Blauer Informelle Malerei der Künstler der Quadriga nach 1945 Af bruuru u bbuchhch
Herausgegeben von der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Landesmuseum Mainz Bearbeitet von Karoline Feulner Sandstein Verlag
Informelle Malerei der Künstler der Quadriga nach 1945 Blauer
014 Grußwort Minister des Innern und für Sport des Landes Rheinland-Pfalz Michael Ebling 018 Dank Heike Otto | Birgit Heide Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz Landesmuseum Mainz 020 Karoline Feulner Blauer Aufbruch? Standortbestimmungen der abstrakten Malerei nach 1945 036 Christoph Zuschlag Die Quadriga-Ausstellung 1952 und ihre Bedeutung für das Informel in Deutschland 050 Eva Brachert Die Sprache des Informel Farbe, Raum und malerische Geste 066 Norbert Suhr Bemerkungen zu Otto Greis’ Künstlertheorie 078 Karoline Feulner Kirschbäume und Boote Die künstlerischen Anfänge von Otto Greis 108 Karoline Feulner »Abstrakt ist schöner« Frühe Impulse für Götz, Schultze und Kreutz 124 Karoline Feulner Der Blaue Aufbruch Die sogenannte Quadriga-Ausstellung 1952 154 Karoline Feulner Gestische Farbstürme und das Ziel der Formlosigkeit 174 Anne-Kathrin Hinz Informelle Grafik Experiment und eigenständiges Werk 198 Anne-Kathrin Hinz Malprozesse zwischen Spontaneität und Reflexion 215 Rezeption der Quadriga-Ausstellung (zusammengestellt von Christoph Zuschlag), Abkürzungen, Bibliografie, Leihgeber, Abbildungsnachweis, Impressum K A T A L O G E S S A Y S
Blauer Aufbruc Standortbestimmungen der abstrakten Malerei nach 1945 Karoline Feulner
ch? »Es war nicht so, dass wir gesagt hätten: ›Passt mal auf, jetzt ist der Krieg vorbei und wir wollen etwas ganz Neues machen.‹ Natürlich war es ein Neuanfang, aber dessen war man sich anfangs gar nicht bewusst. Wir waren ja alle ganz junge Kerle, das darf man nicht vergessen. Man hat uns anfangs auch gar nicht richtig ernst genommen.« So Kreutz rückblickend in einem Interview kurz vor seinem Tod.1
022 Neue deutsche Kunst (1947) in Mainz Mit der Ausstellung Neue deutsche Kunst war die Stadt Mainz eine der ersten, die bereits 1947 zeitgenössische deutsche Künstler:innen präsentierte und die erste, die dies in der französischen Besatzungszone realisierte (Abb.1 und 2).5 Initiator und Kurator war Rudolf Busch, der Leiter der Gemäldegalerie Mainz (heutiges Landesmuseum Mainz). Dieses Unternehmen gelang mit viel Ehrgeiz und Mühe, trotz der damals zu 80 Prozent zerstörten Stadt und den damit einhergehenden sehr schwierigen Lebensverhältnissen, die von Busch schlichtweg als »abnorm« bezeichnet wurden. Busch, der selbst erst seit dem 1. Juni 1945 wieder seine Tätigkeit an der Städtischen Gemäldegalerie aufgenommen hatte, von welcher er 1933 als »Halbjude« entbunden worden war, gelang es durch ein großes persönliches Engagement, diese Ausstellung in Mainz in der kleinen Kunsthalle am Dom (heutiges Haus am Dom) auszurichten.6 Der improvisierte Ausstellungsort war von der französischen Militärbehörde erst kurz vorher freigegeben worden.7 Die ursprünglichen Museumsräume der Städtischen Gemäldegalerie im ehemaligen kurfürstlichen Marstall waren zu stark zerstört und daher auf lange Zeit für Ausstellungen nicht nutzbar (Abb. 3).8 In der im Archiv des Landesmuseums Mainz überlieferten Korrespondenz wird eindrücklich geschildert, mit welchen Problemen Busch damals zu kämpfen hatte. So musste sich der Kurator nicht nur um die Transporte durch die verschiedenen Besatzungszonen mit deren komplizierten Bestimmungen kümmern, sondern den Bürgermeister etwa auch um vier Reifen und Benzin bitten, denn es mangelte an allem, selbst dem Papier für den Katalog.9 Das ambitionierte Ziel von Busch war es, mit dieser Schau »die Entwicklung der deutschen Malerei der letzten 3 Jahrzehnte d. h. im grossen ganzen der noch lebenden und wirkenden Generationen aufzuzeigen. Das Schwergewicht der Ausstellung soll in den Werken der Abstraktionskunst liegen.«10 Busch versuchte somit, Künstler einer großen Bandbreite zu versammeln, die vom Expressionismus und der gegenständlichen Malerei bis hin zur Abstrak- »Wohin geht unsere neue Kunst?«,2 ist in dem Eingangsessay des kleinen Katalogs der ersten Mainzer Nachkriegsausstellung mit zeitgenössischen Kunstschaffenden zu lesen. Eine Frage, die vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu heftigsten Grundsatzdebatten führte. Denn wie könne man nach der überstandenen Apokalypse überhaupt noch weiterarbeiten? Es herrschte der Wunsch nach einem künstlerischen Neuanfang, nach einer Befreiung von den in den letzten Jahren erfahrenen politischen Bevormundungen und der im »Dritten Reich« vorgeschriebenen Kulturpolitik. Der programmatische Titel Blauer Aufbruch (Kat.- Nr. 39) – eines der zentralen Gemälde von Otto Greis, das 1952 entstehen sollte – greift diese Hoffnungen auf und steht für eine der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten einer der durch die Doktrin des Nationalsozialismus stark beeinträchtigten jüngeren Generation. Zugleich war die damalige Ausgangslage im RheinMain-Gebiet für die Newcomer der deutschen informellen Malerei wie Karl Otto Götz, Otto Greis, Heinz Kreutz und Bernard Schultze beschwerlich und auch geprägt von den kulturpolitischen Vorstellungen der westlichen Besatzungsmächte, welche letztlich die Abstraktion als die neue Weltsprache einer freien Kunst propagieren sollten. Unabhängig von den vier Protagonisten der Quadriga3, denen diese Sonderausstellung gewidmet ist (vgl. ausführlich den Essay von Zuschlag, S. 36–49), soll im Folgenden mit dem besonderen Fokus auf Mainz eine Art Skizzierung der Standortbedingungen der jungen abstrakten Maler im Rhein-Main-Gebiet versucht werden, die alles andere als ideal waren. »Interesse für unsere Ausstellung ist nur im kleinen Kreise vorhanden, wir werden als kleines Fähnlein im Schatten (allerdings des Domes) kämpfen«, so die nüchterne Einschätzung des Kurators der bereits erwähnten Mainzer Ausstellung 1947.4 Auch wenige Jahre später sollte sich diese Situation nicht ändern.
