Leseprobe

maskiert, verwandelt

masked, transformed

SANDSTEIN maskiert, verwandelt Sammlung Anna & Michael Haas Museum für Neue Kunst, Städtische Museen Freiburg

Inhalt Vorwort Christine Litz »Die beste Maske, die wir tragen, ist unser eigenes Gesicht« Friedrich Nietzsche, im Sommer 1883 Gedanken zur Sammlung von Anna und Michael Haas von Christine Litz »Keiner weiß, wer ich bin!« Vom Wesen der Masken – ein Beispiel: der Elzacher Schuttig Bernd Fackler 6 8 18 Masken Von innen heraus Fratze 26 Porträt 42 54 Kopffigur 70 84 Selbstporträt Typisierung 104 118 Verzeichnis ausgestellter Werke Bildnachweis Impressum 130 134 135

Foreword Christine Litz “The Best Mask We Wear is Our Own Face” Friedrich Nietzsche, Summer 1883 Thoughts on Anna and Michael Haas’s Collection by Christine Litz “No One Knows who I Am!” On the Essence of Masks – an Example: The Elzach Schuttig Bernd Fackler Content 6 9 19 Masks Inside Out Grimace 26 Portrait 42 54 70 Head Figure 84 Self-portrait Typification 104 118 List of Exhibited Works Photo Credits Colophon 130 134 135

MASKE Gedanken zur Sammlung von Anna und Michael Haas von Christine Litz »Die beste die wir tragen, ist unser eigenes Gesicht« Friedrich Nietzsche, im Sommer 1883

9 8 MASK Thoughts on Anna and Michael Haas’s Collection by Christine Litz “The Best We Wear is Our Own Face” Friedrich Nietzsche, Summer 1883

Das deutsche Wort ›Person‹ ist aus dem Lateinischen – Persona – entlehnt und bedeutet übersetzt ›Maske‹ und verweist auf die Rolle, die eine Person im Schauspiel oder im Leben einnimmt. Der Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung (1875–1961) übernimmt diese Bezeichnung für denjenigen Teil der Persönlichkeit, der die Beziehung des Individuums zur Gesellschaft organisiert. Jung erfasst damit die Art und Weise, wie jeder Mensch sich an die Gemeinschaft anpasst und seine soziale Rolle darin übernimmt. Die Persona ist also unsere soziale Maske. Sie ist das Gesicht, das wir anderen zeigen, das uns erlaubt, mit ihnen zu kommunizieren und ihnen wiederum hilft, uns zu identifizieren. Das ›Ich‹ kann sich in der Regel mit der Persona identifizieren, was dazu führt, dass wir uns meistens gar nicht bewusst sind, dass wir diese Maske tragen. Es ist eine Maske in doppelter Funktion – zum einen wird ein ›Ich‹ zur Schau getragen und zum anderen bietet sie der dahinter verborgenen Individualität Schutz. Das Gesicht als der Ausdruck von Identifizierbarkeit schlechthin ist demnach aber auch genau der Teil des Menschen, der seine Identität verbirgt. Dies impliziert, dass schon im Personsein selbst es darum geht, wie wir uns der Welt zeigen. Darum, welche sozialen Rollen bedient und welche Charaktere eingenommen werden. Kann man der ›wirklichen‹ Person unter der Maske auf die Spur kommen? Diese unter der perfekten sozialen Maske schlummernde Person wird in dem Werk der britischen Künstlerbrüder Dinos und Jake Chapman (*1962, *1966) ins Bild gesetzt. In der bis heute fortlaufenden, 2008 gestarteten Serie mit dem Titel One Day You Will No Longer Be Loved (Eines Tages wirst Du nicht mehr geliebt werden) nutzen die Chapmans Werke anonymer Künstler und Künstlerinnen, die sie auf Auktionen oder Flohmärkten finden und die Porträts des 19. Jahrhunderts unbekannter Personen zeigen. In dem mit der laufenden Nummer XIX (Abb. S. 39) betitelten Gemälde aus dieser Werkreihe lugen unter dem ansonsten rosig glatten Gesicht mit Äderchen und Falten übersäte Nase, Mund und Augen hervor. Verfall, Krankheit, Hässlichkeit lauern unter der perfekten Fassade einer für dieses Porträt mit Schleifen, Spitzen und ondulierten Haaren herausgeputzten Frau. Das oberflächlich Schöne mit dem schwer fassbaren Unheimlichen zu verbinden sowie die eine Qualität in der jeweils anderen immer mitschwingen zu lassen, das beherrscht auch die aus einer ungarischen Migrantenfamilie stammende, in Kanada geborene Künstlerin Marianna Gartner (*1963). In ihrem nur 25×25 cm großen Gemälde St. Sebastian head shot, 2008 (Abb. S. 38) trägt die abgebildete Person eine mit Augenpartie und Seemannshut bedruckte Maske aus Karton, die nur die Hälfte des Gesichts verdeckt und dadurch verblüffend echt wirkt. Man kann bei Gartners Seemann aber weder erkennen, in welcher Stimmung sich die Person befindet, noch für welchen Anlass sie sich maskiert hat; das wirkt in gewisser Weise auch beunruhigend – und so vermag das (vermeintlich) niedliche Bild auf dem linken Handrücken, das Donald Duck mit Seemannsmütze zeigt, auch nicht so recht als Hinweis auf die (Harmlosigkeit der) Absichten seines Trägers taugen. Masken bieten die Möglichkeit, all das zu verkörpern, was wir im Lebensalltag nicht sind oder nicht sein können beziehungsweise dürfen – im Guten und Lustigen wie im Bösen und Abgründigen. Die durch die Maske garantierte Anonymität hat Potenzial zum Zügellosen und Ausschweifenden. Wenn Menschen ihr Gesicht nicht zeigen, ist es entweder religiös motiviert oder aber es markiert einen Ausnahmezustand: Verbrechen, Krieg, Schande, Krankheit oder eben Spiel, Karneval, Narretei. The German word ‘Person’, akin to its English equivalent, is a borrowing from the Latin word persona, denoting an actor’s ‘mask’. The Swiss psychiatrist and founder of analytical psychology, Carl Gustav Jung (1875–1961) utilised this term for the part of human personality that organises the individual’s complex relationship to society. Jung deployed the term to embody the way in which each person adapts to his or her community and assumes commensurate social roles within it. The persona is thus our social mask. It is the face we show to others that allows us to communicate with them and, in turn, help them to identify or recognise us. The idea of ‘I’ is usually one with the persona, which means that most of the time we are not even aware that we are wearing this mask. At the same time, it is a mask with a dual function – on the one hand, an ‘I’ is presented and on the other, this mask offers a substantial degree of protection for the individual concealed behind it. The face, as the quintessential expression of identifiability, is therefore also precisely the part of the person that also conceals one’s identity. This naturally implies that being a person is about how we present ourselves to the world. It is about which social roles are served and which characters, personalities are adopted. But can one ever really identify the ‘actual’ person behind the mask? This person, latent behind the manifest, perfect social mask, is visualised in the work of the British artists known as the Chapman Brothers, Dinos and Jake Chapman (b. 1962 and b. 1966 respectively). In the series titled One Day You Will No Longer Be Loved, which continues to this day and was launched in 2008, the Chapman Brothers paint on works by anonymous artists that they have come across at auctions or flea markets and which feature nineteenth-century portraits of unknown individuals. In the painting from this series, titled with the serial number XIX (fig. p. 39), the nose, mouth and eyes, covered with veins and wrinkles, peek out from under the otherwise rosy, smooth face. Decay, disease, ugliness lurk beneath the perfect façade of a woman dressed up for this portrait with bows, lace and crimped hair. The masterful ability to combine the superficially beautiful with

