné par Marie Pas plus que l’amitié ce fruit d’or ne varie. Auf einem Baumzweig, den Marie zu Ihnen neigt Die Freundschaft gleich dieser Goldfrucht wie jeher bleibt. 41 Für Dinah Seignobos. 42 Für Madame Gravollet. Der Vierzeiler lag einem Brief an ihren Mann Édouard Gravollet bei, in dem sich 61 Toute gracieuseté qu’on fit Se change l’hiver en fruit confit. Jede Wärme, die man spendiert Wird im Winter zu Frucht, kandiert.43 Mallarmé für einen Korb Birnen bedankte. 43 Für Marguerite Ponsot.

202 67 Cousin Victor Margueritte Songe à moi dans ta guérite. Cousin Victor Margueritte Denk an mich in Deinem Bergfried.60 68 O Victor, nous extravaguons Que tu sois parmi les dragons. Oh Victor, wir reden solch Mist Dass Du unter Dragonern bist.61 66 En tête du carnet d’adresses de M. W. P. Nous tous, la rue avec les numéros — Et d’autres noms que ta pudeur recule Willy Ponsot, tendre et discret héros A marquer mieux que par la majuscule. 1896 Vorn im Adressheft von M. W. P. Uns alle, Straße und Nummern verwahrt – Und andre Namen, wo sich scheut Dein Takt Willy Ponsot, ein Held diskret und zart Mehr zu schreiben als Initialen nackt. 1896

203 69 Pour Victor qui disait qu’il n’existait pas de rimes en « or »* Un appétit d’alligator Une force de jeune butor Un chapeau en poils de castor Avec une voix de stentor C’est tout craché Monsieur Victor. * Indication de l’Auteur. Für Victor, der sagte, es existierten keine Reime auf »or«* Hunger wie ein Alligator Kraft wie die eines jungen Tor Hut aus Biberfell, sprich ›Castor‹ Mit einer Stimme wie Stentor62 So leibt und lebt Monsieur Victor. * Hinweis des Autors. 70 Ayez l’authenticité d’un chèque Tous mes chers souhaits de l’an pour Becque. 1895 Seien Sie authentisch wie ein Scheck All meine Neujahrswünsche für Becque. 1895 60 Victor Margueritte ging im September 1886 zur Armee und blieb dort bis 1896. 61 Nr. 68–69 für Victor Margueritte. Mallarmé schickte diesen Zweizeiler 1891 an die Militärschule von Saumur, wo Margueritte zum Leutnant der Dragoner, einer berittenen Infanterie, ausgebildet wurde. »Dragons« bezeichnet im Französischen sowohl Dragoner als auch Drachen. 62 Zu »Stentor« siehe »Die Vergnügen der Post«, Nr. 26.

204 72 Que ce cher Monsieur Marcel Schwob Eperonne vers nous son cob. Dass Marcel Schwob, der werte Herr Dem Pferd Spor’n gebend sich uns näh’r. 73 A M. Cipa G. Ma sympathie anticipa Sur notre rencontre Cipa. 1896 An M. Cipa G. Meine Sympathie ist schon da Bevor wir uns treffen Cipa.6 3 1896 71 Mademoiselle Moreno Venez ici même en traîneau. Fräulein Moreno wir bitten Kommen Sie, wenn auch im Schlitten.

205 74 Pour Mlle Labonté à Nancy Je crois bien que dans ce temps-ci Il n’est de bonté qu’à Nancy. Fur Mlle Labonté in Nancy Ich glaube, es ist im Moment Güte nur in Nancy präsent.64 75 Alice Lavigne, ô grappe folle ! est la vigne Qui nous fait oublier Casimir Delavigne. Alice Lavigne, oh irre Traube! am Wein Vergessen wird Casimir Delavigne sein.65 63 Für Cipa Godebski. 64 Mallarmé spielt hier mit Rosine Labontés Nachnamen, der übersetzt »die Güte« bedeutet. 65 Mallarmé schrieb diesen Zweizeiler wahrscheinlich im Jahr 1893, als der 100. Geburtstag des Dichters Casimir Delavigne (1793–1843) in Frankreich feierlich begangen wurde. 66 Für Magali und Edmée Cazalis. 76 Les demoiselles Cazalis L’autre une rose et l’une un lys. Die Fräulein Cazalis sind je ’ne Rose und ’ne Lilie.66

206 78 En renvoyant un filet à poisson Je vous rends, Claire de Paris Le filet, mais j’y reste pris. Ein Fischernetz zurückschickend Ich geb das Netz zurück an Sie Doch häng ich drin, Claire de Paris. 79 Je souhaite que ce buvard Sous tes doigts devienne bavard. Den Wunsch ans Löschpapier ich hätt Dass wenn Du’s liest, es plaudern tät. 77 Mignonne, sachez que même pour plaire En tant que la Lune, il faut rester Claire. Mignonne, wisst, dass um zu gefallen sehr Selbst als der Mond, müsst Ihr doch bleiben Claire.67