023 Abb. 2 Titelblatt des Ausstellungskatalogs Neue deutsche Kunst, 1947, GDKE, Landesmuseum Mainz Abb. 1 Fathwinter | 2. Entwurf für das Plakat der Ausstellung Neue deutsche Kunst im Haus am Dom in Mainz, 1947, Gouache auf Papier, 60,4 × 40,7 cm, GDKE, Landesmuseum Mainz, Inv.-Nr. GS 2022/203
025 tion reichte. Zur Unterstützung für die Auswahl und Kontaktaufnahme vor allem zu den jüngeren Künstlern engagierte Busch den ursprünglich aus Mainz-Kastel stammenden abstrakt arbeitenden Franz Winter (besser bekannt unter seinem späteren Künstlernamen Fathwinter) (Abb. 4).11 Dieser kritisierte, dass in der Ausstellung auch »die ›alten Leute‹« ausgestellt werden und meinte damit die bereits vor dem Nationalsozialismus tätigen und inzwischen langsam in die Jahre gekommenen Expressionisten. Busch unterstreicht in seinem Antwortbrief, dass es ihm um eine »zusammenhängende Entwicklung« des Kunstschaffens der letzten 30 Jahre ginge und die Ausstellung somit keineswegs durch diese leiden würde.12 Buschs Ausstellungskonzeption trennte jedoch sorgfältig die »alten Leute«, die im Erdgeschoss gezeigt wurden, von den »abstrakten«, denen der erste Stock vorbehalten war.13 Somit waren in seinem Verständnis die noch gegenständlich geprägten Werke der Expressionisten im Erdgeschoss der Ausgangspunkt der Entwicklung der deutschen Kunst, die dann im Obergeschoss in die ungegenständliche Malerei als die aktuelle Strömung mündete.14 Ausgestellt wurde die große Anzahl von 215 Werken (Gemälde, Grafiken, Bronzen) von Max Ackermann bis Fritz Winter. Darunter die Hauptvertreter des deutschen Expressionismus wie beispielsweise Max Beckmann, Franz Marc, Alexej Jawlenski oder Oskar Kokoschka und Emil Nolde, aber eben auch Künstler der im Katalog als Vertreter der »Abstraktmalerei« titulierten Richtung wie Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay oder Otto Ritschl. Unter diesen waren zudem wenige regional bekannte Künstler wie Alo Altripp, Willy Fügen oder Theo Gebürsch zu finden (Abb. 5 und 6). Zahlreiche der gezeigten Künstler waren noch vor wenigen Jahren aus den Museen als »entartete Künstler« verfemt und entfernt worden. So erlitt auch die Gemäldegalerie der Stadt Mainz große Verluste: zwei Gemälde, eines von Max Beckmann, Im Hotel,15 von Willi Baumeister Der Springer16 sowie 54 expressionistische und neusachliche Druckgrafiken von unter anderen Max Beckmann, Otto Dix, Erich Heckel, Paul Klee, Emil Nolde, Max Pechstein und Franz Marc, verlor die Sammlung, also genau die Künstler, die Busch in seiner Ausstellung neben anderen wieder zeigte und die nur wenige Jahre vorher (1936) genau am gleichen Ausstellungsort in Mainz in der Propagandaausstellung Entartete Kunst zu sehen waren.17 Busch schien mit seiner Ausstellungskonzeption der Kunst der letzten 30 Jahre somit eine Lücke schließen zu wollen, indem er einerseits die ehemals »entarteten« rehabilitierte und zugleich mit den abstrakten Künstler:innen die aktuellen Kunstentwicklungen darlegte. Busch wurde allerdings auch mit Vorbehalten bezüglich einer Ausstellungsbeteiligung konfrontiert, so vor allem von Ernst Wilhelm Nay. Dieser hatte erst seit zwei Jahren als Kriegsheimkehrer unweit von Mainz in Hofheim im Taunus durch die Netzwerkerin, Sammlerin und spätere Galeristin Hanna Bekker vom Rath sein Atelier im ehemaligen Atelierhaus der Malerin Ottilie W. Roederstein eingerichtet.18 Der Kurator versuchte, diesen zu überzeugen, indem er ihm schrieb: »Allein Sie machen sich doch keine rechte Vorstellung von unserer Ausstellung. So sehr zweitrangig ist solche denn doch nicht und ich glaube, dass Ihr Besuch in Mainz dazu beitragen wird, Ihre Ansicht zu revidieren. Der Fehler dieser Ausstellung von der Mainzer Bourgeoiseite betrachtet, ist der, dass sie gar nicht provinziell ist, denn die Ausstellung passt nicht nach Mainz. Sie wird hier nicht gewürdigt und nur von einigen Kennern des Links-und rechts-Rheins richtig aufgenommen, ja bestaunt.«19 Abb. 3 Die zerstörten Museumsräume der Städtischen Gemäldegalerie im ehemaligen kurfürstlichen Marstall, Große Bleiche in Mainz, Januar 1953 Abb. 4 Fathwinter | Komposition abklingend, 1952, Mischtechnik/Öl auf Pappe, 74 × 102 cm, GDKE, Landesmuseum Mainz, Inv.-Nr. 88/17
Die Sprach des Inform Farbe, Raum und malerische Geste Eva Brachert
e mel »Wenn man nichts sieht, schaut man länger hin« Gerhard Hoehme, 19791