11 10 VOM KOPF ZUR MASKE – THEMATISCHER SCHWERPUNKT DER SAMMLUNG Die von Anna und Michael Haas zusammengetragene Sammlung hat einen dezidierten thematischen Schwerpunkt, den sie griffig mit dem Leitgedanken ›vom Kopf zur Maske‹ umreißen. Unter diesen beiden Begriffen versammeln sich schöpferische Auseinandersetzungen ausgehend vom menschlichen Kopf beziehungsweise Gesicht, dessen künstlerische und kreative Erfassungen, Bearbeitungen, Verformungen bis hin zur Maskierung beziehungsweise Maskenhaftigkeit. Ihren (emotionalen) Ausgangspunkt hat die Sammlung in der Elzacher Fasnet. Das in Berlin lebende Sammlerpaar ist im Schwarzwald aufgewachsen und der Heimat weiterhin sehr verbunden. Daher gibt es auch einige Werke, die direkt mit der traditionsreichen Elzacher Fasnet zu tun haben, wie das Gemälde Alemannische Masken aus dem Jahr 1952 von Otto Dix (1891–1969) (Abb. S. 28), auf dem unter anderem die traditionelle Maskenfigur des sogenannten Schuttig abgebildet ist. Auch der griechische Maler Dimitris Tzamouranis (*1967) lässt sich – nachdem er das närrische Treiben selbst miterlebt hat – zu einer Serie von Maskengemälden (Abb. S. 32, 33) inspirieren, unter anderen ist eine Abwandlung des Schuttig, der Rägemolli (Molch), abgebildet. Darüber hinaus haben sie auch historische Masken von anonymen Handwerkern und Handwerkerinnen aus anderen Gegenden zusammengetragen wie beispielsweise eine »Süddeutsche Maske«, 19. Jahrhundert (Abb. S. 37), eine »Alpenländische Maske« (Abb. S. 29)1 oder einen »Teufel« (Abb. S. 91) aus dem 17./18. Jahrhundert. An dieser Aufzählung kann man schon die Besonderheiten erkennen, die das Sammlerpaar geleitet haben: Zum einen sind die Objekte nicht ausschließlich von Künstlern und Künstlerinnen geschaffen, sie können ebenso aus dem Handwerk, der industriellen Produktion oder der angewandten Kunst stammen und bestimmten Funktionen wie zum Beispiel Gebäudeschmuck dienen. Tatsächlich spielt der Bekanntheitsgrad der Künstler und Künstlerinnen für die Aufnahme in das Sammlungskonvolut keine Rolle. Es kommt Anna und Michael Haas vor allem auf die Einzigartigkeit an, die das Werk im Hinblick auf die Thematik beisteuern kann, und deswegen zählt für sie allein das jeweilige spezifische Objekt, das in nicht wenigen Fällen auch anonymen Ursprungs ist. Zum anderen ist das Besondere, dass die Objekte in unterschiedlichen Epochen entstanden. Das zeitlich früheste in der Ausstellung gezeigte Exponat stammt aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (»Fratze«, Abb. S. 93). Es könnte als skulpturales Zierelement an sakralen oder profanen Gebäuden gedient haben. Der in Stein gemeißelte Blick aus leeren Augenhöhlen, in denen sich nur die Iris befindet, schaut auf uns damals wie the elusively weird and uncanny, as well as always allowing one quality to resonate with the other, also typifies the work of the Canadian-born artist, Marianna Gartner (b. 1963), who hails from a Hungarian migrant family. In her painting St. Sebastian head shot, 2008 (fig. p. 38), measuring only 25×25 cm, the person depicted is wearing a cardboard mask adorned with the area around the eyes and sailor’s cap and which only covers the top half of the face and thus appears as an amazingly real extension of the face. In the case of Gartner’s sailor, however, one can neither tell what mood the person is in nor why he is wearing a mask in the first place; in a way, this also has a disconcerting effect – and so the (supposedly) neat image on the back of his left hand depicting Donald Duck wearing a sailor’s cap is not really helpful as an indication of the (harmless or otherwise) intentions of its wearer. Masks offer the possibility of embodying everything that we are not, or cannot, or indeed, may not be in everyday life – be it good and funny, or bad and wretchedly abysmal. The anonymity guaranteed by the mask has potential for both licence and the aberrant. When people do not show their faces, it is either religiously motivated or it signifies exceptional circumstances, such as: crime, war, disgrace, sickness or even play, carnival, tomfoolery. FROM THE HEAD TO THE MASK – THEMATIC FOCUS OF THE COLLECTION The collection assembled by Anna and Michael Haas has a decidedly thematic focus, which they succinctly outline in the central idea ‘from the head to the mask’. Subsumed under the words ‘head’ and ‘mask’ are a number of creative explorations, starting from the human head or face, its artistic and creative renderings, adaptations, deformations, all the way to masking and masquerade. The collection’s (emotional) point of departure is the Elzach Fastnacht or Fasnet. The collectors, who live in Berlin, grew up in the Black Forest and are still very attached to their roots. Therefore, there are also several works that are directly related to the traditional Elzach Fasnet, such as the painting Alemannische Masken (Alemannic Masks) from 1952 by