207 80 Avant l’aube si tu m’en Crois, écris à ta maman. Vor Tagesanbruch, wenn Du mir Vertraust, schreib Deiner Mama, ihr. 81 J’ajoute mon souhait, voilà Lequel : Ecris peu, mais sois là. Zu meinem Wunsch noch dies, voilà: Schreib wenig, aber sei doch da. 67 Nr. 77–78 vermutlich für Claire Salenave. Ihr Vorname tritt hier in Dialog mit Paul Verlaines Gedicht Clair de Lune (Mondschein), geschrieben 1869, sowie mit dem gleichnamigen Klaviersatz von Claude Debussy, der das Gedicht erstmals 1882 vertonte. 82 Il ne faut pas serrer les nœuds de ton hymen Avant d’avoir passé le sinistre examen. Schließ weder den Ehebund noch Treue gelob Bevor Du nicht abgelegt hast die düstre Prob’.

251 Für eine Taufe Wenn die winzige Nase, zart Reizend zu versinken beliebt In Lachen wohl, ganz ohne Arg Die Spitze kaum den Blick freigibt, Der kindlich Trieb Euch hat gefasst, Voller Stolz, aber die Zweite, Insgeheim ihr Esprit doch passt Zu Eurer blonden Ahnseite, Bewahrt, aus des Taufbeckens Grund, Auf dass er in Dunst sich kleidet Wundersam in Worte klar und Rein, wie eine Brise bleibet, Liebe Mademoiselle Mirabel Das Salzkorn auf der Zung’ als Quell.1 1 Pour un baptême Si, subtile, le petit nez Eblouissant noyé dans telle Candeur de rires devinés Que s’en trouve cette dentelle, Le filial instinct vous prit, Orgueilleuse, mais la seconde, De ressembler par son esprit Tout bas à votre aïeule blonde, Conservez, des fonts baptismaux, Afin qu’il se volatilise Miraculeusement en mots Natifs et clairs comme une brise, Mademoiselle Mirabel Sur la langue le grain de sel. 1 Dem Kind geweihtes Salz in den Mund zu legen, war lange Zeit Teil des christlich-katholischen Taufritus. »Grain de sel« (Salzkorn) wird idiomatisch ebenfalls zur Bezeichnung für eine geistreiche Bemerkung verwendet.

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253 2 A M. L’aile s’évanouit et fond Des Cupidons vers d’autres nues Que celles peintes au plafond, Prends garde ! quand tu éternues — Ou que ce couple qui jouait N’interrompe sa gymnastique Pour te décerner le fouet Sur quelque chose d’élastique Si (moi-même je reconnais Comme avec à propos on t’aime Pâlie en de petits bonnets) Jamais tu gazouilles ce thème Ancien : Z’ai mal à la gorze — Pendant l’an quatre vingt quatorze. An M. Der Flügel schwindet und verschmilzt Putten mit andren Wolken2 weiß Nicht mehr jenen des Deckenbilds, Gib acht! wenn Du musst niesen leis – Oder dass das Paar, das spielte Seine Übung nicht unterbricht Und Dir zur Ehr Peitschenhiebe Auf etwas Zart’ und Weiches gibt Falls (ich selbst erkenne es an Wie apropos man Dich auch liebt Erblasst in kleinen Körbchen3 dann) Du jemals zwitscherst dieses Lied Von einst: Ig hab Halsweh wirklig – Im Jahr Achtzehnvierundneunzig.4 2 Mallarmé spielt hier mit der Mehrdeutigkeit des Wortes »nue« bzw. »nu(e)«, das als Substantiv »Wolke« und als Adjektiv »nackt« bedeutet. 3 »Bonnet« bezeichnet sowohl eine Haube oder Kappe als auch die Körbchen eines Büstenhalters. 4 Für Méry Laurent.

254 3 TOAST (Saint-Charlemagne, au collège Rollin, 2 février 1895) Comme un cherché de sa province Sobre convive mais lecteur Vous aimâtes que je revinsse Très cher Monsieur le Directeur Partager la joie élargie Jusqu’à m’admettre dans leur rang De ceux couronnant une orgie Sans la fève ni le hareng Aussi je tends avec le rire Écume sur ce vin dispos Qui ne saurait se circonscrire Entre la lèvre et des pipeaux A Vous dont un regard me coupe La louange haut notre Coupe TOAST (Saint-Charlemagne, am Collège Rollin, 2. Februar 1895) Wie ein Gesuchter der Provinz Nüchterner Gast und doch Lektor Wollten Sie mich zurück, ich bin’s Sehr geehrter Herr Direktor Gemeinsam der Freude frönen Bis ich in ihren Rang eindring Zu jenen, die Orgien krönen Ohne Bohne, ohne Hering5 Auch reiche ich an mit Lachen Geifernd Schaum auf den muntren Wein Wer wüsste schon haltzumachen Zwischen Flöte und Schwafelei’n Auf Euch, dessen Blick regelt maß Meine Lobrede hoch das Glas6