052 Bekenntnis zum Romantisch– Expressiven 1957/58 von Gerhard Hoehme Die Sprache des Informel sprachen in Deutschland nicht nur in Frankfurt, sondern auch in Düsseldorf und München in den Jahren von 1952 bis 1959 verschiedene junge Künstler:innen. Im Vergleich zu den Arbeiten der Quadriga-Künstler soll im Folgenden an dem Gemälde Bekenntnis zum Romantisch-Expressiven (Abb. 1) aus dem Jahr 1957/58 von Gerhard Hoehme gezeigt werden, dass die Sprache des Informel vielfältig ist. Sie äußert sich nicht nur in individuellen künstlerischen Handschriften, in der Wahl technischer Ausdrucksmittel, sondern in intellektuellen Weltbildern und Empfindungen hinter den neuen Formen. Die Rückschau zeigt, dass die informelle Malerei in Deutschland nicht als eine Stilrichtung im Sinne einer Sezession zu beschreiben ist. Der Beginn der Moderne seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist durch sezessionistische Abspaltungen aus den Akademien gekennzeichnet. In konsequenter Fortsetzung fanden hiervon ausgehend die Gründungen von Künstlergruppen wie die Brücke2 und Der Blaue Reiter3 statt. Im Fortgang führte der Weg der Moderne in den 20er-Jahren zur Gründung des Bauhauses (1919). Selbst wenn daraus nicht wie geplant eine Schule erwuchs, ist das Schaffen der beiden Bauhaus-Meister Wassily Kandinsky und Paul Klee als Einführung der Abstraktion in die Malerei einzustufen. Weitergeführt im Werk von Willi Baumeister, mit abstrakt-geometrischen Grundformen und zeichenhaften Elementen sowie der reinen Farbe in ihrer puren Materialität, gab es für die junge Generation der Künstler nach 1945 ausreichend Studienstoff. Individueller Ausdruckswille als Zeichen einer unbeschränkten Freiheit wurde verknüpft mit einer neu entwickelten Technik im Prozess des Malens. Hinzu kamen Einflüsse der zeitgenössischen Kunst aus Paris, die diese Generation eine moderne abstrakte Kunst erschaffen ließ. Die Künstler vereinte die gemeinsame Zielsetzung. Dazu gehörten auch die gesuchte Nähe und der Austausch mit Kunstkritikern und Galeristen, die für die Avantgarde warben, vermittelten oder gegen die Bürgerlichkeit polemisierten.4 Diese Rezensenten gaben der Bewegung einen Namen: Informel. Die Künstler waren an Ausstellungen interessiert, in denen sie die Möglichkeit erhielten, gemeinsam nach außen aufzutreten, um so die Öffentlichkeit für ihre Kunst zu interessieren. Sie hatten weder ein Programm noch sonst etwas Bindendes oder Ideologisches ähnlich einem Manifest oder einen selbst gewählten Namen, wie bei den Künstlergruppen zwei Generationen zuvor. Geistesverwandtschaften und individuelle, einschneidende Kriegserlebnisse bildeten die Grundlage für den Wunsch, gemeinsam auszustellen. Die Künstler erhielten hierfür zunächst nur auf Einladung von innovativen Galeristen in verschiedenen Städten Westdeutschlands die Möglichkeit, ihre Kunst zu präsentieren.5 Allerdings bejubelte das Deutschland der 50er- und 60er-Jahre die gestische Malerei der Informellen nie wirklich.6 Eine gewisse Ambivalenz begleitete das Informel von Anfang an. So wurde diese Kunst, die schon bei erster Betrachtung wie künstlerische Dokumente eines Aufstands gegen die reine Abbildhaftigkeit und klassische Formgebung in der Malerei erschien, von zeitgenössischer kunstwissenschaftlicher Seite mit verschiedenen Etiketten belegt: Tachismus, Abstrakter Expressionismus, Informel oder einfach »Un art autre«. Werner Haftmann umschreibt den deutschen Beitrag zur Kunst nach 1945 mit »einem ausgesprochenen romantischen Charakter. Die Idee von der ›mystisch-innerlichen Konstruktion‹ der Welt ist eigentlich in allen ihrer Meister wirksam. Das Orphische und Naturmythische, die Verwurzelung des Menschen im Kosmischen [...] Das wirkt auf Farbe und Form zurück [...] Die deutsche Malerei gab dem ganzen europäischen Stilentwurf die ideelle Tiefe. Was ihm an formaler Kraft und Klarheit nötig war, fügte das Formgenie Frankreichs hinzu.«7 Die Autonomie des Malens war eine neue, eine solch gestische Malerei hatte es zuvor in der deutschen Malerei nicht gegeben: Die Farbe wird gegeneinandergedrückt und -geschoben, bis sie sich auftürmt, und im nächsten Augenblick verwirbelt sie so, dass Räume entstehen, die aber wenig mit Dreidimensionalität im Sinn von Wiedergabe einer vorgegebenen Wirklichkeit zu tun haben, sondern rein assoziativ sind. Die Farbe wird Bildthema, sie scheint