Abb. 1 Auguste Renoir Diana Diana 1867 Öl auf Leinwand 197 × 132 cm National Gallery of Art, Washington, D.C. Otto Dix (1891–1969, fig. p. 28), which depicts, among other things, the traditional masked figure of the so-called Schuttig. The Greek painter Dimitris Tzamouranis (b. 1967) was also inspired to create a series of mask paintings (fig. p. 32, 33) after he had experienced this generic tomfoolery himself; among others, he depicted a variation of the Schuttig, the Rägemolli (newt). In addition, Anna and Michael Haas have also collected historical masks made by anonymous craftsmen and women from other regions, such as a nineteenth-century “South German Mask” (fig. p. 37), an “Alpine Mask” (fig. p. 29),1 or a seventeenth/ eighteenth-century “Devil” (fig. p. 91). From this list alone, the peculiarities that have guided the couple’s collecting activity over the years are manifest: on the one hand, the objects are not exclusively made by artists; they can equally originate from a handcraft milieu, industrial production and applied art, or serve specific functions, such as the decoration of buildings. In fact, the individual renown of the artists by no means plays a role in their inclusion in the collection. What matters most to Anna and Michael Haas is the uniqueness that a given work can contribute with regard to the subject matter, and that is why the only thing that matters for them is the specific object in question, whereby, in quite a number of cases, the artist’s identity remains anonymous. On the other hand, the fact that the objects were made in different epochs is also a salient consideration. The earliest exhibit shown in the exhibition dates from the second half of the fourteenth century (“Grimace”, fig. p. 93). It may well have served as a sculptural, decorative element on an ecclesiastical or secular building. The gaze of this visage, carved in stone and emanating from empty eye sockets that only contain the irises, stares out at us, then as now, with a magically watchful and admonitory intensity. Comparable in form to architectural ornamentation, the “Green Man” (fig. p. 72), dating from the sixteenth century, embodies a visceral connection to the natural world. In the Middle Ages and early modern period, the Green Man was a common, ubiquitous symbol, particularly the British Isles, cropping up on keystones and choir stalls everywhere. The beard and hair of this wild persona often take the shape of leaves.

13 12 heute in magisch wachsamer und mahnender Intensität. In der Form mit architektonischem Schmuck vergleichbar verkörpert der aus dem 16. Jahrhundert stammende »Grüne Mann« (Abb. S. 72) die Verbindung mit der Natur. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war er auf Schlusssteinen oder Chorgestühlen zu finden. Bart und Haare dieses wilden Mannes haben oft die Gestalt von Blättern. Deswegen wurde er als Personifikation des römischen Waldgotts Silvanus gesehen und war vor allem auf den Britischen Inseln sehr verbreitet. Diese Überzeitlichkeit der Exponate ist ein essentieller Bestandteil der Sammlung. Hier werden die vergangene Zeit und ihre damaligen künstlerischen Mittel sowie zugleich ihre Unabhängigkeit von der Zeit deutlich: Die Kunstwerke erscheinen im Hier und Jetzt aktuell und berühren uns im Heute. Es ist dem besonderen Gespür und der umfassenden Kenntnis von Anna und Michael Haas geschuldet, dass sie genau diese Qualitäten der Allgemeingültigkeit finden – oftmals in damals wie heute unterschätzten oder inzwischen vergessenen Kunstwerken. So findet beispielsweise Frédéric Bazilles (1841–1870) »Junge Frau mit gesenktem Blick« (Abb. S. 46) Eingang in die Sammlung. Der für seine Pleinair-Landschaften und Porträts bekannte studierte Mediziner gilt als einer der ersten Impressionisten. Die enigmatische, in sich gekehrte junge Frau mit ihren rosigen Wangen und dem schmeichelnden Licht auf ihrem Gesicht verzaubert auch heute, weil sie über die Zeiten hinweg zu uns spricht. 1868, zwei Jahre vor Bazilles’ frühem Tod, entsteht das Gemälde in seinem Atelier nahe der École Nationale Supérieure des BeauxArts in der Rue Visconti, das er sich mit dem gleichaltrigen Malerkollegen Auguste Renoir (1841–1919) teilt. Die beiden verbindet eine enge Freundschaft und wahrscheinlich nutzen sie dasselbe Modell. Die im gleichen Jahr gemalte Diana von Renoir, die sich heute in der National Gallery of Art in Washington befindet, hat dieselben Gesichtszüge (Abb. 1). Ein Künstler, der ebenfalls vermag, Zeit zu transzendieren, ist Albrecht Dürer (1471–1528). Mit nur 28 Jahren schafft er sein ikonisches, idealisiertes und jesusähnliches »Selbstbildnis im Pelzrock«, 1500 (Abb. 2). Es ist eines der bekanntesten Selbstbildnisse der Kunstgeschichte, vielfach besprochen und oft kopiert, wie 1818 von dem zu der Zeit 32-jährigen deutschen Lithografen Ferdinand Piloty (1786–1844, Abb. S. 112). Es ist eine Auftragsarbeit des damaligen Direktors der Galerien und Museen des Bayerischen Königshauses Christian Mannlich (1741–1822), in dessen Rahmen er Kunstwerke aus den königlichen Sammlungen von unterschiedlichen Künstlern reproduzieren lässt. Piloty entscheidet sich, den Ausschnitt zu verkleinern und sich auf die Frontalansicht des Dargestellten zu konzentrieren. Auch wenn Pilotys Blatt eine verblüffend getreue Kopie ist, so ist die Lithografie naturgemäß spiegelverkehrt zum Original. Das Faszinierende ist der Blick, der direkt auf die Betrachtenden gerichtet zu sein scheint. Aber er erfasst das Gegenüber nicht, sondern scheint durch dieses hindurchzusehen. Dürers Blick ist introspektiv. Er ist präsent und doch weit weg. For this reason, he was viewed as a personification of the Roman forest god, Silvanus. This supratemporality of the exhibits is integral to the collection. The past and its historic artistic means emerge here, as well as their inherent detachment from time itself: the artworks still seem topical in the here and now, connecting with us in the present in an immediate way. This derives from Anna and Michael Haas’s remarkable intuition and extensive knowledge, which enables them to pinpoint these very qualities of universality – often in artworks that were then, as now, undervalued or have long since been forgotten. Frédéric Bazille’s (1841–1870) “Young Woman with Lowered Eyes” (fig. p. 46), for example, finds its way into the collection. Known for his plein air landscapes and portraits, the trained physician is considered one of the first Impressionists. The enigmatic, introverted young woman with her rosy cheeks and the flattering light on her face enchants us to this day because she speaks to us across the ages. The painting was made in 1868 – two years before Bazilles’s untimely death – in his studio near the École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Rue Visconti, which he shared with his peer and fellow painter, Auguste Renoir (1841–1919). The two were close friends and probably used the same model. Renoir’s Diana, painted in the same year and now held in the National Gallery of Art in Washington, has remarkably similar features (fig. 1). Albrecht Dürer (1471– 1528) is another artist who also had the ability to transcend time in his work. At the age of just twenty-eight, he painted his iconic, idealised and Christ-like “Selbstbildnis im Pelzrock” (Self-portrait) in 1500 (fig. 2). It is one of the most famous self-­ portraits in art history, widely discussed and often copied, for example, by the German lithographer Ferdinand Piloty (1786–1844) in 1818, who was thirty-two at the time (fig. p. 112). It was commissioned by Christian Mannlich (1741–1822), the director of the galleries and museums of the Bavarian Crown at the time, in his drive to reproduce artworks from the royal collections by various artists. Piloty decided to reduce the detail and concentrate on the frontal aspect of the sitter. Even though Piloty’s print is an amazingly faithful copy, the lithograph is by its very nature a mirror