255 4 Le bachot privé d’avirons Dort au pieu qui le cadenasse — Sur l’onde nous ne nous mirons Encore pour lever la nasse Le fleuve sans autres émois Que l’aube bleue avec paresse Coule de Valvins à Samois Frigidement sous la caresse Ce brusque mouvement pareil A secouer de quelque épaule La charge obscure du sommeil Que tout seul essaierait un saule Est Paul Nadar debout et vert Jetant l’épervier grand ouvert. Ohne die Ruder schläft der Kahn Am Pfahl, der ihn fest verriegelt – Die Reuse, die wir hochziehn dann Auf der Woge, die uns spiegelt Der Fluss hat kein weitres Gefühl Als das Morgenblau mit Trägheit Fließt von Valvins nach Samois kühl Unter sanft gefühlter Zartheit So wie das jähe Bewegen Der Schulter, die von sich schüttelt Dunkles vom Schlaf, soll vergehen Die Weide selbst sich so rüttelt Ist Paul Nadar aufrecht und grün Er wirft das Netz weit hinaus kühn.7 5 Mallarmé rekurriert hier vermutlich auf christliche Bräuche. Zum Dreikönigsfest am 6. Januar wird in Frankreich traditionell ein Mandelkuchen verzehrt, in den eine Bohne oder kleine Figur eingebacken ist. Wer diese in seinem Kuchenstück findet, wird zum König oder zur Königin gekürt. Der »Hering« verweist hier möglicherweise auf eine mittelalterliche halb religiöse, halb folkloristische Prozession zu Aschermittwoch, in der – für die Krönung der Könige von Frankreich bekannten – Stadt Reims. Dabei zogen Kleriker an eine Schnur gebundene Heringe hinter sich her und versuchten, auf den Hering des Vorangehenden zu treten und gleichzeitig den eigenen vor den Tritten der Nachfolgenden zu schützen. Aschermittwoch markiert den Beginn der christlichen Fastenzeit, in der üblicherweise auf Fleisch verzichtet und stattdessen auf Fisch, namentlich Hering, zurückgegriffen wird. 6 Für Alphonse Rousselot, den Direktor des Collège Rollin in Paris. Mallarmé war dort als Englischlehrer tätig. Den Toast sprach er, zu diesem Zeitpunkt bereits berentet, beim Bankett zu Ehren Karls des Großen (Charlemagne) aus. Französische Schulen richten solch ein Fest jährlich aus, um Karl den Großen als Gründer vieler Bildungseinrichtungen zu würdigen. 7 Für Paul Nadar am 10. April 1892.

Stéphane Mallarmés (1842–1898) wenig bekannte Gedichte zu unterschiedlichen Anlässen und Gelegenheiten sind hier erstmals in der Fassung der Erstausgabe vollständig zweisprachig zu lesen, in einer gemeinschaftlich erarbeiteten Übersetzung, die auch die vielen Anspielungen und verborgenen Hinweise der stets adressierten Verse erschließt und kommentiert. Das Projekt der Vers de circonstance/Verse unter Umständen, für alle Lebenslagen passende, meist scherzhaft-ironisch gefärbte Worte zu finden, ist auch für die Geschichte der Avantgarden von besonderer Bedeutung, sind doch die Gedichte zu besonderen Feiern und geselligen Gelegenheiten größtenteils auf ungewöhnliche Materialien oder Dinge geschrieben: Die postum erschienene Buchausgabe von 1920 umfasst nahezu 500 Texte, die unter anderem auf Briefumschläge, Visitenkarten, Fotografien, Papierfächer, Calvados-Krüge und flache Kieselsteine geschrieben wurden. Sie enthalten galant formulierte Komplimente, spielen scherzhaft auf Eigenarten der Adressierten an, reflektieren poetisch ihren Schreibanlass und bilden so eine fortlaufende Sammlung seriell verfasster, minimalistischer Kunstwerke in meist vier oder nur zwei Versen. Die Übertragung ins Deutsche von Christin Krüger, Cornelia Ortlieb, Felicitas Pfuhl, Kristin Sauer, Katherina Scholz und Vera Vogel behält Silbenzahl und Reimschema bei und versucht, zugleich dem Wortlaut des Französischen nahezukommen und die eigentümlichen, oft wiederholt variierten poetischen Bilder und witzigen Anspielungen nachzuvollziehen. Zugunsten der Lesbarkeit ergänzen Anmerkungen und ein Namensverzeichnis die zum Verständnis nötigen Informationen. Die poetische Kunst des Dichters, Übersetzers und Avantgarde-Künstlers Mallarmé tritt in diesen vorgeblich mit leichter Hand nebenbei verfassten Gedichten noch einmal neu vor Augen, in einer besonderen Verbindung von höchster Abstraktion und dinglicher Konkretion, mit Esprit und Witz.

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