053 Abb. 1 Gerhard Hoehme | Bekenntnis zum Romantisch-Expressiven, 1957/58, Öl/Nessel, 100 ×165,5 cm, GDKE, Landesmuseum Mainz, Inv.-Nr. 88/2
054 formlos aus der Bildfläche herauszuwachsen, so wie sie vorgibt, rasend schnell in der Bildtiefe zu verschwinden. Diese Befreiung von malerischen Regeln, von akademischem Formalismus und bürgerlichen Traditionen der Malerei ließ dabei sogar die abstrahierten Formen oder geometrischen Rhythmen und Linien der Anfänge der abstrakten Malerei von W. Kandinsky, P. Klee und J. Itten hinter sich. Das »Bild« erschien mit einem Mal offen. Ohne fixierten Inhalt, zumindest nicht mehr ohne Weiteres allein über den Verstand greifbar, wurde es zu einem Schauplatz für das Suchen und Finden von Betrachtenden und Künstler, erfahrbar durch emotionales Erleben des Bildgeschehens. Kunst im Wirtschaftswunderland War dies der Beginn einer Kunst nach der Stunde Null, die Ausdruck einer neuen, ideologisch nicht mehr zu vereinnahmenden Freiheit werden sollte, geträumt von nur sich selbst verantwortlichen Individuen?8 Bestand die von den Künstlern gesuchte neue Freiheit der Kunst in der gewünschten Mitarbeit des Publikums und in dem immer unabgeschlossenen, immer neuen Geschehen der »lebendigen Farbe«9? Geschieht die Verwendung der lebendig fließenden Farbe, deren scheinbar impulsive Verarbeitung zu reliefartigem, erhöhtem Farbauftrag unter Einbeziehung des Unbewussten des Malers? Das Unbewusste, das die Farbe dazu bringt, sich den Raum jenseits von Leinwand und Keilrahmen zu erobern, nämlich dort, wo sich die Betrachtenden befinden. Kunstaffine Einzelgänger wie Klaus Franck in Frankfurt oder JeanPierre (Karl) Wilhelm10 in Düsseldorf boten den informellen Künstlern eine Plattform, von der aus sie in ihrem Sinne bildend wirken konnten. Aber auch ganz merkantile Beweggründe spielten hier eine Rolle, da sie vermittels dieser Präsentation ihre Kunst zu verkaufen hofften. Auf die erste Ausstellung der sogenannten Quadriga 1952 in der Franck’schen Zimmergalerie folgend, bot am 2. Mai 1957 die erste Ausstellung in der Galerie 22 den Informellen eine weitere Gelegenheit, gemeinsam auszustellen. Hoehme und Wilhelm schrieben zu ihrer Wahl der Künstler in dieser Präsentation: »[...] von denen wir überzeugt waren, dass sie den Zeitgeist repräsentieren: Karl Otto Götz, Emil Schumacher, Bernard Schultze, Karl Fred Dahmen, Heinz Kreutz, Otto Greis, Winfried Gaul und Paul Jenkins.«11 Die Galerie 22 in Düsseldorf schloss 1960, die Zimmergalerie Franck in Frankfurt stellte ihre Tätigkeit 1961 ein. Die Schließung dieser Galerien bedeutete für die Künstler des Informel, dass nun jeder seine eigenen Wege ging und sich mit unterschiedlichem persönlichem Erfolg den deutschen Kunstmarkt eroberte.12 Zwischen diesen ersten Ausstellungen und der ersten Schau informeller Kunst in einem deutschen Museum vergingen jedoch mehrere Jahre. 1956 erhielt Gerhard Hoehme seine erste Einzelausstellung im Kaiser-Wilhelm-Museum in Krefeld, und die Wiesbadener Ausstellung: couleur vivante – lebendige farbe stellte erstmals den Quadriga-Künstlern französische Zeitgenossen gegenüber. 1957/58 folgte in der Kunsthalle Mannheim eine weitere Ausstellung: Eine neue Richtung in der Malerei, an der, neben der Quadriga und der Gruppe 53, Künstler der Gruppe ZEN 49, die sich in München zusammengefunden hatte, teilnahmen.13 Damit erhielt die deutsche informelle Malerei erstmals gemeinsam eine Plattform. Die documenta II, 1959, unter der Leitung von Werner Haftmann, war bemüht, unter der Überschrift Kunst nach 1945 als internationale Kunstausstellung alle neuen Kunstrichtungen zu Wort kommen zu lassen. Es gelang jedoch kein repräsentatives Bild der Kunst im Nachkriegsdeutschland. Arbeiten auf riesigen Leinwänden der abstrakten Expressionisten aus den USA drängten die deutschen Informellen in der Wahrnehmung in den Hintergrund. Zwar bewirkte die Kasseler Schau in den folgenden Jahren vermehrte Museumsausstellungen und persönliche Arrivierung einzelner Vertreter dieser deutschen Avantgardekunst,14 jedoch scheint die documenta II im Rückblick weniger der Beginn als beinahe schon ein Abgesang der informellen Strömung in Deutschland gewesen zu sein. Bald gaben Zero und die Pop-Art den Ton an, damit war die Abstraktion in der Malerei jedoch nicht abgeschafft. Vielmehr gilt bis heute, dass die Moderne ohne die Kraft der malerischen Geste, den Rhythmus und die gestaltende Wirkung der Farbe der Informellen nicht zu denken ist.