»WAHRLICH, IHR KÖNNTET GAR KEINE BESSERE MASKE TRAGEN, IHR GEGENWÄRTIGEN, ALS EUER EIGNES GESICHT IST! WER KÖNNTE EUCH – ERKENNEN!« FRIEDRICH NIETZSCHE Man kann sagen, dass die (künstlerische) Auseinandersetzung mit dem menschlichen Gesicht eine anthropologische Konstante darstellt. Auch wenn sich in den prähistorischen Kulthöhlen von Lascaux, Altamira oder auf der 13 Kilometer langen Felswand im Chiribiquete-Nationalpark in Kolumbien so gut wie keine Darstellung von Gesichtern findet, so zeugt die etwa gleichalte »Venus von Brassempouy« (Abb. 3) davon, dass dem Menschen das Begreifen und Erkennen seines Seins immer schon ein Bedürfnis ist. Dieses Fragment einer Elfenbeinstatuette ist die bisher älteste bekannte Darstellung eines menschlichen Gesichts, sie entstammt dem Gravettien und ist mutmaßlich 21 000 Jahre alt. Ab der Antike gehört die Darstellung von Gesichtern in Form eines Porträts zu den Hauptthemen der Malerei, wobei sie oft heroisierend und idealisierend ist. Die Entwicklung des neuzeitlichen Porträts, das Individualität und Wesenhaftigkeit zu erfassen sucht, nimmt ihren Beginn im Mittelalter. Was Anna und Michael Haas an den Darstellungen von Gesichtern oder Köpfen interessiert, sind genau die Punkte, an denen Individualität und Wesenhaftigkeit mit Maskierung und Maskenhaftigkeit eine künstlerisch interessante Verbindung eingehen. Ein solcher Wendepunkt findet sich beispielsweise in der Kunst Marwans (1934–2016). Seit den 1970er Jahren umkreist der Maler »das menschliche Antlitz als Verlust von Gesicht. […] Auf der Schwelle von Porträt und Landschaft verschmelzen die Köpfe jenseits der Ratio zu Überblendungen existenzieller Unruhe. Der Fokus auf Mensch und Natur entwirft Gesichter, so gewaltig wie Bergmassive – eindringliche Metaphern des Daseins«, wie Michaela Nolte schreibt.2 In Gesichtslandschaft »I«, 1974 (Abb. S. 88) werden die eigenen Gesichtszüge mittels naturnaher rot-brauner, ockerfarbener, grau-grüner Farbgebung und eines langgestreckten Querformats zu einer felsigen, durch Risse und Furchen geprägten Landschaft. Der im syrischen Damaskus geborene Künstler, der 1957 nach Berlin übersiedelt, findet in der Auseinandersetzung mit der informellen Malerei seines von ihm hochgeschätzten Lehrers Hann Trier (1915–1999) in diesen von ihm entwickelten Bildarchitekturen des Kopfes eine Möglichkeit, die Figuration beizubehalten und sie gleichzeitig mit Ebenen der Abstrahierung zu verbinden. Wenn man von Marwans Perspektive auf Elfriede Lohse-Wächtlers (1899–1940) Die Absinth-Trinkerin »(Selbstbildnis)« (Abb. S. 111) blickt, so kann man die (abgekämpften) Gesichtszüge als ein zu einem Berg aufgetürmten Massiv beschreiben. Der Blick ist versteinert, ehrlich, leer und ohne Hoffnung. Das Selbstbildnis zeichnet sie um 1931, als Lohse-Wächtler völlig mittellos und erschöpft zu ihren Eltern nach Dresden zurückkehrt, von denen sie dann (erneut) in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Hier entstehen, wie schon bei ihrem ersten Klinikaufenthalt in Hamburg-Friedrichsberg, Porträts von Mitpatienten und -patientinnen. Die Bleistiftzeichnung Eine Kranke von 1932 (Abb. S. 125) ist eine solche physiognomische Studie. Der Titel reduziert die Dargestellte auf eine Diagnose oder einen Zustand, der ihr Sein alternativlos zu bestimmen scheint. Aus eigener image of the original. What fascinates is the gaze, which seems to home in on the viewer. However, it does not engage the viewer but seems to look through him or her. Dürer’s gaze is introspective. It is present and yet at the same time distant. “VERILY, YOU COULD WEAR NO BETTER MASKS, YOU PRESENT-DAY MEN, THAN YOUR OWN FACES! WHO COULD — RECOGNISE YOU!” FRIEDRICH NIETZSCHE One might assert that the (artistic) engagement with the human face is an anthropological constant. Even though there are hardly any depictions of faces in the parietal wall paintings in the prehistoric ritual caves of Lascaux and Altamira, or, indeed, on the thirteen-km long rock face in the Chiribiquete National Park in Colombia, the “Venus of Brassempouy” (fig. 3), which is similarly old, testifies to the fact that we humans have perennially felt the need to comprehend, recognise and physically acknowledge our existence. This fragment of an ivory statuette is the oldest known representation of a human face to date; it originates from the Gravettian culture of the European Upper Palaeolithic period and is putatively 21,000 years old. From antiquity onwards, the depiction of faces in the form of a portrait has been one of the main themes of painting, its impetus often glorifying and idealising. The development of the modern portrait, which seeks to capture individuality and personal essence, started life in the Middle Ages. What interests Anna and Michael Haas in the depictions of faces or heads are precisely the points at which individuality and ontology intersect in an interesting, artistic manner – in the act of wearing masks and in masquerade. Such a turning point can be found, for example, in Marwan’s art (1934–2016). Since the 1970s, the painter adumbrates “the human countenance as a loss of face. […] On the threshold of portrait and landscape, the heads fuse beyond the rational into superimpositions of existential disquietude. The focus on man and nature creates faces as immense as massifs – haunting metaphors of existence,” as Michaela Nolte eloquently describes it.2 In Face Landscape “I” (1974, fig. p. 88), the

Abb. 2 Albrecht Dürer »Selbstbildnis im Pelzrock« “Self-portrait” 1500 Öl auf Lindenholz 67,1 × 48,9 cm Alte Pinakothek, München artist’s own facial features are transformed into a rocky landscape characterised by fissures and furrows by means of a natural red-brown, ochre, grey-green tonal palette and an elongated, landscape format. Marwan, who was born in Damascus, Syria and relocated to Berlin in 1957, discovered a method – in his architectural renderings of the human head – of retaining figuration while at the same time combining it with levels of abstraction in his engagement with the Informel painting-­ style of his teacher, Hann Trier (1915–1999), whom he held in high regard. Looking at Elfriede Lohse-Wächtler’s (1899–1940) Die Absinth-Trinkerin “(Selbstbildnis)” (The Absinthe Drinker [Self-portrait], fig. p. 111) from Marwan’s perspective, the (haggard) features can be described as a massif verging on the mountainous. Her mien is petrified, honest, empty and utterly bereft of hope. The self-portrait was drawn around 1931, when Lohse-Wächtler, completely penniless and exhausted, returned to her parents in Dresden, who then (once more) had her sectioned. As she did during her first stay in the psychiatric clinic in Hamburg-Friedrichsberg, she made portraits there of fellow patients. The pencil drawing Eine Kranke (A Female Invalid) from 1932 (fig. p. 125) is one of these physiognomic studies. The title of the drawing effectively reduces the sitter to a diagnosis or condition that seems entirely nominative, determining her being without any alternative description. From her own experience of social decline and mental illness, Lohse-Wächtler looks somewhat ruthlessly, yet sympathetically at eye level, at those people whom the Nazis most callously deemed “life unworthy of life” and summarily eliminated. Lohse-Wächtler

Erfahrung von sozialem Abstieg und psychischer Erkrankung schaut LohseWächtler schonungslos, aber auf Augenhöhe mitfühlend auf diejenigen Existenzen, die vom nationalsozialistischen Regime ›als nicht lebenswert‹ eingestuft werden. Lohse-Wächtler zerbricht an der Zwangssterilisierung und wird von den Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen im Rahmen der EuthanasieAktion T4 in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein ermordet. Die lange vergessene Elfriede Lohse-Wächtler, wiederentdeckt in der Folge der Aufarbeitung von modernistischen Künstlerinnen wie Jeanne Mammen (1890–1976) oder Hilma af Klint (1892–1944), ist sich der herrschenden gesellschaftlich-sozialen Ausschlusskriterien schon zu Beginn ihrer vielversprechenden Karriere bewusst und signiert ihre frühen Gemälde mit Nikolaus Wächtler, »um dem Makel der verpönten ›Frauenkunst‹ zu entgehen«.3 Dieses Spiel mit Identität beziehungsweise dem Entkommen geltender Klischees und Werturteile durch Verschleierung und Unkenntlichmachung ist auch eine Strategie der Maskierung. Abb. 3 »Venus von Brassempouy« “Venus of Brassempouy” 21. Jahrtausend vor Christus Mammut-Elfenbein 3,65 × 1,9 × 2,2 cm Musée d’Archéologie Nationale, Saint-Germain-en-Laye was completely broken by forced sterilisation and was ultimately murdered by the Nazis as part of the “Action T4” euthanasia programme perpetrated at the Pirna-­ Sonnenstein euthanasia centre. The long-forgotten artist Elfriede Lohse-Wächtler, rediscovered in the wake of the reappraisal of modernist women artists, such as Jeanne Mammen (1890– 1976) or Hilma af Klint (1892–1944), was well aware of the prevailing socio-social exclusion criteria at the very beginning of her promising career and signed her early paintings as Nikolaus Wächtler “in order to escape the stigma of ‘women’s art,’ so frowned upon”.3 This play on identity or the side-stepping of received clichés and value judgements through concealment and disguise is also a kindred strategy of mask-wearing. I would like to conclude these thoughts on Anna and Michael Haas’s collection with a work by Jakob Mattner (b. 1946), because it addresses aspects of supratemporality, masking, but above all, the limits (and possibilities) of being recognised. Mattner’s eighteen-part series titled Der gezielte Blick (Intentional Look, 1999, fig. p. 126, 127) combines several temporal planes: the sixteenth century, 1939 and the recent millennial transition. These different time planes also illustrate the various artistic means and purposes they serve. In the sixteenth century, portraits of secular rulers, members of the nobility and high-­ ranking military or university personnel were in vogue. These individuals were often dispatched to the colonies and served to underpin claims to power, to initiate politically-motivated marriage proposals or to cement genealogical credentials. There are numerous artists who specialised in portraiture of this kind. Court painters, such as François Clouet (1510–1572) and his father Jean Clouet (1480–1541) are numbered among them, as are François