055 Menschenbild in unserer Zeit – erstes Darmstädter Gespräch 1959 Kaum war das Informel 1952 an die Öffentlichkeit getreten, befördert durch Galeristen, Kunstkritiker und Malerkollegen, entbrannte in diesen Kreisen eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Zukunft der deutschen Kunst. Die vorsichtigen Schritte der jungen deutschen Maler zu einem Aufbruch weg von allen Regeln fielen zusammen mit einem schwelenden Streit zwischen Anhängern der figurativen Malerei und denen der gegenstandslosen Kunst, der seinen intellektuellen Höhepunkt im ersten der Darmstädter Gespräche (15.–17. Juli 1950) gefunden hatte. Dieses war dem Menschenbild in unserer Zeit gewidmet. Der konservative und NS-belastete Kunsthistoriker Hans Sedlmayr legte in seiner Programmrede »Über die Gefahren der modernen Kunst« den der Abstraktion innewohnenden Verlust aller humanistischen Werte15 dar. Die polemische Gegenposition hatte der Maler Willi Baumeister in seinem 1947 erschienenen Buch Das Unbekannte in der Kunst bereits bezogen.16 Die Verfechter der Moderne waren sich in ihrer allgemeinen Verteidigung der modernen Kunst gegen Sedlmayr und den Konservativismus in der Kunstwissenschaft einig, aber nicht darüber, wo die moderne Kunst aktuell gerade stand. Die Ziele der Kunst waren früher das Abbild und heute das Sinnbild. Musste die Methode der Kunstwissenschaft zur Deutung von Kunst sich nun wandeln? Möglich wäre das, indem sie nicht mehr in einer chronologischen Schau von vorangegangenen Zeiten bis zur Gegenwart die Deutungslinien zöge. Vielmehr solle vom Jetzt, aus dem Erlebnis der Gegenwart heraus, die Wissenschaft zu völlig anderen Methoden und tieferen Erkenntnissen der gegenwärtigen Kunst gelangen.17 Man versuchte offenbar vonseiten der Kunstwissenschaft, die zwölf Jahre staatlich verordnete Einheitskunst aus der wissenschaftlichen Analyse der Kunst auszublenden. Befürworter und Gegner moderner Kunst sprachen gleichermaßen von der vergangenen Krise der Kunst und setzten pauschal auf deren Erneuerung. Tradition und Schulen sollten nun nicht mehr die entscheidende Rolle spielen, sondern die persönliche Intuition der Schaffenden. Diesen Sinnfindungsprozess der Moderne als Ergebnis aus dem Darmstädter Gespräch von 1950 fasst der Kunstkritiker Will Grohmann 1953 zusammen: »Wir kommen mit der üblichen Terminologie schwer aus und haben keine neue entwickelt. Bei einigen Künstlern tritt der Rhythmus in einer nicht da gewesenen Weise als das Konstituierende der Bildform auf.«18 »Farbe als konkreter Gestaltwert«19 Farbe als Bildwert gemeinsam mit Rhythmus und Gestik verflochten Mal- und Zeichenspuren miteinander. Keine fest umrissenen Formen oder Linien, die einen Raum darstellten, sondern die Bearbeitung des jeweiligen Malmaterials bestimmten das Werden eines informellen Kunstwerks. Bisher beurteilte man Farbe nur als Farbklecks. Nun bestand die Realität der Farbe nicht mehr darin abzubilden, sondern sie erhielt einen eigenen Gestaltwert. Bekenntnis zum Romantisch-Expressiven, titelte Gerhard Hoehme sein 1957/58 entstandenes Gemälde, das in der Galerie 22 gemeinsam mit den Arbeiten der Gruppe 53 zu sehen war (Abb. 1). Hoehme gelang es hier, ganz im Haftmann’schen Sinne, mittels des Eigenwerts der Farbe und in ihrer Bearbeitung gleichzeitig Raumwirkung, Atmosphäre, Bewegung und Geschwindigkeit zu schaffen und die »›mystisch-innerliche Konstruktion‹ der Welt vor den Augen des Betrachters [zu] entfalten.«20 Gerhard Hoehme, 1920 in Greppin bei Dessau geboren, wird mit 19 als Flugzeugführer und Jagdflieger zum Kriegseinsatz in Afrika, Russland und Europa eingesetzt werden.21 Von 1948 bis 1951 studierte er Gestaltende Kunst an der Burg Giebichenstein in Halle. Dies führte ihn zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Weltsicht und abstrakten Kunst von Paul Klee und Lyonel Feininger, den beiden Bauhaus-Meistern, die an der Burg Giebichenstein das Kunstwollen mit ihrer linearen Abstraktion maßgeblich geprägt hatten.
Kirsch- bäume und Boote Die künstlerischen Anfänge von Otto Greis
080 Abb. 1 Ernst Wilhelm Nay | Zwei Köpfe, 1945, Öl auf Holz, 48 × 57 cm, Museum Wiesbaden, Dauerleihgabe Archiv Nachlass Hanna Bekker vom Rath D E R Blaue Aufbruch vollzog sich bei Otto Greis als langer und suchender Prozess. Realistische Darstellungen von blühenden Kirschbäumen, Eisbären im Frankfurter Zoo oder Stillleben mit Äpfeln, wobei Letztere stark an Paul Cézanne erinnern, sind die ersten künstlerischen Versuche, die durch die Einberufung in den Kriegsdienst abrupt unterbrochen wurden (Kat.-Nrn.1–8).1 Seine Entscheidung, Künstler zu werden, fiel somit in eine denkbar ungeeignete Zeit, in der durch die Doktrin des Nationalsozialismus keine freie künstlerische Entwicklung mehr möglich war. Die Reichskammer hatte das kulturelle Leben gleichgeschaltet und somit die junge, schöpferisch tätige Generation in eine fatale Isolation gedrängt. Otto Greis hatte dennoch den festen Willen, weiterzumachen: Die prägendste Person wurde für ihn Ernst Wilhelm Nay, den er direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs kennenlernte und mit dem er eine enge Freundschaft entwickelte (vgl. Essay Feulner, S. 27–29). Dieser regte in erster Linie seinen Abschied von der Gegenständlichkeit und eines perspektivisch konstruierten Bildraums an. Laut Nays Definition besteht seine Kunst aus der »absoluten Form und reinen Lebenskraft«. »Malen, das heißt aus der Farbe das Bild formen, denn die absolute Farbe ist das Leben der Malerei, Ausdruck der Ursprünglichkeit, die wiedergewonnen ist«.2 Dabei müssen die Farben nach Farbkreisen zusammengefasst geordnet werden. Diese beiden Grundmerkmale der absoluten Form und der Farbe werden auch zum Credo für die Kunsttheorie von Otto Greis, die ab den 1960er-Jahren in der Schaffung eines »Bildraumkörpers« mündet.3 Dieser erzielt einen räumlichen Eindruck allein mithilfe von Farbwirkungen und flächenparallel gesetzten Formen. Daher verwundert es nicht, dass es zahlreiche Anklänge und Verwandtschaften zu zeitgleich von Nay gemalten Werken gibt. So beispielsweise die Serie der Baumlandschaften (Kat.-Nrn. 10–14), die eine typische Formauflösung à la Nay zeigen. Zudem verwendet er hier die von Nay adaptierte Malweise, welche einerseits die Linie durch einen dynamischen Duktus auflöst und andererseits durch ornamentale Punkte und Striche die Formung der einzelnen Flächen betont.4 Durch die Titel bleiben Assoziationen zu den als Anregung dienenden Taunuslandschaften erhalten. Die verschränkten Formen, Farben und Schattierungen bewirken, dass der lebendige Charakter der Natur, losgelöst von dem realistischen Abbild, umso mehr aus den Gemälden heraus pulsiert. Neben diesen Frühwerken, in welchen sich Greis in erster Linie mit der Auflösung der Form beschäftigt und die Farbigkeit auf wenige dunkle Töne beschränkt, stehen im Kontrast Arbeiten wie Ohne Titel (Kopf), die eine ebenso bunte Farbpalette und wieder eine vergleichbare Formauflösung wie beispielsweise die Hekate-Bilder von Nay aufweisen (vgl. Abb. 1, 2 und Abb. 7, S. 28).