17 16 Abschließen möchte ich diese Gedanken zur Sammlung von Michael und Anna Haas mit einer Arbeit von Jakob Mattner (*1946), weil in ihr die Aspekte der Überzeitlichkeit, der Maskierungen aber vor allem der Grenzen (und Möglichkeiten) von Erkennen angesprochen werden. Mattners 18-teilige Serie mit dem Titel Der gezielte Blick, 1999 (Abb. S. 126, 127) vereint mehrere Zeitebenen: das 16. Jahrhundert, das Jahr 1939 und den Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert. Diese verschiedenen Zeitebenen verdeutlichen auch die unterschiedlichen künstlerischen Mittel und die Zwecke, denen sie dienen. Im 16. Jahrhundert sind Porträts weltlicher Herrscher und Herrscherinnen, Personen adeligen Stands sowie aus dem militärischen oder universitären Bereich en vogue. Sie werden oft in beherrschte Länder geschickt und dienen dazu, den Machtanspruch zu untermauern, politisch motivierte Heiratsanträge in die Wege zu leiten oder der Einschreibung in eine genealogische Repräsentation. Es gibt zahlreiche Künstler und Künstlerinnen, die auf solche Porträts spezialisiert sind. Hofmaler wie François Clouet (1510–1572) und sein Vater Jean Clouet (1480–1541) gehören ebenso zu diesen wie François Pourbus d. Ä. (1545–1581) und Jean Decourt (1530–1584). Mattner nutzt für seine Serie Werke dieser Künstler, die er einer 1939 erschienenen von dem französischen Kunsthistoriker und Royalisten Louis Dimier (1865–1943) herausgegebenen Mappe entnimmt. Diese Mappe enthält 42 Kupfertiefdrucke von französischen Zeichnungen, die unter anderen 15 Abbildungen von François, 12 von seinem Vater Jean Clouet, 4 von François Pourbus, 2 von Jean Decourt sowie einiger weiterer Künstler beinhalten. Dargestellt sind Adelige aus der Valois-Dynastie des 16. Jahrhunderts, ihre Hofdamen und Mätressen, aber auch Personen aus dem Militär, der Kirche oder Gelehrte. Mattner macht jedes der Gesichter unkenntlich, indem er einen schwarzen kreisrunden Fleck dort platziert, wo Augen, Nase, Mund zu sehen wären. Diese Flecken gleichen der Blindheit, die man hat, wenn man zuvor in die grelle Sonne geschaut hat und gleich anschließend eine Person zu erkennen sucht.4 Dort wo die Identitätsmerkmale sitzen, gibt es einen blinden Fleck und die Frage kommt auf: Kann man der ›wirklichen‹ Person auf die Spur kommen? 1 Die heutigen aktuellen Diskurse um Rassismus machen sensibel für ausgrenzende Stereotype, wie sie gerade in traditionellen Bräuchen (noch) zu finden sind. Obwohl die Herkunft dieser speziellen alpenländischen Maske nur rudimentär bekannt ist, erhärten sich keinerlei Verdachtsmomente, dass diese mit dem im Mittenwald/Karwendel verbreiteten Masken in Verbindung steht. https://www.larvenfreunde.de/maskenmuseum/ maschkera-mohr-2/ (Stand: 17.4.2023). 2 Michaela Nolte: Geologie der Gesichter, in: Tagesspiegel, 15.3.2002. 3 Caroline Flosdorff: Elfriede Lohse-Wächtler, in: Painting still alive… on the way to modernity, Kat. The Centre of Contemporary Art ›Znaki Czasu‹ (Hrsg.), Toruń, 2018, S. 156. 4 Mattner beschäftigt sich mit Licht, Schatten und Zwielicht und hat sich intensiv u.a. in Zusammenarbeit mit Astrophysikern und Astrophysikerinnen mit der Sonne auseinandergesetzt. Vgl.: Der Blick in die Sonne. Jakob Mattner und Sonnenforscher des Einsteinturms, Kat. Berlinische Galerie, Museum Wiesbaden, Neues Museum Weserburg und Museum der Moderne Salzburg, 2005. Pourbus the Elder (1545–1581) and Jean Decourt (1530–1584). Mattner uses works by these artists for his series, which he took from a portfolio published in 1939 by the French art historian and royalist, Louis Dimier (1865–1943). This portfolio contains forty-two copper intaglio prints of original French drawings, including fifteen by François, twelve by his father Jean Clouet, four by François Pourbus, two by Jean Decourt, as well as works by several other artists. They depict noblemen from the sixteenth-century Valois dynasty, their ladies-in-waiting and mistresses, but also military figures, high churchmen and men of learning. Mattner makes each of the faces unrecognisable by placing black, circular dots where the eyes, noses and mouths would normally be. These dots resemble the quasi blindness one endures when having previously stared at the sun and immediately afterwards struggled to recognise a familiar face.4 There is a literal blind spot here in the very place where the markers of identity are normally situated, prompting the question: is it actually possible to identify the ‘real’ person? 1 Today’s discourse on racism makes us more sensitive to the exclusionary stereotypes that can (still) be found in traditional customs. Although knowledge about the origin of this special alpine mask is limited, there are no grounds for suspicion that it is connected with the masks that are widespread in Mittenwald/ Karwendel. https://www.larvenfreunde.de/ maskenmuseum/maschkera-mohr-2/ Last accessed 17 April 2023. 2 Michaela Nolte, “Geologie der Gesichter,” Tagesspiegel, 15 March 2002. 3 Caroline Flosdorff: Elfriede Lohse-Wächtler, “Painting still alive… on the way to modernity,” exh. cat. The Centre of Contemporary Art ‘Znaki Czasu’ (Toruń, 2018), p. 156. 4 Mattner focuses upon light, shadow and twilight and has intensively studied the sun in collaboration with astrophysicists, among others. Cf. Der Blick in die Sonne. Jakob Mattner und Sonnenforscher des Einsteinturms, exh. cat. Berlinische Galerie, Museum Wiesbaden, Neues Museum Weserburg and Museum der Moderne Salzburg, (Wiesbaden: Museum Wiesbaden, 2005).

WER »Keiner weiß, ich bin!« Bernd Fackler Vom Wesen der Masken – ein Beispiel: der Elzacher Schuttig

19 18 WHO “No One Knows I Am!” Bernd Fackler On the Essence of Masks – an Example: The Elzach Schuttig

Auf allen fünf Kontinenten ist das Maskentragen verbreitet, eine Faszination für Menschen jeden Alters, jeder Herkunft. Masken spielen eine Rolle bei religiösen Riten, für Schamanen und Schamaninnen, bei Fastnacht und Karneval oder Nikolausfesten. So vielfältig und bunt die Anlässe, Umzüge und Bräuche sind, so vielfältig und fantasievoll sind auch die Masken: Vom Karneval in Brasilien oder Belgien bis zu dem im deutschen Rheinland, von der schwäbisch-alemannischen Fasnet bis zu Fasnachtsbräuchen in Tirol, der Schweiz oder auf dem Balkan, von Neuguinea bis Sibirien. Diese Masken können freundlich, würdig, furchterregend, verschmitzt, grimmig, rätselhaft, lachend, leidend, übermütig, ulkig, todernst, grotesk, menschlich, dämonisch, glatt, runzelig, heiter, finster, fröhlich, wild sein – ja, ganz ähnlich wie die ›echten‹ Gesichter. Bloß verändern sich die Masken nicht, ihr Ausdruck bleibt immer gleich, die Mimik eingefroren und starr. Einst war die Maske ein Mittel, um Dämonen und Geister abzuwehren oder um mit diesen in Kontakt zu treten, sie günstig zu stimmen. In manchen Gegenden gilt dies immer noch, doch für alle Masken trifft bis heute zu: Sie verwandeln nicht nur das Gesicht, sondern den ganzen Körper, den ganzen Menschen. Es ist gerade umgekehrt als bei jenen, die ohne Maske und ohne Gefühlsausdruck Selbstbeherrschung beweisen wollen: Die Maske macht oft ungehemmt, frei, ist elementar in einem Rollenspiel auf Zeit. Rollenspiel: Identitätswechsel, Verwandlung, verstellte Stimmen, Regeln werden außer Kraft gesetzt – die Maske selbst aber bleibt unverändert, wird nicht blass und errötet nicht, freut sich nicht, schämt sich nicht. Das alles kann finstere, sogar furchterregende Begegnung sein, häufiger aber ungehemmte Freiheit, die Narrenfreiheit, einhergehend mit Faszination und Riesenspaß für Maskentragende wie für jene, die ihnen über den Weg laufen und von ihnen ›zum Narren gehalten‹ werden: Spontane, intensive, enthemmte, lustige Begegnungen, die oft ganz lange und eindrücklich in Erinnerung bleiben. So gibt es überall in der Welt der Masken diese magischen Momente, die auch Stunden oder Tage dauern können, in denen die wirkliche Person verschwindet hinter der Verkleidung und der Mensch völlig eins mit seiner Maske wird. »Keiner weiß, wer ich bin!« Das gilt ganz besonders im traditionsreichen Narrenstädtchen Elzach im Schwarzwald, 30 Kilometer nordöstlich von Freiburg. Der Narr1 bleibt anonym, das gilt dort als oberstes ›Gesetz‹ und ist eine Besonderheit, geradezu ein Markenzeichen im großen schwäbisch-­ alemannischen Fasnetraum. Denn es wäre eine ›Todsünde‹, wenn sich die uralte, traditionelle Fasnachtsfigur, der überregional bekannte Schuttig, ohne Maske, ohne Larve in der Öffentlichkeit zeigen würde. Vermutlich wäre es für viele Narrenfreunde und -freundinnen sogar weniger anstößig, wenn jemand das Jahr über nackt durchs Städtchen rennen würde als an Fasnet ohne Larve vor dem Gesicht. Und um bloß nicht erkannt zu werden, wechselt so mancher Schuttig, sollte ihn etwa doch einmal sein Gang oder seine Haltung verraten, immer mal wieder heimlich sein ›Gesicht‹, die Larve. Denn die Vielfalt der Maskentypen ist in Elzach riesig: Es gibt Fratzen, Teufels- und Bartlarven, Bären- und Fuchsgfriss, Mundle, Langnasen, Lätsch und noch andere und dies alles wieder in vielerlei Variationen in Aussehen und Bemalung; dazu noch verschiedene seltene Typen, etwa das schauerliche Dotegfriss (Totengesicht), welches dem Begegnenden die nicht nur an Aschermittwoch geltende Mahnung »memento mori« – »Gedenke, dass du sterblich bist«, drastisch vor Augen führt. Oder, wie es schon zum Auftakt jeder Fasnet der Zunftmeister für alle an der Narretei Beteiligten verkündet: »Drum nützet jetzt die kurze Zeit, damit es keinen von euch reut …!« The wearing of masks is a widespread phenomenon across the world’s five continents and holds a particular fascination for people of all ages, of all origins. Masks play a role in various religious rites, be it for shamans, at Shrovetide and Carnival, or at the Feast of Saint Nicholas. Wholly commensurate with the diversity and colourful splendour of these occasions, parades and customs, the masks themselves are richly varied and highly imaginative: ranging from the Brazilian or Belgian carnivals to Karnival in the German Rhineland, from the Swabian-Alemannic Fastnacht or Fasnet to Fasching customs in Tyrol, Switzerland or the Balkans, from New Guinea to Siberia. These masks can be friendly, dignified, frightening, mischievous, grim, enigmatic, laughing, suffering, high-spirited, funny, deadly serious, grotesque, human, daemonic, smooth, wrinkly, cheerful, sinister, happy, or wild – yes, just like ‘real’ faces! The only thing is, unlike human faces, the masks do not change, their expressions remain fixed, the various physiognomies frozen and rigid. The mask was once a means to ward off daemons and spirits or to contact them, to mollify them and make them more amenable to humankind. In some regions this still holds, but for all masks in general, the rule applies to this day: not only do they change the wearer’s face, but also, they equally transform his/her whole body, his/her whole persona. It is the precise opposite of those who want to present an air of self-control by eschewing a mask and any form of emotional, facial expression: the mask is thus truly transformational, often making one feel uninhibited, liberated and, as such, it is elemental to a temporally-circumscribed role-play. Role-play: a change of identity, transformation, disguised voices, normal rules no longer obtain – but the mask itself remains unchanged, it does not blanch or blush, it does not rejoice, it does not feel ashamed. All of this can entail sinister, even frightening encounters, but more often than not it engenders a delectable, uninhibited sense of freedom, so-called Narrenfreiheit (literally: freedom of the Fool) or the freedom to do as one pleases, accompanied by fascination, fun and hilarity for those who are wearing the masks, as well as those who encounter them and are

21 20 1 Helmut Kubitschek »Lätsch (Elzacher Larve)« “Lätsch (Elzach Larval Mask)”

duly ‘fooled’ by them: spontaneous, intense, disinhibited, comical encounters that often become abiding memories for all concerned. Thus, wherever masks are worn across the world in a variety of contexts, these magical moments arise and can also last for hours or even days, in which the real person disappears behind the disguise and thus becomes completely one with his or her mask. “No one knows who I am!” This is especially true in the traditional ‘Jester’s town’ of Elzach in the Black Forest, thirty kilometres northeast of Freiburg. The jester or fool1 remains anonymous, that is the ‘prime directive’ here and is a special feature, almost a trademark in the broad Swabian-Alemannic Fastnacht or Fasnet region. For it would be a ‘mortal sin’ if the age-old, traditional carnival figure, the so-called Schuttig of nationwide notoriety, were to appear in public without a mask, without its larval camouflage. It would probably be less offensive to many carnival devotees if someone were to run naked through the town throughout the year than on Fasnet without a mask! And in order not to be recognised, many a Schuttig, should his gait or posture betray his identity, secretly changes his ‘face,’ namely the mask, every now and then. For the variety of masks types in Elzach is simply enormous: there are grimaces, devil and beard masks, bear and fox grimaces, so-called traditional mundle, longnoses, so-called lätsch and many more besides, all appearing in myriad variations and multiple decorative styles; this includes various rare types, such as the gruesome dotegfriss (dead man’s ‘physog’), who explicitly embodies the “memento mori” admonition, i.e. “remember you must die” – itself not the preserve of Ash Wednesday – to the unfortunates who are unlucky enough to encounter him. Or, as the guild master proclaims for all those involved in the unbridled foolishness at the start of every Fasnet: “So, use the short time now so that none of you might come to regret it later …!” For many of today’s young Schuttig Fools, carnival denotes “home, security, childhood, solidarity”. “It doesn’t matter whether you’re a fox, a longnose or a 2 Helmut Kubitschek »Alt Wieber Larve (Elzacher Larve)« “Crone’s Larval Mask (Elzach Larval Mask)”