081 Abb. 2 Otto Greis | Ohne Titel (Kopf), 1948, Pastell auf Pappe, 39,1 × 29,1 cm, GDKE, Landesmuseum Mainz, Inv.-Nr. GS 2014/104 1 Von 1934 bis 1938 erhält Otto Greis Privatunterricht bei Johann Heinrich Höhl. Dieser hatte am Städelschen Kunstinstitut studiert und dort einen Lehrauftrag. Die Tierstudien sind während dieses Unterrichts im Frankfurter Zoo entstanden. M. Maier-Speicher (2013), S. 13–15. 2 Ernst Wilhelm Nay in: Ausst.-Kat. Mainz (1947), S. 12. 3 Greis spricht ab 1960 von der Konzeption von »Bildraumkörpern«. Vgl. E. Siegert (1999), S. 23; Brief von Otto Greis an Karlheinz Gabler vom 23. 10. 1960, in: Ausst.-Kat. Mainz (1989), S. 8. 4 U. Geiger (1987), S. 41–43. Weitere Referenzpunkte sind für Greis keine Geringeren als etwa Pablo Picasso, Georges Braque, aber auch Paul Klee, mit welchen er sich ebenso intensiv in seinem Frühwerk auseinandersetzt. Der Prozess, in einer Serie des gleichen Motivs die Gegenständlichkeit zu überwinden, wird beispielsweise bei den Booten deutlich: Die 1948 entstandenen Auseinandersetzungen mit diesem Thema zerlegen die mächtigen und starkfarbigen Boote in ihre einzelnen Grundformen, Innen- und Außenraum des Schiffskörpers werden durch wenige Schraffuren skizziert, Perspektiven kippen, dennoch bleibt das Boot grundsätzlich identifizierbar. Im letzten Werk der Serie bleiben nur noch ineinander verschränkte farbige Flächen. Auch das vorher noch bewegt skizzierte dunkelblaue Meer ist zur reinen Flächenform geworden und als solches nicht mehr erkennbar (Kat.-Nrn. 15–18 und 23). Des Weiteren entstehen kubistisch beeinflusste Stillleben und wie schwebend erscheinende Städte mit fantastischen Kathedralen und verschlungenen Wegen, die im Sinne Paul Klees aus Elementarformen wie Halbkreisen, Rauten und Dreiecken aufgebaut sind (Kat.-Nrn. 9, 19–22). Die komplette Befreiung von diesem stilisierten Formenvokabular wird Greis wenige Jahre später mit dem Blauen Aufbruch gelingen (Kat.- Nr. 39).
083 1 | Otto Greis Blühende Bäume, 1935, Öl auf Leinwand, 54 × 70 cm, GDKE, Landesmuseum Mainz, Inv.-Nr. DL 2008/2, Nachlass Otto Greis
084 2 | Otto Greis Getreidefelder am Stadtrand, verso: mein Vater, um 1935, Rohrfeder, Pinsel auf Papier, 45,5 × 60,7 cm, GDKE, Landesmuseum Mainz, Inv.-Nr. GS 2002/6
085 3 | Otto Greis Blühender Kirschbaum, 1936, Feder auf Papier, 29,2 × 23 cm, GDKE, Landesmuseum Mainz, Inv.-Nr. GS 2014/96 4 | Otto Greis Kirschblüten zu Weihnachten 49, 1949, Feder auf Papier, 24,2 × 22 cm, Widmung: »Kirschblüten Mutti z. Weihnachten 49«, GDKE, Landesmuseum Mainz, Inv.-Nr. GS 2014/95
Gestische Farbstürme und das Ziel der Formlosigkeit
156 S O »[...] in farbigem Gewölk explosiven Blütenstaubs, das symphonisch über weite Himmel dahinweht und kreisend wie Gestirne leuchtet«,1 demonstrierte Otto Greis mit dem Blauen Aufbruch den Einsatz der reinen Farbmaterie, die gleichsam wie »kosmische Gewalt«2 einschlug. Losgelöst von jeder darstellenden Funktion symbolisiert die Farbe hier den Vorgang eines dynamischen Aufbruchs in eine neue Malerei, die mit allem Bisherigen gebrochen hatte. Berücksichtigt man den damaligen Zeithintergrund – alle vier der Quadriga-Künstler waren als Soldaten im Krieg, Frankfurt bzw. Deutschland war zu großen Teilen noch zerstört –, gewinnt dieser Titel eines neuen Konzepts einer Malerei umso mehr an Bedeutung: Diese informelle Malerei war ohne Struktur und Form, wie die zerstörte Gegenwart, und von dem überlieferten klassischen Formprinzip hatte man sich in einer Art Befreiungsakt schrittweise gelöst. »Für mich war das Informel eine Notwendigkeit, die Vergangenheit wegzuschlagen«, so Otto Greis rückblickend.3 Die Farbe hatte sich von ihren traditionellen Aufgaben in diesem Prozess emanzipiert. Sie charakterisierte keine Natur mehr, wie in den wenige Jahre vorher entstandenen Baumlandschaften von Greis (Kat.-Nrn. 10–14), Perspektive bzw. eine Raumtiefe wurde nun allein durch die vor- bzw. zurücktretenden Wirkungen der einzelnen Farben erzeugt. Wobei die Farbigkeit bei den 1952 in der Quadriga-Ausstellung gezeigten Gemälden sehr zurückhaltend war. Es dominierten bei Greis und Schultze vor allem dunkle, sehr erdige Schwarz-, Grau- und Ockertöne, die an Gesteinsstrukturen erinnerten. Einzelne Grundfarben wie Rot und Blau wurden sehr sparsam eingesetzt und leuchteten umso mehr aus den dunklen Farbschichten heraus. Karl Otto Götz beschränkte sich bei seiner Konzentration auf einen schnellen Bewegungsduktus, bei seinen letzten Ölbildern sogar ganz auf monochrome Töne (Kat.-Nrn. 40– 42). Nur Kreutz bildete mit seinen leuchtenden planetarischen Landschaften eine Ausnahme (vgl. Abb. 1). Abb. 1 Heinz Kreutz | Planetare Landschaft, 1952, Öl auf Leinwand, 90,6 × 115,4 cm, Städel Museum, Inv.-Nr. LG 67 (Dauerleihgabe aus Privatbesitz)
157 Dieses Konzept eines sehr gezielten, aber sparsamen Einsatzes der Farbe unter der Verwendung nur weniger Primär- und Sekundärfarben behielten Greis und Götz bei (vgl. etwa Kat.-Nrn. 54, 55 und 62–64). Der Farbauftrag wird dabei immer mehr radikalisiert, so etwa von Greis reliefartig aufgetragen und zerkratzt, sodass die Oberflächen fast wie aufgerissene Wunden wirken (Kat.-Nrn. 61 und 93). Götz schleuderte in seinem schnellen Malakt die Farbmaterie auf die Leinwand, zerquetschte sie mit übergroßen Pinseln, mischte sie, um sie dann wieder von Neuem in einem Farbwirbel explodieren zu lassen (Kat.-Nr. 64). Charakteristisch sind dabei starke Hell-Dunkel-Kontraste und das Spiel mit Negativformen.4 Schultze entwickelte seine vegetativ anmutenden Landschaften weiter und malte die Farbe nicht mehr auf, sondern goss diese über die auf die Leinwand eingeklebten oder montierten Drähte, Holzteile oder Stroh. Durch diesen Vorgang entstanden zufällige Farblachen und -täler. Der Trocknungsprozess riss diese Oberfläche auf und schuf neue Strukturen und Reliefierungen: Die Malfläche wurde zum Farbrelief.5 Zugleich wuchsen seine Gemälde hinein in die Dreidimensionalität (Kat.-Nrn. 91, 92 und 95). Kreutz war bereits bei der Quadriga-Ausstellung derjenige, der die buntesten Farben mit den stärksten Kontrasten verwendete. Darauf aufbauend entwickelte er sein Farbkonzept weiter, bei dem diese zum alleinigen Ausdrucksmittel wird.6 Demnach sollen durch ihre Gruppierungen und Ordnungen Klänge und Räume evoziert werden (Kat.-Nrn. 57 und 58). Kreutz beschäftigte sich immer wieder intensiv mit Goethes Farbenlehre und anderen Farbtheorien und verfasste seine eigene Farbenlehre, in welcher er ein räumliches Farbmodell entwickelte (1955–1965).7 Neben dem Ziel aller vier, sich von den klassischen Prinzipien von Form und Komposition abzusetzen, war es vor allem auch der radikale Malakt und damit einhergehend die unkonventionelle Farbverwendung, die das deutsche Informel der Quadriga so einzigartig machte und bisherige Bildgrenzen erweiterte. 1 Godo Remszhardt, Quadriga malerische Avantgarde, in: Frankfurter Rundschau, 30. 12. 1952, zit. nach: M. de la Motte (1976), S. 31. 2 Ebd. 3 Ausst.-Kat. Ludwigshafen (1996), S. 10. 4 U. Geiger (1987), S. 158; Rissa (2004), S. 40. 5 M. Schieder (2005), S. 270; J. Mattern (2015), S. 54. 6 »In meiner Arbeit benutze ich einzig und allein Farbe als künstlerisches Gestaltungsmittel.« Heinz Kreutz, Zu meinen Bildern, Katalogvorwort der Ausstellung der Galerie Heseler, München (23.3.– 6. 5. 1972), zit. nach: U. Geiger (1987), S. 124. 7 U. Geiger (1987), S. 155–156.