23 22 »Heimat, Geborgenheit, Kindheit, Zusammenhalt« bedeutet für viele heutige junge Schuttignarren das Narrentreiben. »Egal ob Fuchs, Langnase oder Lätsch – es verbindet alle Larven, dass man sich darunter freier fühlt – obwohl man eigentlich eingeschränkter ist«, sagt einer von ihnen. Ein anderer: »Als Kind habe ich’s gehasst, den Schuttighut aufzusetzen, aber mit der Larve vor dem Kopf habe ich sogar unterm Jahr ab und zu geschlafen. Irgendwie hatte es als Kind eine Art Schutzfaktor vor bösen Geistern in der Nacht, ich hab’ mich sicherer gefühlt.« Ein weiterer Elzacher macht sich, wie manche anderen, schon vor dem Maskieren seine Gedanken: »Welche Larve ziehe ich an? Wie will ich als Narr wirken? Lieber eine böse, einzigartige Larve tragen oder positiv-lächelnd rüberkommen? Oder als ›Normal-Schuttig‹ in der großen Masse untergehen und wirklich unerkannt bleiben?« Und: »Ich genieße es, hinter meinen 15 Millimeter ›Holzschutz‹ anonym zu beobachten, was um mich herum geschieht. Man wird, im Guten wie im weniger Guten, ungehemmter, verlässt seine bekannten Verhaltensweisen.« Verbirgt die Maske also das wahre Gesicht nicht, sondern bringt es im Gegenteil erst zum Vorschein? Eher repräsentativ dürfte die schlichte Beschreibung eines langgedienten Schuttig sein: Weder enthemmt noch gar beklemmt fühle er sich mit Schuttiglarve, sondern einfach beschwingt: »Man hat den Schalk im Nacken«, es falle einem auch im reiferen Alter allerhand Schabernack ein, der eben nur voll maskiert zum Ausdruck komme. Wenn der magische Moment vergangen ist, gilt im Ausnahmezustand der Feste der Vermummten überall auf der Welt irgendwann wieder die alte Weisheit des römischen Philosophen Seneca: »Kein Mensch kann auf Dauer eine Maske tragen.« Aber ebenso gilt für alle auch im übertragenen Sinn der Spruch des Schuttig aus Elzach: »Kein Mensch weiß, wer ich bin!« 1 Hier wird nur die männliche Form verwendet. Von Tradition und Wesen her ist die Elzacher Fasnet eine Männerfasnet, bei manchen Umzügen laufen aber auch einige Frauen als Schuttig mit. Wie groß beziehungsweise (eher) gering ihr Anteil ist, ist nicht bekannt (»Keiner weiß, wer ich bin!«). (Anmerkung der Redaktion) lätsch – what all masks have in common is that you feel more liberated when wearing them – even though you’re actually more restricted physically,” says one Schuttig. As another puts it: “As a child, I hated putting on the Schuttig headgear, but with the mask in front of my face, I even went to bed whilst still wearing it from time to time during the year. Somehow, as a child, it exerted a kind of protective power against evil spirits at night, I felt safer.” Another Elzach resident, like many a participant, considers his choices carefully before donning his mask: “Which mask should I put on? How do I want to appear as a Fool? Would I rather wear an evil, individual type of mask or come across as more positive and smiling? Or blend into the masses as a ‘bog-standard Schuttig’ and actually stay incognito?” And: “I really enjoy observing what is happening around me, totally anonymous behind my fifteen-mm thick ‘wooden carapace’. You become, for better or worse, more uninhibited, throwing your normal, everyday behaviour overboard.” So the intriguing question is: in concealing one’s true face, does the mask, conversely, not actually reveal it? The simple description of a long-serving Schuttig is perhaps more representative: he feels neither disinhibited nor oppressed when wearing the Schuttig mask, but simply exhilarated: “You can feel a bit cheeky, a bit of a rogue,” and even at a ripe old age you can think of all kinds of monkey business that you can only get up to when fully masked.” When the magic moment has passed, in the exceptional circumstances of mask-wearing festivals all over the world, at some point the ancient wisdom of the Stoic Roman philosopher Seneca finds purchase: “No one can wear a mask for very long.” But at the same time, the time-honoured saying of the Schuttig from Elzach also holds for everyone in a more figurative, exculpatory sense: “No one knows who I am!” 1 Only the masculine form is used here. In terms of tradition and essence, the Elzach Fasnet is a male-only event, but in some parades a few women also take part as Schuttig. The extent to which female participation is widespread or (somewhat) limited remains a matter for conjecture (“No one knows who I am!”). (Editor’s note)

M A S K E N

27 26 MASKS 3 David Nicholson The Joker The Joker 2021

29 28 MASKEN 5 »Alpenländische Maske« “Alpine Mask” 19. Jahrhundert 4 Otto Dix Alemannische Masken Alemannic Masks 1952

30 31 MASKS 6 Francis Picabia »Trois Mimes (Trois Clowns)« “Three Mimes (Three Clowns)” circa 1936

58 59 INSIDE OUT

29 Leiko Ikemura Thoughts Thoughts 2011 30 Jacob van Utrecht (zugeschrieben) »Christus am Kreuz« “Christ on the Cross” 1500

60 61 VON INNEN HERAUS → → Die Arbeit trägt den gleichen Namen wie Sie: Fühlen Sie sich besonders angesprochen? Was gefällt Ihnen an dieser Köpfe-Serie von Pia Stadtbäumer? MH Die Namen sind nicht von Bedeutung, obwohl Pia Stadtbäumer die Personen alle persönlich kennt. Mit mir hat das nichts zu tun und ich fühle mich nicht angesprochen. Das erste Mal habe ich die Köpfe aus dieser Serie in der Stuttgarter Staatsgalerie gesehen. Dort hat man sie mit alten Meistern zusammen präsentiert. Das war eine sehr überzeugende Gegenüberstellung. Ich war elektrisiert und habe noch auf meinem Rückweg bei Pia Stadtbäumer angerufen und gefragt, ob sie noch andere Köpfe dieser Art hat. Für mich war sofort klar, dass Werke aus dieser Serie ein Muss für unsere Sammlung sind. Ich schätze Pia Stadtbäumer als Künstlerin sehr und wir freuen uns, dass wir einige Werke von ihr besitzen und sie damit auch einen gewissen Stellenwert in unserer Sammlung einnimmt. Your name features in the title: do you feel particularly addressed by that? What do you like about Pia Stadtbäumer’s series of heads? MH The names are insignificant, although Pia Stadtbäumer knows all the people personally. It has nothing to do with me and I don’t feel addressed by it at all. The first time I saw the heads from this series was at the Stuttgart State Gallery. They were presented there together with various Old Masters. It was a very compelling juxtaposition. I was totally electrified and called Pia Stadtbäumer on my way back to ask if she had any other heads of this kind. It was immediately clear to me that works from this series were an absolute must for our collection. I hold Pia Stadtbäumer in very high regard as an artist and we are delighted that we own some of her works and that she, as a result, also enjoys a particular status in our collection. 31–35 Pia Stadtbäumer Klaus, farbige Löcher Klaus, Coloured Holes 1995

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