56 | Otto Greis Malerei schwarz-weiß, 1954, Öl auf Leinwand, 19 × 20 cm, GDKE, Landesmuseum Mainz, Inv.-Nr. DL 2008/30, Nachlass Otto Greis
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160 57 | Heinz Kreutz Ohne Titel, 1958, Öl auf Leinwand, 135,5 × 60,5 cm, Privatsammlung Bielefeld 58 | Heinz Kreutz Hymne an das Licht, Schwarzes Bild, 1958, Öl auf Leinwand, 180 × 180 cm, Galerie F.A.C. Prestel OHG, Bad Vilbel
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Malprozesse zwischen Spontaneität und Reflexion
200 kann ich die geschlossenen Formelemente auflösen und sie sozusagen zum Explodieren zu bringen?«,1 fragte sich K. O. Götz zu Beginn der 1950er-Jahre. Der Maler war auf der Suche nach einem Malverfahren, dass es ihm möglich machte, seine abstrakten Formübungen (»Fakturen«) in eine schnelle Handschrift zu übertragen. Dabei experimentierte er mit verschiedenen Techniken von der Zeichnung über die Gouache bis hin zur Monotypie (Kat.-Nrn. 31, 48, 49 d und 55). Im Sommer 1952 stieß er schließlich zufällig darauf, dass eine Grundierung des Bildträgers mit Kleister es ermöglicht, aufgetragene Farbe leichter mit Messer oder Rakel zu bearbeiten oder ein nicht zufriedenstellendes Ergebnis einfach vom Malgrund abzuwischen.2 Er entwickelte einen dreiteiligen Malprozess: Ausgangspunkt ist die Meditation eines Bildschemas, das binnen Sekunden mit einem Pinsel »niedergeschrieben« wird (vgl. Abb. 1). Es folgen eine zweite Niederschrift mit der Rakel und ein dritter Eingriff mit dem leeren Pinsel. Zwischen den Schritten stehen »Kontrolle des Geschehenen, Meditation des Kommenden« und am Ende »Anerkennung oder Auslöschung«.3 Bisweilen bereitete der Künstler seine Gemälde mithilfe von Skizzen gedanklich vor oder nutzte sie, um den Bildaufbau nachträglich zu studieren.4 Götz entwickelte Bildschemata wie zum Beispiel Wirbel, durchbrochene Diagonalen (Kat.-Nrn. 64 und 89) sowie dominierende Horizontalen (Kat.-Nr. 88), die er verinnerlichte und in immer neuen Variationen durch einen kontrollierten Impuls auf die Leinwand brachte. W I E Abb. 1 Karl Otto Götz beim Malen seines Bildes Tudal, Düsseldorf, 1959, Archiv K. O. Götz und Rissa-Stiftung »
201 Dem gegenüber steht das Vorgehen Bernard Schultzes. Er beschrieb seinen Malprozess folgendermaßen: »Sich treiben lassen, wohin das Bild will, soviel wie möglich dem Zufall überlassen, sowenig wie möglich Kontrolle [...]«5. Teils von mehreren Punkten ausgehend, tastete er sich über den Bildträger voran, drehte ihn mitunter mehrfach und ließ die Farbformen spontan entstehen. Das Ergebnis sind labyrinthische Bildwelten aus selbstangerührter Farbmasse und Farbbrei, die teils mit den Händen aufgetragen, teils mit skripturalen und später mit plastischen Elementen versehen wurden (Kat.-Nrn. 91, 92, 94 und 95). Inspiriert von surrealistischen Methoden und dem Ausschalten der Ratio, wurden für Schultze das traumhaft Deutende, das nicht endende Suchen und Erkennen bis ins Spätwerk hinein bestehende Eigenschaften des malerischen Prozesses und der Bildbetrachtung.6 Während für Schultze die freie Entfaltung der Farbformen zentral war, betonte Otto Greis stets, dass der Zufall für ihn nur als eine »fruchtbare Störung«7 fungierte. Ab 1952 nutzte Greis den ungeformten Farbfleck als Ausgangspunkt der Bildentstehung. Er bildete die Grundlage zur Verdichtung und Neustrukturierung, wobei Greis während des Malprozesses auf zufällig entstandene Zerstörungsprozesse und Überschneidungen der Farbformen reagierte und sie gestalterisch einsetzte (z. B. Kat.-Nrn. 87 und 90).8 Seine Malweise entsprach demnach wortwörtlich der Bezeichnung »tachistisch«, abgeleitet vom französischen »la tache« (dt. der Fleck). Gleiches gilt für Heinz Kreutz, der sich auf das gestalterische Mittel der Farbe konzentrierte. Die Wirkungsweisen von Farbbeziehungen, ihre Harmonien und Kontraste untersuchte er in seinen informellen Bildern durch die Auflösung klar umrissener Formen (z. B. Kat.-Nrn. 67 und 69).9 Die beiden Pole, Spontaneität und Reflexion, galten den Künstlern mit unterschiedlicher Gewichtung als zentrale Eigenschaften der malerischen Prozesse. In ihnen veranschaulicht sich Jürgen Claus’ Bestimmung des Informel, das »in seinen Spannungen, seinen Antinomien zu sehen« ist, »als Nicht-Form und als Möglichkeit oder Offenheit zur Strukturierung«.10 1 K. O. Götz (1983), S. 515. 2 K. O. Götz (1983), S. 515. 3 K. O. Götz (1959), o. S. 4 M. Klant/C. Zuschlag (1994), S. 58 f. 5 Ausst.-Kat. Köln/Bologna/Budapest/Antwerpen (1994), S. 9. 6 Vgl. E. Müller-Remmert (2012), S. 15; M. Klant/C. Zuschlag (1995), hier S. 7, 12 f. 7 U. Geiger (1994), S. 75. 8 U. Geiger (1994), S. 46 f. 9 U. Geiger (1994), S. 145. 10 J. Claus (1965), S. 27.
87 | Otto Greis Malerei schwarz-weiß, 1954, Öl auf Leinwand, 19 × 20 cm, GDKE, Landesmuseum Mainz, Inv.-Nr. DL 2008/27, Nachlass Otto Greis
203
204 88 | Karl Otto Götz Krakmo, 1958, Öl auf Leinwand, 175 ×145 cm, Museum Wiesbaden, Inv.-Nr. M 770
205 89 | Karl Otto Götz Bild vom 27. 2.1954, Phases, 1954, Mischtechnik auf Leinwand, 150 ×120 cm, Sammlung Christian Wulff, Frankfurt am Main
Das Gemälde Blauer Aufbruch, das 1952 in der berühmten Ausstellung in der Zimmergalerie Franck in Frankfurt am Main von Otto Greis präsentiert wurde, steht als Ausgangspunkt im Zentrum dieses Katalogs. Der Titel ist zugleich programmatisch für den künstlerischen Aufbruch der vier Künstler – Karl Otto Götz, Otto Greis, Heinz Kreutz und Bernard Schultze –, die dort als Gemeinschaft der sogenannten Quadriga subsumiert und zur deutschen Avantgardebewegung gekürt wurden. Diese Ausstellung gilt als ein Wendepunkt oder besser als Durchbruch auf dem Weg zur reinen Abstraktion: zugleich der Auftakt der deutschen informellen Malerei. Der Katalog skizziert die vielschichtigen Konzeptionen der Künstler der Quadriga wie auch ihre unkonventionellen Techniken, aber ebenso die Hoffnungen eines inhaltlichen »Aufbruchs«, und verdeutlicht zugleich die Unterschiede der künstlerischen Ansätze der vier damals unbekannten Newcomer in Gegenüberstellungen. SANDSTEIN
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